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Fines Wanderung in die Stadt
Eine Woche nach dem Sommerfest trafen sich die Mäuse und Hamster, um ihre Vorräte aufzufüllen. Wenn die Weizenernte erst vorüber war, würden sie so gut wie keine Körner mehr finden. Die Menschen waren inzwischen so gründlich mit der Ernte, dass fast nichts mehr auf dem Feld blieb. Bei dem, was die kleinen Nager vorhatten, half die ganze Familie. Die Kräftigsten unter ihnen knabberten die Halme kurz über der Erde durch, damit diese umfielen; so kamen sie an die Körner heran.
Fine, ihre Eltern und Cäsar arbeiteten zusammen. Cäsar nagte die Halme durch und Fine erntete die Körner, und legte sie in ein kleines Säckchen. Ihre Eltern übernahmen den Abtransport in die Vorratskammern.
Auch die Familie Hamster war bei der Ernte. Vater Hamster hatte die Junikäfer gebeten, über dem Getreide zu schwirren und dabei die Augen offen zu halten. Und wenn Gefahr drohte, sollten sie Bescheid geben.
Der Hamster hatte sich gerade die Backentaschen mit Körnern gefüllt, als ein Käfer aufgeregt herangeflogen kam und außer Atem japste: „Die Maschinen kommen! Schnell, die Maschinen kommen, ihr müsst weg!“ Fine und Cäsar arbeiteten nicht weit von ihnen entfernt. Der Hamster lief zu ihnen.
„Fnell, die Mafimem kommem! Fliep! Fliep!“
Fine half ihren Eltern beim Tragen der Säckchen und Cäsar warnte alle anderen und machte sich gleich mit nützlich, damit sie rechtzeitig mit ihrer Ernte in ihren Löchern verschwinden konnten. „Bringt Euch in Sicherheit! Das Feld wird geerntet. Bald werden die Maschinen hier sein.“ Er lud sich zwei Pakete auf den Rücken und trug sie zum Mauseloch der Nachbarn.
„Bist ein feiner Kerl, Cäsar“, sagte Kurt, der Vater der Nachbarsfamilie, als Cäsar seine Last abgelegt hatte. „Schade, dass ihr nicht hier wohnen bleibt. Wann geht es denn in die Stadt?“
„Wir wollten die Ernte abwarten. So, wie es aussieht, können wir morgen aufbrechen.“
Der Mäuserich schaute traurig zu Cäsar. „Unsere kleine Fine. Wir werden sie vermissen.“
„Wir werden euch auch vermissen. Aber wir sehen uns spätestens auf unserer Hochzeit.“
Das hörte der Hamster, der gerade aus seinem Eingang kam.
„Oh, ihr werdet heiraten!“, rief er erfreut. „Das muss ich unbedingt meiner Frau erzählen!“ Und schwups, war er wieder in seinem Bau verschwunden. Doch schon zwei Sekunden später schaute er wieder heraus „Und wann wird das sein?“
Cäsar musste laut lachen. „Das erfahrt ihr rechtzeitig, wir versprechen es euch.“
Den Abend verbrachte die Mäusefamilie gemeinsam. Die Eltern erzählten Geschichten von früher, als Fine noch ein Baby war. Die Mutter holte ein Bild hervor, das ein Eichhörnchen von ihr und Fine gemalt hatte, und zeigte es voller Stolz.
Der Vater blickte besorgt zur Decke, von der sich ein kleines Stück Erde gelöst hatte und heruntergefallen war. Dazu erzitterte der ganze Bau und ein dumpfer Motorenlärm drang von oben zu den Mäusen herunter.
„Was ist das?“, fragte Cäsar.
„Die Mähdrescher sind da“, sagte die Mutter. „Ich habe jedes Mal ein ungutes Gefühl.“
Aber der Vater konnte sie beruhigen. Es hatte nicht geregnet, da war die Erde fest. Die schweren Maschinen der Menschen konnten ihnen nichts anhaben.
Am nächsten Morgen hatten Cäsar und Fine ihre Sachen gepackt. Nach dem gemeinsamen Frühstück machten sie sich auf den Weg. Als sie aus dem Bau kamen, war das Feld nicht wiederzuerkennen. Die hohen Halme waren verschwunden. Übrig geblieben waren nur noch kurze Stoppeln.
„Seid vorsichtig, Kinder“, sagte die Mutter beim Abschied. Der Vater nahm Cäsar zur Seite. „Du passt auf unsere Kleine auf. Ich muss mich auf dich verlassen.“
„Keine Sorge, wird schon alles gut gehen.“
Cäsar nahm Fine an die Hand und sie machten sich auf den Weg. In den anderen Mäusebauen war noch alles ruhig. Sie schienen die einzigen zu sein, die unterwegs waren.
Nach einer Weile mussten sie über einen Erdwall klettern, der durch die Erntemaschinen entstanden war. Als sie oben angekommen waren und an der anderen Seite hinunterschauten, erblickten sie einige Mäusejungen, die sich ihnen in den Weg stellten. Cäsar hielt Fine zurück.
„Keine Angst, das sind doch die Jungs vom Feld. Die tun uns nichts.“ Fine zog Cäsar mit.
Doch die Mäusejungen rückten zusammen, sodass niemand hindurchkommen konnte.
Fine bemerkte, dass Cäsar zögerte und stellte sich wie eine furchtlose Kämpferin den jungen Mäuserichen entgegen. Doch die wollten Fine nicht mit Cäsar gehen lassen; fremde Mäuseriche sollten ihnen nicht ihre Mäusemädchen wegnehmen können.
„Niemand will euch etwas wegnehmen“, erwiderte Cäsar. „Fine und ich wollen zusammen leben. Und das werden wir in der Stadt tun.“
Doch die Mäusejungen wollten Cäsar sogar verprügeln. Allen voran war Mike, ein kräftiger Mäuserich, der sich raufen wollte.
Fine stellte sich zwischen Mike und Cäsar. „Denkt doch mal nach, Jungs. Mike, stammt deine Mutter nicht auch von woanders her? Dein Vater hat sie doch vom Wiesengrund mitgebracht. Und niemand hat sie hier als Fremde behandelt.“
„Wir wollen nicht, dass so einer aus der Stadt dich kriegt.“ Mike klang immer noch streitsüchtig.
„Glaubt ihr, dass auch nur eine Maus von hier euch will, wenn ihr euch so benehmt? Und jetzt geht am besten wieder nach Hause!“
Cäsar flüsterte Fine ins Ohr: „Mäuseöhrchen, ich habe deinem Vater versprochen, dass ich auf dich aufpasse. Und jetzt beschützt du mich.“
„Mach dir keine Sorgen, du wirst mich schon noch beschützen können. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.“
Sie nahm Cäsar an die Hand und zog ihn mit sich fort. Die Mäusejungen blickten ihnen betreten nach.
Sie liefen über das Feld, dann den Feldweg entlang. Hier und da sahen sie Mäusefamilien, die in ausgedroschenem Weizenstroh vergeblich nach Körnern suchten. Manchmal fanden sie ein paar einzelne Körner, die ausgefallen waren, bevor sie der Mähdrescher verschlucken konnte.
„Arme Teufel sind das“, sagte Cäsar. „Warum sind sie denn nicht wie wir Körner sammeln gegangen, bevor das Feld abgeerntet wurde?“
„Vielleicht wohnen sie nicht in unserem Feld und haben es zu spät erfahren“, sagte Fine voller Mitleid. Sie liefen noch an einem weiteren Feld vorbei.
Dann hörten sie Geräusche, die Fine nicht kannte und die immer lauter wurden, je näher sie kamen. Sie erreichten die Straße, die sie überqueren mussten. Hier sah sie zum ersten Mal die schnellen Autos, von denen Cäsar gesprochen hatte. Einmal brauste ein großes Lastauto vorbei und sie mussten sich an Grashalmen festklammern, um nicht vom Wind mitgerissen zu werden. Einerseits war sie begeistert, so viel Neues zu entdecken, andererseits fürchtete sie sich aber davor. Und sie hatte Angst, über diese Straße zu gehen.
Cäsar beobachtete aufmerksam, wann eine größere Lücke zwischen den Autos entstanden war; dann zog er Fine mit sich.
Fine blickte immer ängstlich nach links und rechts und als sie die feurigen Augen eines Autos sah, das schnell näher kam, riss sie sich aus Cäsars Griff und wollte wieder zurück zum Straßenrand laufen.
„Mäuseöhrchen, was tust du da?!“, rief Cäsar bestürzt. Er sah, dass sie es nicht wieder zurück schaffen konnte. Allein weiter zu gehen, kam für ihn aber auch nicht in Frage. Fine rannte, so schnell sie konnte, das Auto war aber schon gefährlich nahe gekommen. Sie durfte nicht weiter gehen. Das würde sie nicht überleben.
„Bleib stehen!!!“, schrie er aus Leibeskräften und rannte, so schnell ihn seine Füße tragen konnten, hinter ihr her. Immer wieder schrie er, sie solle stehen bleiben. Nur noch wenige Zentimeter trennten ihn von ihr und da sah er die Rettung: ein winziges Loch im Asphalt, das nicht so groß war, dass sie hineinpassen würden. Aber der Rand war scharfkantig und bot ihnen Halt, damit sie vom Wind nicht mitgerissen werden konnten. Er streckte seine Pfoten aus und bekam sie am Schwanz zu fassen. Sie wirbelte herum. Er konnte sie packen und warf sich mit ihr flach auf die Straße und sie krallten sich in den Rand des kleinen Loches. In diesem Moment brauste das Auto über sie hinweg.
Als es vorbei war, stieß Fine einen fürchterlichen Schreckensschrei aus und klammerte sich an Cäsar. Ihr Fell hatte sich vor Furcht aufgestellt. Jedes Haar und jede Faser an ihr zitterte.
„Und jetzt schnell weiter“, sagte er mit bebender Stimme. Diesmal fasste er sie fester, damit sie sich nicht wieder losreißen konnte. Als sie schließlich an der anderen Seite angekommen waren, setzten sie sich ins Gras. Der Schreck saß noch zu tief in ihren Gliedern.
„Siehst du, jetzt konnte ich dich beschützen“, sagte Cäsar voller Stolz und strich ihr zärtlich übers Fell. Autos brausten und Lastautos donnerten nun wieder vorbei. Cäsar sah in Fines flehendem Blick, dass sie von hier so schnell wie möglich weg wollte. Und er auch.
Sie nahmen einen Weg durch Gärten. Fine sah die Vielfalt und Farbenpracht der Pflanzen und Früchte und es duftete verführerisch.
„Ist das alles nur für die Menschen?“, fragte sie erstaunt.
„Aber nur, wenn die Menschen nicht aufpassen. Wenn wir schnell genug sind, können wir unseren Teil auch holen. Aber wir müssen auf die Katzen achten. Mit denen ist nicht zu spaßen. Und die Menschen haben Mausefallen. Vor denen musst du dich auch in Acht nehmen.“
Das war für Fine alles neu. Auf dem Feld wusste sie, welche Gefahren auf sie lauerten. Da gab es den Fuchs, Marder oder Vögel. Hier kamen nun noch andere hinzu.
Während sie darüber noch nachdachte, hielt Cäsar sie mit einem Mal zurück und zeigte auf die zwei Lindenbäume, die vor ihnen standen.
„Wir sind angekommen.“ Cäsar führte sie über einen Kiesweg und dann auf einen grasbewachsenen Hang, bis sie vor dem Eingang zu seinem Mäusebau angelangt waren.
„Herzlich willkommen zu Hause“, sagte er. Fine hatte noch nie so große Bäume gesehen, die dazu noch so süß rochen und in denen Vögel ihre Lieder sangen und Bienen summten.
„Ja, ich glaube, wir sind zu Hause“, sagte sie und beide verschwanden im Mauseloch.