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Feige
Ina schlief. Ihre tiefen, ruhigen Atemzüge mischten sich mit dem Geräusch des tropfenden Wasserhahns im Bad. Irgendwo summte es leise - vielleicht die Heizung oder ein Motor draußen. Das Laken roch nach Chlor, das Zimmer nach altem Staub. Er stand vorsichtig auf. Vom Fenster aus sah man auf die Promenade. Das Meer hatte sich ein Stück zurückgezogen. Ebbe.
Soroush konnte nicht schlafen, obwohl er erschöpft war. Er nahm an, dass es an der Reise lag. An dem Fahren auf der linken Seite, vielleicht auch an der ständigen Anwesenheit der beiden anderen. Und an der Streiterei, dieser ewigen Streiterei.
Ina stieß sich an jeder Kleinigkeit. Alle zehn Minuten gab es einen Eklat, wie bei einem übermüdeten Kleinkind. Ralf, der Lebensgefährte ihrer Freundin Anne, provozierte das dauernd. Nicht, dass der frischgebackene Chirurg es darauf anlegte; er übernahm die meiste Zeit die Fahrerei, hatte Spaß daran, sich mit den Autokarten und den Ortsnamen herumzuschlagen und fragte mit seinem schlechten, aber selbstbewusst vorgetragenen Englisch nach dem Weg, Toiletten oder Apotheken. Sein einziger Makel war das offenbar zwanghafte Verlangen, seinen Mitmenschen die Welt zu erklären - meistens ungefragt. Soroush hatte keine Schwierigkeiten, die Klugscheißerei für eine Woche zu ignorieren. Ina konnte es nicht.
Glücklicherweise war da aber noch Anne. Sie nahm ihren Ralf zu gegebener Zeit beiseite, entschärfte seine Bildungsgeschosse und stellte die Stimmung irgendwie immer wieder her. Anne kannte Ina seit der Schulzeit; sie wusste, wie man mit ihr umgehen musste.
Soroush hätte gern eine geraucht, aber das war auf den Zimmern verboten. Er blickte auf die Bucht von Aberystwyth, hörte Ralf und Anne im Nebenzimmer reden und dachte an die Zeit vor drei Jahren, als er Ina kennenlernte. Sie war damals sexy und witzig, steckte voller Energie und Überraschungen. Die ersten Wochen mit ihr waren so intensiv, dass er fast sechs Kilo abnahm und einen Rüffel von seinem Arzt bekam.
Es war jedoch nicht nötig, die Notbremse zu ziehen, das regelte sich von allein: Ina war nach ein paar Monaten immer noch sexy, verlor aber offenbar die Lust auf ihn. Sie war auch immer noch witzig – wenn sie ausreichend Publikum hatte. Ihre Energie verpuffte offenbar vor der Wohnungstür; wenn sie mit ihm allein war, musste sie telefonieren, chatten oder unbedingt irgendeine Serie im Fernsehen anschauen.
Und dann diese unerklärlichen Stimmungsumschwünge! Es war fast so, als erfände sie Gründe, beleidigt, eifersüchtig, verletzt oder wütend zu sein. Mittlerweile war sie sogar schon in Gegenwart anderer Leute vollkommen hemmungslos in ihren Launen. Soroush rieb sich die Stirn. Vielleicht war sie krank. Ganz sicher aber war ihre Beziehung am Ende. Der Walesurlaub war eine beschissene Idee gewesen.
Nebenan wurden die Stimmen lauter. Soroush verstand nun einzelne Worte. „Was ist denn daran schlimm, verdammte Axt? SIE hat doch danach gefragt!“ Ralf klang erbost. Annes Antwort war zu leise, um sie zu verstehen, dafür hörte er ihren Freund umso lauter: „Sie ist DEINE Freundin, nicht meine! Wenn du so bescheuert bist, der dämlichen Zicke Puderzucker in den Arsch zu blasen, bitte! Aber ich kann mich beherrschen!“
Die Vorstellung, dass Ina aufwachen und Ralf hören könnte, bereitete Soroush Atemnot. Einem plötzlichen Drang folgend, griff er nach dem Tabak, schlüpfte in die Schuhe, nahm den Hotelschlüssel vom Nachtschrank und die Jacke vom Haken und verließ das Zimmer. Im Flur war der Streit noch deutlicher zu hören. Er beeilte sich, die Treppe hinunter zu kommen. Lady Di blickte von den Wandtellern auf ihn herab. Soroush versuchte, nicht hinzusehen. Ihr Lächeln war ihm unheimlich.
Die Nachtluft legte sich wie ein nasser, kalter Lappen auf sein Gesicht, als er aus der Tür trat. Er überquerte die Straße und setzte sich schließlich auf die Mauer am Strand, wo er den Tabak aus der Tasche zog und zu drehen begann. Es wurde langsam besser. Er grinste sogar ein bisschen, als er seine unbestrumpften, haarigen Beine sah, die aus der weiten Baumwollhose herausragten und in den klobigen Wanderschuhen verschwanden. Dazu der Anorak – er bot sicher einen hinreißenden Anblick.
„Hey.“
Überrascht drehte er den Kopf. Neben ihm rutschte Anne auf die Mauer. Sie trug Clogs und einen karierten Pyjama unter ihrer Windjacke.
„Haben wir dich mit unserer Schreierei geweckt?“
„Ich konnte sowieso nicht schlafen.“
Sie nickte und deutete mit dem Kinn auf seine Kippe. „Kann ich mir auch eine drehen?“
„Klar.“
Als er ihr den Tabak reichte, lächelte sie kurz. Das Licht eines vorbeifahrenden Autos spiegelte sich in den dicken Gläsern ihrer Brille und ließ sie merkwürdig blind aussehen. Er gab ihr Feuer, als sie mit dem Drehen fertig war.
„Ich glaub nicht, dass Ralf und ich miteinander alt werden.“ Sie inhalierte tief und blies den Rauch nach oben.
„Darüber habe ich auch gerade nachgedacht. Über Ina und mich, meine ich.“
„Mhm.“ Anne lächelte, aber es wirkte nicht echt. Sie sah zu müde aus. „Weißt du, ich hab sie beide lieb, aber ich kann sie trotzdem kaum ertragen. Einzeln nicht, und in Kombination noch schlechter.“
„Warum bist du dann mitgefahren?“
Anne wandte den Blick wieder ab. "Weil ich seit fünfundzwanzig Jahren Zuschauer in Inas Kolosseum bin und vergessen habe, dass ich jederzeit gehen könnte." Einer ihrer Clogs flog hinunter auf den Strand.
„Laufen wir ein Stück?“, fragte sie, während sie den zweiten Schuh hinterherkickte und dann selbst von der Mauer sprang.
„Dieser ganze Urlaub ist eine einzige Katastrophe.“, sagte er, als er zu ihr aufgeschlossen hatte.
„Ja. Noch ein verregneter Abend, den wir vier gemeinsam in einer Lounge verbringen müssen, und es gibt Tote.“
Sie liefen die Bucht einmal hinauf und wieder runter und rauchten dabei ein paar Zigaretten. Im Hotelflur trennten sie sich, durchgefroren und mit feuchtem Haar.
„Eigentlich sollten WIR ein Paar sein“, flüsterte er grinsend, um niemanden zu wecken. „Wir sind beide feige. Und Raucher.“
„Tja, aber du stehst auf Egozentrikerinnen mit Wespentaille und ich nicht auf Typen mit Pornobalken.“
„Eins-Null“, antwortete er fröhlich, obwohl es ihm einen klitzekleinen Stich versetzte. Er hob die Hand. „Schlaf gut.“
„Du auch.“
Zum Frühstück wollte Ina ein gekochtes Ei. Die Gastwirtin schien etwas irritiert, kam dem Wunsch aber nach. „Schmeckt nach Fisch“, murmelte Ina, löffelte das Ei aber trotzdem aus. Ralf reagierte nicht, er hatte sich sofort den Reiseführer gegriffen und las.
Annes und Soroushs Blicke traf sich über dem Tisch. Ina bemerkte es und schnaubte: „Mein Gott, ich habe nur meine Meinung gesagt!“
Soroush wusste, dass es sinnlos war, darauf einzugehen und sie zu beschwichtigen. Ebenso, wie es sinnlos war, sie zu ignorieren. Ina bereitete den ersten Streit vor, und nichts würde sie davon abhalten, ihren Mitreisenden den Start in den Tag zu verderben.
„Was unternehmen wir heute?“ Anne überging den Einwurf. Sie war blass und wirkte verquollen.
„Mir egal“, tönte es wenig hilfreich hinter dem Reiseführer.
Schlechte Laune verdichtete sich wie eine Giftwolke um den Tisch. Nervös kaute Soroush auf der Innenseite seiner Lippen herum. Dann sah er den Flyer an der „For-our-guests“-Pinnwand. Auf der Vorderseite war ein Berggipfel abgebildet.
„Wie wär’s mit dem Snowdon?“, stieß er hastig hervor. Er war überhaupt nicht in der Stimmung, auf Berge zu klettern, aber er wollte Anne beistehen. Neben ihm zerdrückte Ina mit dem Zeigefinger die Schalenreste im Eierbecher. Sie sagte kein Wort.
„Und du?“, fragte er sie schließlich und ekelte sich vor der Unterwürfigkeit in seiner eigenen Stimme. „Wozu hast du Lust?“
„Ach, lasst mich einfach hier. Ihr amüsiert Euch eh besser ohne mich.“ Sie kniff die Lippen zusammen und starrte auf die Reste ihres Frühstücks.
Annes Finger verkrampften sich um den verfilzten Häkelball, der am Zimmerschlüssel hing. „Man kann von Llanberis aus mit einer Bahn auf den Gipfel hochfahren. Wir haben ganz gutes Wetter heute, das würde sich also lohnen. Sonst sieht man oben nur Nebel.“
„Hier, Llanberis...Bla, bla, bla...die Snowdon Mountain Railway, eine Zahnradbahn. Außerdem befindet sich hier das walisische Schiefermuseum...“, las Ralf aus dem Reiseführer vor.
„Toll. Graue Steine.“ Ina schob den Eierbecher weg.
„Ich bin dabei“, sagte Soroush so munter wie möglich.
„Toll, qualifizierte Meinung“, imitierte Ralf Inas Tonfall.
Stille. Ina starrte Ralf an. Ralf starrte zurück.
Dann stand Anne auf.
„Ihr könnt mich mal am Arsch lecken. Alle beide.“, sagte sie beinahe zärtlich, schob ihren Stuhl an den Tisch und ging zur Tür hinaus.
Soroush erhob sich ebenfalls. "Entschuldigt mich. Ich muss mich noch rasieren."
(Verwendete Wörter (Nr. 95, von Bernadette): Pinnwand, Häkelball, irritiert
Eierbecher, summen)