Was ist neu

Fliegen

Mitglied
Beitritt
26.08.2002
Beiträge
736
Zuletzt bearbeitet:

Fliegen

.

„Es kann alles Mögliche passiert sein!“, sagte Pagold zu Sona Liganow, seiner weiblichen Begleitung. „Bedenken Sie! Vierundzwanzig Jahre allein in einem Sarg eingesperrt zu sein! Wir werden sehen, wie er der Belastung standgehalten hat. -- Deshalb Sie, Sona, wir dachten, die erste Stimme, die er hört, sollte, äh, eine weibliche sein.“
„Warum? So schlimm kann es doch nicht sein!“
„Hm. Wenn Sie mir bitte hier herein folgen würden. Und bedenken Sie, wenn Sie den Anschein haben, dass Warhut verrückt geworden ist, machen Sie ihm klar, dass Ihnen sehr viel an seinem Kommen liegt. Sekundär stehen auch noch zwei Millionen Tonnen Rohöl auf dem Spiel. Sie als Psychologin besitzen gewiss Erfahrung.“
Sona Liganow setzte sich den Kopfhörer auf.
„Ebenesa bitte melden. -- Ebenesa bitte melden.“ Es rührte sich nichts. Liganow versuchte es drei Stunden lang. Warhut meldete sich nicht.

Die fünfzigjährige Frau wachte auf. Sie war auf der Pritsche eingeschlafen. Pagold, fünf Journalisten und ein Captain nebst Funkoffizier befanden sich im Kontrollraum.
Sie ist alt, zu alt, doch sie hat so warme Augen, hatte Pagold gedacht, dann hatte er sie geweckt.
„Warhut?“, fragte sie.
„Ja. Die Ebenesa verlangsamt planmäßig ihr Tempo, wir haben sie deutlich auf dem Radargerät. Sie hat die Umlaufbahn des Jupiter erreicht. Warhut hat sich gemeldet.“
Liganow ging verschlafen zum Kopfhörer.
„Warhut?“, fragte sie.
„Ja?“, sagte die Stimme.
„Wie geht es Ihnen?“
„Auftrags-Position 3B/13247 wurde reibungslos erreicht, dann traten Schwierigkeiten auf. Ich habe den Maschinendefekt beseitigt, jedoch war da noch eine Ursache. Ich hatte Glück.“
Sie hatte das Gefühl, er würde sich umdrehen.
„Nichts hat einen Anfang“, sagte er. „Weil alles eine Vorgeschichte hat.“ Er schien zu grinsen. Unruhe quoll in Liganow auf wie überkochende Milch.
Wieder schien sich Warhut umzudrehen. „Nichts zu sehen!“, sagte er dann.
„Warhut?“, rief Liganow.
„Aber sie kommen wieder!“ sagte Warhut. „Immer wieder! Immer wieder.“
„Wer? Wer kommt wieder, Warhut?“
„Sie! Sie kommen wieder!“
Sona Liganow starrte Pagold an, die schreibenden Journalisten. Und im Kopfhörer hörte sie die Schreie von Warhut. Dann war Stille. Pagold zerbrach einen Kugelschreiber zwischen seinen Fingern.
„Jetzt sind sie draußen“, flüsterte Warhut. „Aber ich weiß nicht, wie ich sie los werden soll... Kommen Sie, helfen Sie mir. Sie haben mir so weh getan!“ Er weinte.
„Warhut, Sie landen in drei Tagen auf der Erde... halten Sie durch!“

Will Warhut, blond, 27 Jahre alt.
Gleich am Anfang, beim Start vor vierundzwanzig Jahren war es passiert. Durch eine Explosion an Bord starben siebenunddreißig Frauen und Männer. Warhut war der Einzige, der überlebte. Aber die Reise musste wie vorgesehen weiter gehen. Ohne die Kameraden. Alles andere hätte zu viel Geld gekostet, fand die Firma.
Die Ebenesa lag im Dock. In den Kabinen herrschte eine fürchterliche Unordnung.

„Was ist geschehen?“, fragte der Psychologe ihn.
„Summ“, sagte Warhut.
„Sie haben keine Familie, keine Frau, niemand, der Sie erwartet. Wie fühlen Sie sich?“
„Summ!“, sagte Warhut.
Drei Tage später war er tot. Ohne Vorwarnung hatte er plötzlich aufgeschrieen, hatte laut gerufen: „Nicht! Nein! Nicht schon wieder!“ und war durch die Glasscheibe gegangen, im 44. Stockwerk.
Der Zeuge, ein Arzt, meinte, dass nichts Schlimmes dem vorangegangen war. Eine Fliege war ins Zimmer geflogen, auf den Astronauten zu.
Der lag in einer Lache, Blut. Die Passanten wussten nicht, woher er kam, außer, dass er von oben gekommen war.
Er hatte unter Angst gelitten, wie sich herausstellte:
'Logbuch der Ebenesa, 15-4till-305.
Schaden am Konvator zur Sauerstoffgenerierung. Ich bin heute hinter die Stahlverstrebung hoch, an der B-Wand, so fünfzig Meter über dem Gravloch. Ein Eisen-U bricht, aber ich kann mich festhalten, es ist knapp. Nach wem sollte ich nach Hilfe rufen? Es geht nicht, niemand ist da. Aber es gelingt mir, den Konvator auszuschrauben, dann zwänge ich mich in den Zwischenspalt, werfe ihn ab. Über die Steilrampe muss ich, ich darf nicht abrutschen, weil ich am Grav zerschellen würde. Und dann kommen diese verdammten Fliegen, diese verdammten Fliegen, diese ekelhaften, dreckigen, haarigen, aasfressenden Fliegen und kreisen um mein Gesicht und fliegen mir in die Augen, und ich falle hinunter. Ich weiß nicht, warum ich überlebte, meine Beine waren so zerbrochen wie abgeknickte Streichhölzer, und ich erinnere mich an jeden Zentimeter bis zur Medstation. Ich muss jetzt die Fliegen finden. Ich muss sie bestrafen.'

„Wie zum Teufel konnten da Fliegen an Bord sein?“, tobte Pagold.
„Keine Ahnung.“
„Und wo sind die Fliegen?“
„Hauptsache, das Öl ist da. Ich weiß nichts von verschissenen Fliegen, Mann.“
Das Forschungsmaterial, das die Ebenesa lieferte, konnte zum Großteil gerettet werden, trotz dem, was Warhut getan hatte. Denn warum hatte er viele Bereiche des Innenraums zerschlagen? Und eine Menge der Bänder vernichtet?
Es gab keine Fliegen mehr; es gab getrocknetes Blut an manchen Stellen des Bodens, es gab zerborstene Spiegel, einen mit Sauerstoff zum Platzen gebrachten Skaphander, und es gab die Reise der Ebenesa, eine Reise über neuntausend Tage lang.

 

Jou. Nicht schlecht, für einen Romananfang ;)
Man bekommt den Eindruck, dass auf der 9000 Tage langen Reise einiges passiert ist, was Du nicht erzählst. Vielleicht hat Warhut nur Paranoia, vielleicht aber auch nicht. Etwas ausführlicher, könnte man glatt einen Film draus machen. Naja, einen B-Film, wenigstens, aber was solls, im SF-Genre werden in Hollywood ja eh fast nur B-Filme gedreht, insofern fass das bitte nicht als Beleidigung auf :D
Die Erzählstruktur gefällt mir. Abgehackt, komprimiert, ohne Aufklärung.

Fazit: sprachlich souverän, inhaltlich kommen Fragen auf, die nicht beantwortet werden. Ist auch so unterhaltsam, aber mehr wäre in dem Fall mehr gewesen ;)

Uwe
:cool:

 

Hi FlicFlac!

Deine Geschichte muss man schon sehr genau lesen, um sie halbwegs zu verstehen. Das sollte natürlich kein Vorwurf sein, denn das ist das Mindeste, was man von einem Leser erwarten kann, nicht?

Also: sie gefällt mir, der Stil ist zwar knapp, aber sehr gut. Ich finde vor allem, diese teilweise leicht ironische Art sehr passend, wirklich gut.
Aber ich hätte mir gern ein bisschen mehr gewünscht, die Geschichte wirkt irgendwie unvollständig.
Die Fliegen, z.B., waren nach meiner Interpretation ja wirklich da... nur Warhut (geiler Name) hat sie irgendwie vernichtet. Aber wie? (Steht das im Text?)

In diesem Sinne
c

 

Hi Flicflac,

deine Story ist mir zu fragmentarisch, zu wenig Antworten auf zu viele Fragen. Und ich musste die Geschichte zweimal lesen, um den Ablauf halbwegs zu verstehen, und nein Chazar, ich denke nicht, dass das vom Leser abverlangt werden kann.

Mehr Fleisch!!!

In dem Sinne

Dante_1

 

@Uwe
Danke! Ursprünglich waren in der Story noch ein paar Sätze, die ich aber strich. Ich wollte eben das Erfassen der Situation im Gefühlsmäßigen belassen, oder anders ausgedrückt: Versteht man das GRAUEN dieses Kampfes über 9000 Tage, und WEISS, dass es stattfand, ist es nicht mehr wichtig, die Details zu kennen. Im Gegenteil: Das Vakuum des Grauens bietet jedem den Spielraum. Deshalb nahm ich einige der 'Aufklärungen' wieder raus und fands so o. k.
Für die Lorbeeren zur Sprache: danke!

@Chazar
Nur so viel, in der Story gab es die "Fliegen" durchaus -.

@Dante_1
Chazar meinte ja nicht, der Leser müsse 2x lesen, sondern lediglich GENAU. Mir selbst kam der Plot nicht so kompliziert vor. Eigentlich eher anders herum: ein wenig einfach. Wenn du mit 'mehr Fleisch' 'genaue Erklärungen' meinst, siehe oben, die habe ich ja extra rausgenommen.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom