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Fesselnde Schönheit
Fesselnde Schönheit (überarbeitet)
Es gibt nicht viele Leute, die von sich behaupten konnten, schon mal eine Tirane gesehen zu haben, doch ich konnte mich zu den Glücklichen zählen. Diese Wesen waren nicht so wie du oder ich. Sie waren von einer solchen Perfektion, wie es sich nicht einmal ein Vierzehnjähriger, pubertierender Junge vorstellen konnte. Manchmal pflegte ich sie mit einem Superstar zu vergleichen, der schon Tausende von Schönheitsoperationen hinter sich hatte, und selbst das hätte nicht annähernd an die natürliche Schönheit der Tiranen heranreichen können.
Eines Tages – ich war mit meinem Onkel, einem alten, begeisterten Kapitän seiner Seejolle im offenen Meer – wurde mir zum ersten Mal die Ehre zuteil, diese Wesen zu sehen. Dies wäre mir nicht vergönnt gewesen, hätte uns nicht ein Sturm überrascht. In Sekunden schnelle wandelte sich ein strahlend blauer Himmel in ein schwarzes Wolkenmeer, das nur manchmal durch einen gelben Lichtblitz erhellt wurde, um die Tiranen zu uns zu führen. Vor meinen Augen verwandelte sich alles in ein Treiben vieler schwarzer Punkte, die sich langsam aber sicher zu einem riesigen Loch zusammenschlossen, das mir schließlich das Bewusstsein raubte.
Als ich wieder aufwachte, dachte ich mich im Himmel wieder zu finden. Es war der Himmel auf Erden, den ich irritiert von den Wesen um mich herum wahrnahm. In Wirklichkeit befand ich mich jedoch auf einem alten, vermoderten Geisterschiff. Schon lange wurde die Sage auf dem Festland herumerzählt und den Besuchern konnte man immer wieder Angst einjagen, doch sie wollte mir partou nicht einfallen. “Wo ist mein Onkel?“ Eine der Frauen drehte sich zu mir um und versicherte mir mit einem Funkeln in den Augen, das ich nicht interpretieren konnte, ihn schon auf festen Boden zurück gebracht zu haben. Nicht weiter besorgt lies ich mich mitnehmen von dem lustigen Treiben, das um mich herum geschah.
Dabei entging mir völlig, dass sich die Weintrauben, Äpfel, Birnen und alle anderen Leckereien, mit denen ich verwöhnt wurde, eigentlich nicht genießen ließen und im Gegensatz zu den Tiranen verschrumpelt und vergammelt waren, und schmeckten wir Staub. Nach einer langen fahrt auf dem Schiff kamen wir zu einer Insel, und aus den Gesprächen der Damen schnappte ich immer wieder das Wort „Hauptquartier“ auf. Ich ging einen Weg entlang, eine art Sackgasse, der mit einem roten Teppich ausgelegt war. Auf der Seite hingen in regelmäßigen Abständen Fackeln, die die Wandzeichnungen beleuchteten. Die Figuren, unter anderem ein Mann mit einem Tigerkopf und eine Frau mit Flügeln, waren in orange auf die Weiße wand gemalt. „Unsere Götter“, meinte eine Tirane neben mir. Ich schloss daraus, dass sie ziemlich viele haben mussten, denn der Weg kam mir endlos vor. Schließlich aber näherten wir uns dem Ausgang und ich sah eine Sänfte, in der ich anschließend zu einem Palast, der auf einem Hügel lag, getragen wurde. „Was ist das?“, fragte ich voller Neugierde und es dauerte keine fünf Sekunden, bis ich eine Antwort bekam. „Das ist Euer Palast. Er steht seit einiger Zeit leer.“ Anschließend bat sie mich noch, dass ich doch hier bleiben und das Oberhaupt der Inselbewohner werden solle.
Als ich einwilligte wurde ich in ihre „Tracht“ gekleidet, die ein wenig so aussah, als wäre sie noch nicht fertig genäht, so wenig Stoff war es. Doch die Verzierungen aus Gold ließen es prächtig und würdevoll aussehen, und ich hätte nicht vermutet, dass jemand „Des Kaisers neue Kleider“ mit mir spielen wollte. Die Farben waren orange und weiß. Es war erst das zweite Mal, dass ich diese Farben sah, das erste Mal war es auf der Wand bei meiner Ankunft.
In der Zeit in der ich mich auf der Insel befand war das einzige, das ich zu tun hatte den Bewohnerinnen bei ihrer Arbeit zuzusehen, Tänzerinnen zu applaudieren und Essen zu genießen. Und ich fand es nicht schlecht, ja ehrlich gesagt faszinierend, alle anderen Arbeiten zu sehen.
Aber es kam der Tag, an dem sie mir mitteilten, ich müsse schon bald wieder weg von der Insel, dem Paradies. Ein letztes Geschenk sollte ich jedoch noch empfangen, eine letzte Erinnerung behalten. Und wieder bekam ich ein anderes, prunkvolles Gewand.
Auf der Sänfte, die ich seit meiner Anreise nicht mehr benutzt hatte, wurde ich zu einem der wenigen Berge gebracht, die es auf der Insel gab. Es sah so aus, als ob sie mich schon erwarteten, denn links und rechts von dem kleinen Weg, der bis zum Gipfel führte, standen hunderte von Tiranen. Es kam mir vor, als hätte ich sie verzaubert, und nicht sie mich.
Der Weg war in viele Serpentinen geschwungen, und etwa alle zwanzig Meter kamen wir an Statuen vorbei, die verschiedene Männer darstellten. Ich wunderte mich, da ich während meines Aufenthaltes sonst noch kein männliches Wesen zu Gesicht bekam. Nach einer halben Stunde sah ich schon das Gipfelkreuz, als Zeichen dafür, dass wir angekommen waren.
Vor dem Kreuz war ein steinerner Altar, über den ein rotes Tuch ausgebreitet war. Auch der Blumenschmuck war blutrot, was mich aber nicht weiter beschäftigte.
Als die Sänfte, in der ich mich noch immer befand, auf den Boden gestellt wurde, ging ich wieder einen roten Teppich entlang.
Es war einerseits das Gefühl von Würde, dass mich aufrecht gehen ließ, und andererseits ein seltsames Gefühl von Sorge, dass mich beschlich. In keinem anderen Moment meines bisherigen Lebens hatte ich mich so fröhlich und zugleich traurig und betrübt gefühlt.
Doch ich wollte es mir nicht anmerken lassen, wollte an meinem letzten Tag auf der Insel Haltung bewahren. Und so schritt ich den Teppich entlang, mit einem Strahlen in den Augen und einem Lächeln auf den Lippen. Doch meine Miene wandelte sich schlagartig und aus meinem Mund war ein schrecklicher Schrei zu hören, als ich die Statue sah, die mir im ersten Augenblick nicht aufgefallen war. Es war mein Onkel, der da völlig reglos und wortwörtlich versteinert dastand. Verstört, wie wohl jeder gewesen wäre, der in so eine Situation gerät, versuchte ich mich wieder in die Sänfte zu flüchten. Doch als ich mich umdrehte, wurde ich von zwei Ungeheuern aufgehalten, die zuerst noch liebliche Tiranen waren. Hätte ich es nicht live miterlebt, hätte ich es für einen Trick, einen Effekt in einem 3D – Kino gehalten.
Ihr äußere Erscheinung war nicht mehr wieder zu erkennen: Die Augen wandelten sich von einem weichen, warmen blau in ein hartes gelb-grün. Die wallenden, geschmeidigen Haare verwandelten sich in eine wilde, strähnige Mähne und die Zunge spaltete sich in zwei Teile, so wie die einer Natter. Zu allem Überfluss stieß die Kreatur einen schrillen Ton von sich, der kaum auszuhalten war. Sofort hielt ich mir mit beiden Händen die Ohren zu, doch es half nicht viel, so durchdringend war das Geräusch.
Mir gefror fast das Blut in den Adern und nach einer kurzen Schreckenssekunde fing ich an zu schreien. An mehr kann ich mich nicht mehr erinnern, ich muss wohl bewusstlos geworden sein.
Meine Lider waren schwer, aber dennoch konnte ich einen kurzen Blick auf den Himmel werfen. Die Sonne stand noch immer hoch. Daraus schloss ich, dass ich nur kurz ohne Bewusstsein gewesen war. Ich wollte wieder anfangen zu schreien, doch mein Hals schmerzte und ich brachte keinen einzigen Ton heraus. Also versuchte ich es mit der leiseren Methode, sprich: Ich wollte weglaufen. Aber auch das gelang mir nicht. Bei jedem Mal, das ich mich bewegen wollte fuhr ein stechender Schmerz durch meinen Körper. Ich wusste nicht, ob das von den Fesseln kam, die ich an den Handgelenken hatte oder dem Kreuz, dass meinen Rücken unangenehm steif hielt.
Ich hörte eine Stimme, die eine Art Sprechgesang vor sich hin murmelte, und so langsam – vielleicht auch wegen meiner Neugierde – wurde der bleierne Vorhang, den meine Lider bildeten immer leichter und es fiel mir nicht mehr all zu schwer die Augen offen zu halten. Zu meiner eigenen Sicherheit beschloss ich dennoch, mich so unauffällig wie nur möglich zu verhalten, bis ich die Lage eingeschätzt hatte. Vielleicht konnte ich mir durch das wenigstens einen kleinen Vorteil unter all den Nachteilen einhandeln.
Doch was ich vor mir sah jagte mir einen riesigen Schrecken ein. Und hätte ich kein Glück gehabt, hätte jemand gemerkt, dass ich schon wach war.
Vor mir war ein riesiges Meer aus lauter Tiranen. Nicht so lieblich und hübsch, nicht so schön und anmutig, nein nicht einmal so zerzaust und ungepflegt.
Sie waren alt. Hässliche, alte Weiber, die ich mich nicht einmal traute anzusehen. Aber trotzdem musste ich sie anschauen. Es war so wie alles Ekel erregende. Man konnte nicht hin schauen, aber wegschauen konnte man auch nicht. Die Haut war runzelig, und überall hingen Hautlappen, besonders an den Armen. Ich konnte nicht länger zu ihnen sehen, hatte zu viel Angst vor den Jahren, die noch auf mich zukommen würden, und vor allem war ich noch immer fassungslos, was in dieser kurzen Zeit aus den liebenswerten Geschöpfen und vor allem meinem Glück wurde. In meinem Kopf spielten sich schreckliche Bilder ab, die ich alle noch nie gesehen hatte, und die mir doch so bekannt vorkamen. Eines zum Beispiel war eine wunderschöne Blume, die sich in einen Sarg aus Neid und Eitelkeit fallen lies und vertrocknete. Schließlich kam sie ausgetrocknet wieder aus dem Sarg heraus. Es waren Bilder, die mir Angst ein jagten, weil ich die Bedeutung nicht kannte und trotzdem wusste, dass sie mir etwas sagen wollten.
Die Anstrengung über die ganze Bilderflut ließen mich wieder schwächer werden und schlussendlich verlor ich erneut das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir kam war ich noch immer gefesselt. Aber die Leute waren weg. Ich nahm die Gelegenheit wahr, mich ordentlich an dem Ort umzusehen, an dem ich fest saß. Auf dem Altar waren jetzt keine Blumen mehr, sondern Sanduhren. Zwei Stück, eine große und eine kleine. In der kleinen war noch recht viel Sand, die große war schon fast abgelaufen. Und während ich einige Zeit auf die zwei Uhren vor mir schaute schaltete sich mein Gehirn um auf „denken“ und ich bemerkte, dass mir irgendetwas seltsam vorkam. Ich fragte mich was es war, das mich einfach nicht los lies. Plötzlich wurde ich mit einem lauten, tiefen Gong aus meinen Gedanken gerissen. Jemand hatte bemerkt, dass ich wieder wach war.
Langsam sammelten sich die Tiranen wieder auf dem Platz, und zum Schluss kam eine mächtige Frau, die sich hinter den Altar stellte. Ich wartete auf eine weitere Predigt, doch lange kam nichts. Nach einer Weile drehte sie sich zu mir um und fing an zu sprechen: „Weißt du was das ist?“ Sie deutete auf die Sanduhren. Ich wollte ihr eine Antwort geben, doch ehe ich etwas sagen konnte sprach sie laut weiter, sodass jeder es hören konnte. „Das sind die Uhren der Zeit. Die Uhren der Vollkommenheit, der Schönheit. Die große ist unsere, die kleine deine.“ Jetzt wusste ich, was mir komisch an diesen Uhren vorkam. Der Sand der größeren lief viel schneller als die der Kleineren, meiner Uhr. Und also ob ich dies laut ausgesprochen hätte fuhr die Tirane fort: „Ja, unsere Zeit läuft schneller ab, ganz recht. Weil unsere Körper schon abgenutzt von der ewigen Jugend sind, aber das soll uns nicht stören. Bei uns stirbt nur eine. Eine in fünftausend Jahren. Wir müssen uns nicht um die Schönheit kümmern, wir können sie uns nehmen. Wir brauchen keine Männer die uns bewundern, wir brauchen junge Frauen, Mädchen, deren Jugend und Schönheit wir haben können. Es gibt nicht viele, die ihre Jugend freiwillig herschenken, ihr Leben hinter sich lassen und ihren Körper uns überlassen. Deshalb müssen wir uns selber darum kümmern, junges, frisches Fleisch aufzutreiben.“ Sie legte eine kurze Pause ein. Vielleicht wollte sie, dass ich das alles verarbeitete. Doch bevor ich auch nur anfing zu begreifen, was sie von mir wollte, sprach sie weiter: „Du bist jung, und an Schönheit mangelt es auch nicht. Du hast die Ehre, einem ganzen Volk zu helfen. Du darfst uns deine Jungend geben!“
Diese Worte hallten in meinem Kopf wieder. Ich verstand was sie wollten. Sie wollten mein Aussehen, meinen Körper, mich!! Ich wollte anfangen zu lachen, denn es hörte sich an wie ein schlechter Scherz, jemand wollte mich auf den Arm nehmen. Doch anstatt zu lachen begann ich zu weinen. Über meine verlorene Jugend, die ich wohl nicht mehr zurück haben konnte, mein Leben, das wohl bald vorbei sein würde. Ich begann zu weinen, weil ich all das schöne vermisste, dass ich bis jetzt hätte machen können und doch nicht machen wollte. Weil ich mir zu gut vorkam. Für Bücher, Museen und so Zeug hatte man ja schließlich die Pension.
Es sah nicht so aus, als hätte jemand Mitgefühl mit mir gehabt. Alle saßen da, mit steinernen Mienen, als hätte ihnen jemand eine Maske aufgesetzt. Ich starrte in alle ihre Gesichter, versuchte jede einzelne Miene nur ansatzweise zu verstehen. Und nach einer Weile vergaß ich, dass es lebende Wesen waren, denen ich ins Gesicht schaute, so leblos saßen sie da.
Plötzlich bewegten sie sich ruckartig, ihr Gesicht auf eine Frau gerichtet, die gerade den Saal betrat. Sei hatte ein langes, weites Gewand an, unter dem sie die meisten ihrer Falten versteckte, oder es zumindest versuchte. Ihr erster Blick war auf mich gerichtet, der zweite auf die Sanduhr. Sie musste sich wohl beeilen, denn in der großen Sanduhr war nicht mehr viel zu sehen. Ich wollte wieder schreien, und plötzlich konnte ich meine Stimme wieder hören. „Warum!?“, schrie ich sie an. Und ohne, dass ich sagen konnte was ich damit meinte fing sie an zu sprechen. „Du hattest deine Chance. Du hast sie verspielt.“ „Ich hatte keine Chance, ihr habt mich hier her gebracht und mich als Geisel genommen, habt mich verwöhnt, habt mir etwas vorgespielt, so dass ich nicht merken konnte wer ihr seid, nein was ihr seid!“ „Das war deine Chance. Du hättest es wissen müssen, dass niemand perfekt sein kann. Du hättest sehen müssen, dass alles nur ein Spiel ist. Siehst du es denn nicht? Das alles hier. Ein Gebilde deiner Fantasie. Warum gehst du nicht einfach? Du weißt doch, dass hier nichts echt ist, die Schönheit, die Bereitschaft dir zu helfen. Warum stehst du denn nicht auf, befreist dich von den Fesseln der Schönheit, die du geschaffen hast? Die Fesseln, die genauso wenig echt sind, wie die Schönheit, die um dich herum ist! Warum bist du noch hier?
Ich war verblüfft über die Stärke, mit der die alte Frau diese Worte sagte. Ich versuchte meine Arme zu bewegen, und es war nicht schwer, nichts hielt mich fest. Ich war erleichtert dass ich endlich erkannt hatte, dass meine Fesseln einzig und allein von mir gemacht worden waren...