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Feierabend

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07.09.2004
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Feierabend

Beim ersten Summton des Weckers stand er auf. Ohne Eile nahm er die sorgsam gefaltete Kleidung des Vortags vom Stuhl und zog sich an. In der Küche stellte eine erfreute Stimme fest: „Der Kaffee ist fertig!“ Noch ein wenig verschlafen trottete er in Richtung des verheißenen Kaffees, spürte das kurze Kribbeln, als die Kleidung seine Haut reinigte. Er nahm die dampfende Tasse aus dem Automaten und setzte sich an den Tisch. Auf einer nackten, weißen Wand erschienen stumme, bewegte Bilder. Blinkende Schlagzeilen gaben sich wichtig. Er ignorierte sie. Nichts war mehr wichtig. Nicht hier unten. Er verließ die Küche, und das Licht erlosch.

Die U-Bahn war gefüllt mit stumpfen Gesichtern. In den ersten Tagen hatte er sich noch gewundert, dass sie weiterhin ihren Routinen folgten, morgens ins Büro, abends zurück: wie war dein Tag, Schatz – wie immer. Er hatte sich ausgemalt, wie sie ausbrachen, wild, ungezügelt, noch ein wenig Freiheit kosteten. Doch statt dessen traf er sie weiter jeden Morgen, wenn er auf dem Weg war in die Verwaltung, an seinen Schreibtisch über den Wolken. Unauffällig suchte er in ihren Gesichtern, doch er sah nur graue Masken, ungerührt.
„Die Chance für ihr Leben! Noch 111 Plätze frei!“ Ein Werbezettel der Mond-Lotterie lag zerknittert am Boden. Zusammen mit einigen seiner Artgenossen säumte er den Boden der U-Bahn und wartete auf die Reinigungsmaschine.

Wenig später saß er in seinem Büro. Es war ein klarer Tag. Gestern noch hatten Wolken sein Büro umhüllt. Doch jetzt blickte er weit über die formlose Masse der Stadt, die sich in allen Richtungen bis zum Horizont erstreckte. In der Ferne sah er den silbernen Leib einer Fähre. Sie stürzte dem Himmel entgegen. Er verfolgte ihre Bahn. Was dachten wohl die Passagiere gerade, als sie einen letzten Blick zurück warfen? Dachten sie an ihre Kindheit, an alte Spielkameraden und Abenteuer? Oder ärgerten sie sich über den schlechten Kaffee an Bord? Er wandte sich seiner Arbeit zu und startete das Verwaltungsprogramm A.R.C.H.E. Die Marketingleute hatten es nicht einmal lassen können, wundervoll passende Abkürzungen zu finden. Er stellte sich vor, wie der drahtige Agenturbesitzer in der Fähre saß und nach einem gelungenen Namen für seine neue Agentur dort oben suchte. Moon unlimited? Oder Sonne&Mond? Oder...

Es ging um die Zuteilung der letzten Wohneinheiten. Es gab oben nur begrenzten Platz, und die Frage danach, mit wie viel Kreatur man den Raum füllte, war nicht nur eine Rechenaufgabe gewesen. Keiner von denen, die sich einen Platz finanziert hatten, war interessiert an großem Gedränge, ein bisschen Lebensqualität musste schließlich sein. In der finalen Abstimmung hatte es der kleine Zoo geschafft, sich gegen einen Wohncontainer durchzusetzen, und alle Diskussionsteilnehmer hatten aufgeatmet, dass das unangenehme Thema endlich vom Tisch war. Danach wurde nur noch abgewickelt. Zwei Monate lang hatte er die letzten Anträge bearbeitet, Grenzfälle entschieden, bedauernde Ablehnungsschreiben versandt. Natürlich hatte über seinen eigenen Antrag jemand anders entschieden. Wahrscheinlich war es der freundliche kleine Dicke drei Etagen über ihm, den er manchmal in der Kantine traf.

Nach drei Stunden war er fertig. Tagelang hatte er den Zahlen auf dem Bildschirm zugesehen, wie sie links schrumpften und rechts größer wurden. Und nun blinkte auf der linken Seite die Null. Seine Arbeit war beendet. Heute konnte er früher in den Feierabend. Er schaltete den Computer aus, räumte den Schreibtisch auf und machte sich auf den Heimweg. Er freute sich: am Abend kam ein Film, den er immer schon hatte sehen wollen.

 

Hallo Baum,

von wegen feiern lassen, jetzt wird erstmal gepfückt :D :

1) Inhalt: Aha, aha eine "Bladerunner"-Emigrationsgeschichte, was klassisches also. Kann ich mit leben, auch wenns nicht die Erfindung des Rades ist. Nur: Ich finde, dass du ein wenig mehr Hintergrund durchsickern lassen kannst. Geht gerade die Welt unter? Anscheinend. Aber warum? Vielleicht auch etwas mehr Atmosphäre wie der gute alte saure Regen. Gut gefallen hat mir die Apathie der Menschen, die einfach treudoof ihren Jobs nachgehen, obwohl: Ich finde, hier kann man auch gut einen Kontrast setzen, indem eben einzelne alle Moral über Bord werfen, wie in Zeiten der Pest. Dann wirkt das Ganze wesentlich glaubhafter. :)

2) Eine Stilblüte:

Sie stürzte dem Himmel entgegen.

Ansonsten ist dein Stil okay.

Liebe Grüße

Dante_1

 

Dante_1 schrieb:
2) Eine Stilblüte:
baum74 schrieb:
Sie stürzte dem Himmel entgegen.
Das sehe ich eher als interessantes sprachliches Bild, welches das Groteske der ganzen Situation unterstreicht. Auch dann, wenn es vielleicht nicht so beabsichtigt gewesen sein sollte. ;)

Was mich viel eher stört:

Zusammen mit einigen seiner Artgenossen säumte er den Boden der U-Bahn und wartete auf die Reinigungsmaschine.
Mit dem Wort "Artgenossen" erklärst Du den Zettel zu einem Lebewesen, was stilistisch nur Sinn macht, wenn er etwas tun würde, daß sonst Lebewesen tun. Da er aber nur den Boden säumt, fände ich hier etwas wie "seinesgleichen", "unzähligen anderen" o.ä. weniger irritierend.

Ansonsten gewinnst Du mit der Story sicher nicht den Adenoid-Hynkel-Gedenkpreis für Originalität, aber die Stimmung kommt gut rüber, gerade weil Du nicht viel vom Drumherum beschreibst. Auch würde anderfalls nur die dezent platzierte Pointe untergehen. So aber paßt es.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo baum74(also das ist ja mal ein seltsames Pseudonym :) )


Ich treibe das kleine Spielchen mal weiter ;):

In punkto "stürzte" stimme ich Yerho zu. Ich kenne diese Redewendung und finde sie an dieser Stelle auch sehr passend, weil bildhaft.

Bei "Artgenossen" muss ich widersprechen, da die Klassifizierung durch eine Art nicht nur in der Biologie vollzogen wird. In der Hinsicht empfinde ich "Artgenossen" als eher milde Personifizierung, die sich gut in das Gesamtgebilde des Textes einfügt.

So jetzt such ich mir noch was raus. Warte kurz... Oh, kann nichts finden. Mag daran liegen, dass mir dein Stil überaus gut gefällt. Liest sich ungemein flüssig und sauber. :thumbsup:

Aber selber habe ich auch nicht soviel über den Hintergrund deiner Welt mitbekommen. Es gibt wohl ein großes Exodus-Projekt, mit dessen Abwicklung dein Prot beschäftigt ist. Aber warum findet es statt?
Kann er so ruhig und emotionslos an die Sache rangehen, weil er weiß, dass er selber mit auf der Passgierliste steht? Leigt der hintergründige Witz bei der Sache darin, dass die gnazen zuständigen Beamten selbst erstmal ihre Schäflein ins trockene gebracht haben?
Von er inhaltlichen Seite stand ich bei deinem Text wohl doch etwas auf dem Schlauch.
Vielleicht klärst du es ja noch auf :)


Grüße,
Hagen

 

Wie Dante und Hagen schon sagen (das reimt sich...), die Geschichte hat einfach zu wenig Substanz. Irgendwie weiß man am Ende der Geschichte nicht viel mehr als am Anfang, ausser dass irgend eine Auswanderung vor sich geht. Fast wie ein Trailer für einen Film. Man sieht nur einen groben Umriß. Da muss einfach mehr rein.
Ich trete generell für etwas längere Geschichten ein. Die Vorteile liegen (meistens) auf der Hand. Trotzdem: auch ich finde deinen Stil gut. Das wertet die Story etwas auf.

@Yerho
Adenoid Hynkel :lol:!! Das ist doch der Diktator von Tomanien!

 

@Prozac

Adenoid Hynkel !! Das ist doch der Diktator von Tomanien!
Stimmt :D Ich hab schon echt überlegen müssen. Bester Film von Ch.Chaplin :thumbsup:

 

Hallo baum74

Mir hat deine Geschichte gut gefallen. Besonders so kleine witztige Details wie

Die Chance für ihr Leben!
statt des heute üblichen "Die Chance Ihres Lebens!"

Auch das

Sie stürzte dem Himmel entgegen.
um das Fluchtmoment besser zu verdeutlichen, fand ich gut.

Oder A.R.C.H.E., ein Verwaltungsprogramm zur Abwicklung einer Aussiedlung :lol: . Wenn du für die Abkürzung noch eine witzige ausgeschriebene Version findest, könnte das das Tüpfelchen auf dem i sein.

Die Sache mit den Wohncontainern im vorletzten Abschnitt habe ich nicht ganz verstanden. Vielleicht könntest du da noch etwas genauer werden.


André

 

Dank vorab! :)
Tja... Da will man die originellste SF-Geschichte aller Zeiten schreiben, und dann das... ;)

Zugegeben: wenig Substanz. War auch so geplant, ich wollte viel Platz für Nachdenken lassen, aber nach abermaligem Überlegen habe ich mir auch gedacht: Tu noch mehr für die Atmo! Vielleicht irgendetwas total originelles wie Regen oder Müll auf den Straßen :)
Der "Prot" (klingt cool, wandert in den Wortprozessor!) wird selber auch nicht mitgenommen (zugegeben, nicht völlig eindeutig in der Geschichte, aber m.E. naheliegender). Ich mochte den makabren Gedanken, dass der nette Kollege von nebenan über dessen Schicksal entschieden hat, und man danach noch gemütlich zusammen in die Kantine gehen kann.

@ Dante: Fand die Idee gut, einige Leute ausflippen zu lassen, als Kontrast. Aber den Hauptteil der Leute habe ich dann doch in Apathie und Lähmung gegenüber einem unvermeidlichen Ende gesehen.

Nochmals vielen Dank für die konstruktive Kritik, ich hatte echt den Eindruck, dass ich dazugelernt habe! :D

André (alias der ominöse Baum :) )

 

oh, ach so, die Wohncontainer! Dachte dabei an Container zum Wohnen ;) sprich: Wohnräume!

 

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