Feierabend
Beim ersten Summton des Weckers stand er auf. Ohne Eile nahm er die sorgsam gefaltete Kleidung des Vortags vom Stuhl und zog sich an. In der Küche stellte eine erfreute Stimme fest: „Der Kaffee ist fertig!“ Noch ein wenig verschlafen trottete er in Richtung des verheißenen Kaffees, spürte das kurze Kribbeln, als die Kleidung seine Haut reinigte. Er nahm die dampfende Tasse aus dem Automaten und setzte sich an den Tisch. Auf einer nackten, weißen Wand erschienen stumme, bewegte Bilder. Blinkende Schlagzeilen gaben sich wichtig. Er ignorierte sie. Nichts war mehr wichtig. Nicht hier unten. Er verließ die Küche, und das Licht erlosch.
Die U-Bahn war gefüllt mit stumpfen Gesichtern. In den ersten Tagen hatte er sich noch gewundert, dass sie weiterhin ihren Routinen folgten, morgens ins Büro, abends zurück: wie war dein Tag, Schatz – wie immer. Er hatte sich ausgemalt, wie sie ausbrachen, wild, ungezügelt, noch ein wenig Freiheit kosteten. Doch statt dessen traf er sie weiter jeden Morgen, wenn er auf dem Weg war in die Verwaltung, an seinen Schreibtisch über den Wolken. Unauffällig suchte er in ihren Gesichtern, doch er sah nur graue Masken, ungerührt.
„Die Chance für ihr Leben! Noch 111 Plätze frei!“ Ein Werbezettel der Mond-Lotterie lag zerknittert am Boden. Zusammen mit einigen seiner Artgenossen säumte er den Boden der U-Bahn und wartete auf die Reinigungsmaschine.
Wenig später saß er in seinem Büro. Es war ein klarer Tag. Gestern noch hatten Wolken sein Büro umhüllt. Doch jetzt blickte er weit über die formlose Masse der Stadt, die sich in allen Richtungen bis zum Horizont erstreckte. In der Ferne sah er den silbernen Leib einer Fähre. Sie stürzte dem Himmel entgegen. Er verfolgte ihre Bahn. Was dachten wohl die Passagiere gerade, als sie einen letzten Blick zurück warfen? Dachten sie an ihre Kindheit, an alte Spielkameraden und Abenteuer? Oder ärgerten sie sich über den schlechten Kaffee an Bord? Er wandte sich seiner Arbeit zu und startete das Verwaltungsprogramm A.R.C.H.E. Die Marketingleute hatten es nicht einmal lassen können, wundervoll passende Abkürzungen zu finden. Er stellte sich vor, wie der drahtige Agenturbesitzer in der Fähre saß und nach einem gelungenen Namen für seine neue Agentur dort oben suchte. Moon unlimited? Oder Sonne&Mond? Oder...
Es ging um die Zuteilung der letzten Wohneinheiten. Es gab oben nur begrenzten Platz, und die Frage danach, mit wie viel Kreatur man den Raum füllte, war nicht nur eine Rechenaufgabe gewesen. Keiner von denen, die sich einen Platz finanziert hatten, war interessiert an großem Gedränge, ein bisschen Lebensqualität musste schließlich sein. In der finalen Abstimmung hatte es der kleine Zoo geschafft, sich gegen einen Wohncontainer durchzusetzen, und alle Diskussionsteilnehmer hatten aufgeatmet, dass das unangenehme Thema endlich vom Tisch war. Danach wurde nur noch abgewickelt. Zwei Monate lang hatte er die letzten Anträge bearbeitet, Grenzfälle entschieden, bedauernde Ablehnungsschreiben versandt. Natürlich hatte über seinen eigenen Antrag jemand anders entschieden. Wahrscheinlich war es der freundliche kleine Dicke drei Etagen über ihm, den er manchmal in der Kantine traf.
Nach drei Stunden war er fertig. Tagelang hatte er den Zahlen auf dem Bildschirm zugesehen, wie sie links schrumpften und rechts größer wurden. Und nun blinkte auf der linken Seite die Null. Seine Arbeit war beendet. Heute konnte er früher in den Feierabend. Er schaltete den Computer aus, räumte den Schreibtisch auf und machte sich auf den Heimweg. Er freute sich: am Abend kam ein Film, den er immer schon hatte sehen wollen.