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Fluchtgeschwindigkeit: der letzte Transport
Fluchtgeschwindigkeit: der letzte Transport
Im Grau des Wintervormittags leuchten die Neonanzeigen der Schwebebahn unangenehm grell in mein Gesicht. Außer Atem von meinem Sprint zur Plattform trete ich an eine Transportkapsel und gebe am Außendisplay mein Ziel ein. Die Kapsel öffnet sich zischend. Ein Schwall metallisch-süßlicher Luft trifft mein Gesicht. Der Boden neben der Transportliege ist, wie so häufig, halb bedeckt mit leeren Quetschbeuteln. Ein buntes Firmenlogo springt mir ins Auge: Morgengold. Eine vage Erinnerung steigt in mir auf: Frühstücksflocken mit Milch, ein Tisch gedeckt für eine Familie, frisch gebackenes Brot. Ich schiebe die Bilder zur Seite. Es ist lange her, dass Morgengold, oder irgendeine andere Marke, Lebensmittel für Menschen hergestellt hat. Wie als Ermahnung, meine Gedanken auf das hier und jetzt zu richten, zieren rotbraune Flecken die Transportliege, auf die ich mich schnalle: Reste der „Morgengold Artificial Blood™“-Mahlzeiten. Seit ein paar Jahren ohne echte menschliche Zutaten. Wir sind zu rar geworden, als dass SIE uns noch leicht aufspüren könnten.
Noch rarer geworden ist das Kaffeepulver, von dem ich seit Tagen eine Packung mit mir herumschleppe. Es ist die letzte, die ich im Lager unter dem Safe House finden konnte, und ich werde einen Teufel tun und es hier in der Stadt zurücklassen. Der flüchtige, luxuriöse Duft, der mir aus der Packung in die Nase steigt, wirkt dem Geruch von Artificial Blood™ in der Kapsel entgegen und macht die Reise etwas erträglicher. Ich bin auf diesen Transport angewiesen. Zwischen IHNEN zu laufen ist zu gefährlich, jeder flüchtige Zusammenstoß wäre mein Todesurteil. Und in alten Cop-Shows stirbt immer der, der eigentlich seinen letzten Tag vor der Rente hat, den letzten Auftrag vor dem Ruhestand. Und heute ist mein letzter Tag unter IHNEN. Bin ich dadurch gefährdeter? Ich glaube ja, das Schicksal mag solche Spielchen. Ich habe Angst.
„Ihre Zieleingabe: Oberer Markt. Bitte bestätigen Sie Ihre Eingabe mit der grünen Eingabe-Taste oder korrigieren Sie mit der roten Korrektur-Taste“. Ich drücke auf Grün und lehne mich mit einem Seufzen zurück. Ich mag diese Stimme. Sie ist künstlich erzeugt, wie die meisten Stimmen für automatisierte Ansagen, aber sie klingt beruhigend echt. Und mit echt meine ich menschlich. Die Kapsel, die an den Schienen hängt wie der Anhänger einer Kette, schaukelt leicht im Höhenwind. Das Abfahrtssignal ertönt. Die Geschwindigkeit drückt mich fest in die halb aufgerichtete Transportliege, ich kann gerade so meinen Kopf drehen, um die Stadt zu betrachten. Unter mir liegt die Stadt in der Dämmerung, um mich herum spannt und wölbt sich das komplexe und erstaunlich filigrane Schienennetz, das SIE nach den Plänen der Besucher gebaut haben.
Die Kapseln, so hat Omar es mir erzählt, sind für menschliche Körper eigentlich zu schnell. Deswegen sei die tägliche Nutzung eine Gefahr für unsere Gesundheit. Ich musste lachen, als er es mir erzählt hat. „Die Kapsel nicht zu benutzen ist ja wohl gefährlicher“, habe ich gesagt. Omar hat nicht gelacht. Er war alt. So alt, dass er sich noch erinnern konnte an die Zeit, als wir viele waren. Und SIE wenige. Die Erde, wie sie war, ehe die Raumschiffe ankamen mit ihren außerirdischen Besuchern – alle lange tot, außer ihren Parasiten. Und trotzdem waren sie unser Verderben.
Kurz nach unserem Gespräch haben SIE Omar erwischt – in einer Kapsel. Das passiert manchmal. Wir verstehen nicht wie – woran SIE uns erkennen, wenn SIE uns nicht direkt berühren. Aber wir alle kennen jemanden, der in einer Kapsel entdeckt wurde. Und bei Omar habe ich die Durchsage selbst gehört – ich war nur wenige Kapseln hinter ihm. Erst das Knacken in der Lautsprecheranlage, die mit allen Kapseln und allen Stationen verbunden ist. Dann die knarzende Stimme. Nicht die künstliche, sondern die Stimme von einem von IHNEN. So offensichtlich nicht menschlich. So fremd. Mutiert durch intelligente Parasiten, die unsere toten Weltraumgäste zu uns gebracht haben, ehe sie sich uns zugewandt haben. Mutiert zu einer neuen Spezies, die uns innerhalb weniger Dekaden überrannt und buchstäblich ausgesaugt hat.
Was die knarzende Stimme damals von sich gab, war ein Todesurteil. „Kapsel 517, Sie werden in der Verdistraße für eine Identitätskontrolle gestoppt. Verhalten Sie sich ruhig und bleiben Sie angeschnallt.“ Eine so harmlose Durchsage. Aber schon Sekunden später konnte ich von meiner Kapsel aus die Schemen sehen, die auf dem Absatz kehrtmachten und zu rennen begannen. Die aus Hauseingängen strömten, aus hochgelegenen Fenstern sprangen. Wie sie sich gegenseitig aus dem Weg schubsten, übereinander stolperten, sich beim Sprung aus den Fenstern die Beine brachen und sich dann mit den Händen voranzogen, völlig von Sinnen. Alle in Richtung Südbahnhof. Um etwas abzubekommen, um nicht der letzte zu sein, um ihre Zähne in einen echten Menschen schlagen zu können.
Die Szene vermischt sich in meinem Kopf mit Erzählungen aus einer Zeit, als die Menschen zum Spaß Vampir- und Zombiefilme angeschaut haben. Ehe SIE kamen. Ehe wir alle dem Untergang geweiht waren.
Aber ab heute Nacht ist das Versteckspiel vorbei. Dies, sage ich mir, war meine letzte Reise durch diese Stadt, das letzte Mal Angst. Ab morgen bin ich vor IHNEN sicher.
Die Kapsel bremst vor meinem Zielbahnhof ab. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und bereite mich auf den Spießrutenlauf zu unserem Safe House vor. Rami, Cora und Marie sind sicher schon ungeduldig. Ich sehe geradezu vor mir, wie Cora sich auf die Unterlippe beißt vor Ungeduld, und Rami und Marie sich unablässig zanken. Besonders Rami teilt aus, wenn er nervös wird. Überrascht stelle ich fest, dass ich trotz aller Angst grinsen muss, wenn ich an Maries hochgezogene Augenbrauen denke, und wie liebevoll sie darunter immer hervorspät. Rami, Cora, Marie, sage ich in meinem Kopf vor mich hin, wie ein Mantra. Die einzigen Menschen, die ich mit Namen nenne. Meine Familie.
Und wenn alles gut geht, werden wir das Safe House nach heute Abend nicht mehr brauchen. Nie mehr bei jedem Geräusch zusammenzucken, nie mehr Panikattacken beim Gedanken an eine flüchtige Berührung. Erlösung.
Diese Aussicht macht mich zittrig vor Aufregung. Das ist nicht gut, ich muss aufmerksam bleiben. Nur noch heute. Ich atme tief durch und warte, bis mein Herz aufhört, zu rasen. Dann visualisiere ich jeden Schritt, jede Abzweigung, jedes mir bekannte Hindernis, damit ich IHNEN ausweichen kann.
Beim Aussteigen scannen meine Augen routiniert die Umgebung. Außer mir hält hier niemand. Gut. Die Plattform und die Rolltreppe hinunter zur Straße sind leer. Unten auf der Straße sind ein paar wenige von IHNEN unterwegs – die Schultern hochgezogen, die Köpfe gebeugt im kalten Wind, die Wangen gerötet, sehen sie so harmlos aus. So menschlich. In einem Hauseingang unterhalten sich zwei Frauen, eine hat einen Besen in der Hand. Die andere nippt an einem Becher To-Go, die Flüssigkeit darin dampft. Die beiden berühren sich immer wieder an den Schultern, den Armen, den Hüften, wie SIE es eben tun. Es sieht so liebevoll aus.
Ich fahre die Rolltreppen hinunter, die behandschuhten Hände fest in meine Manteltaschen gesteckt. Unten angekommen biege ich links ab: Der Gehweg ist frei. Die meisten Leute laufen auf der anderen Straßenseite, wo der beißende Wind von einer Reihe Bäumen abgemildert wird. Nach etwa fünfzig Metern muss ich die Straßenseite wechseln, um in eine schmale Gasse zwischen alten Lebensmittel-Lagern einzubiegen. Wie immer halte ich angespannt die Luft an: Käme jetzt jemand aus der Gasse gelaufen, wäre ein Zusammenstoß und damit mein Tod unausweichlich.
Die Gasse ist leer. Erleichtert gehe ich auf das Tor im Schatten der Lagerhallen zu, fasse nach dem Henkel der kleinen Tür, die in das Tor eingelassen ist, ziehe sie auf: Da passiert es. Ein junger Mann kommt herausgeschossen. Er hat ein Handy am Ohr, ruft aufgeregt irgendetwas hinein, und als ich versuche auszuweichen, rumple ich schmerzhaft gegen seinen abgespreizten Ellenbogen.
Ich schreie auf vor Entsetzen: Das war’s. Das ist das Ende. Vor meinem inneren Auge sehe ich wieder die Schatten aus den Fenstern springen, sehe ich ihre vor Gier zuckenden Gliedmaßen, und ich presse die Augen zusammen. Bitte, lass es schnell vorbei sein, denke ich. Er packt meine Schulter, Nägel bohren sich schmerzhaft in meinen Arm. Ich ziehe scharf die Luft ein und warte auf die Zähne, die sich in meinen Hals schlagen. Feuchte Wärme breitet sich von meinem Schoß über meine Beine aus.
„Steh auf, los, steh schon auf“, zischt eine Stimme. Eine menschliche Stimme. Ich öffne die Augen. Der junge Mann steht vor mir, seine Augen suchen hektisch die Umgebung ab. Mich sieht er nicht an.
„Schnell, jetzt mach! Wenn uns jemand sieht, sind wir geliefert!“
Ich schlucke. „Du …“, krächze ich.
„Ja, ich auch.“ Er schaut auf mich herab, sieht den nassen Fleck auf meinen Hosen. „Scheiße, du hast dich angepisst! Wenn DIE das riechen …“ Niemand weiß, ob SIE uns am Urin erkennen können. Vermutlich nicht, denn dann wären all unsere Verstecke wahrscheinlich schon aufgeflogen. Aber die Unsicherheit bleibt.
Der junge Mann zieht mich am Arm hoch. Dann schiebt er sich eine blonde Locke aus dem Gesicht. „Okay, komm mit, da vorn ist ein Safe House.“ Das weiß ich, ich wohne dort, aber woher kennt er es? Aus den Augenwinkeln sehe ich Leute, IHRE Leute, am Eingang der Gasse vorbeilaufen. Der blonde Typ hat Recht. Wenn einer von IHNEN auch nur einen Blick in die Gasse hier wirft, sind wir verloren. Ich nicke und laufe vor ihm her durch das Tor, schließe die Tür hinter mir, und klettere eine Feuerleiter hinauf in den 3. Stock. Die Eisentür, die ins Haus führt, ist hinter einem alten Kaminschacht vor neugierigen Blicken versteckt. Ich ziehe sie auf und husche ins dunkle Innere des Hauses. Der blonde Typ folgt mir und bleibt mit dem Rücken zur geschlossenen Tür stehen.
„Die anderen sind schon weg“, sagt er. Ich drehe mich nach ihm um. „Wie, schon weg. Alle drei?“, frage ich, und will nicht verstehen, was das bedeutet.
„Ich habe sie schon vor einer Stunde losgeschickt, die Zeit war schon knapp“, sagt er.
Dann: „Sorry, ich habe mich nicht vorgestellt.“ Komische Aussage. Wir stellen uns einander nicht vor, wenn wir nicht ein Safe House teilen. Dann wird mir klar, was er meint. „Du bist der Schleuser.“ Er nickt. „Ja, und eben war ich am Telefon, um Bescheid zu geben, dass aus diesem Safe House einer fehlt. Du. Sieht so aus, als hätte ich dich gefunden.“ Er runzelt die Stirn und streicht sich wieder eine Locke aus dem Gesicht. Als er den Kopf hebt, sehe ich es schon in seinen Augen. Mein Herz rutscht mir in die kalte, bepisste Hose. Mir wird übel.
„Es tut mir Leid, du bist zu spät“, bestätigt er meine schlimmste Ahnung. Meine Knie geben nach, und ich muss mich an die Wand lehnen. Zu spät. „Aber ich dachte …“, sage ich schwach, und weiß doch, dass es sinnlos ist. Wir wussten nicht genau, wann ein Schleuser uns zum Schiff bringen würde. Heute. Sonst nichts. Und ich habe mich verkalkuliert, so einfach ist das. Wollte noch einmal an den Fluss, noch einmal in den Park, mich verabschieden. Von dieser Stadt. Von diesem Planeten.
Und jetzt muss ich bleiben. Ich rutsche kraftlos an der Wand entlang und starre blind in die Dunkelheit des Flurs. Etwas presst gegen meinen Bauch. Ich ziehe es unter meinem T-Shirt hervor und lache bitter. Es ist die Packung Kaffee, die ich auf das Raumschiff mitnehmen wollte. Auf die Reise der Hoffnung, wie wir vier in unserem Safe House das Vorhaben genannt haben, die Menschheit zu retten.
Ich schaue auf, und Blondschopf steht noch immer da. „Was ist mit dir?“, frage ich, „reist du nicht mit?“ Blöde Frage, denke ich, während ich das sage. Wenn ich es nicht mehr hinschaffe, schafft er es auch nicht. Ein Gedanke kommt mir, der mir vor schlechtem Gewissen Übelkeit bereitet. „Hast du es wegen mir nicht geschafft?“ Er sieht mich einen Moment unverwandt an. Dann schüttelt er energisch den Kopf, so dass seine blonden Locken tanzen. „Ich … ich bleibe.“
Ich starre ihn mit offenem Mund an. Er bleibt freiwillig? Er sieht wohl mein Unbehagen, denn er sagt mit Nachdruck: „Ich gebe nicht auf. Die Erde gehört uns, nicht IHNEN! Wir holen sie uns zurück, wir, die zurückbleiben!“ Seine Augen blitzen kampflustig, als erwarte er, dass ich ihm widerspreche.
Ich seufze resigniert. Natürlich ist das ein hoffnungsloses Unterfangen. Aber wie groß sind schon die Chancen derjenigen, die heute die Reise der Hoffnung antreten? Die Suche nach einem anderen, für Menschen bewohnbaren Planeten?
Wenn sie es überhaupt bist zum Schiff schaffen.
Wenn sie es überhaupt starten können.
Wenn unsere verbliebenen Forscher sich nicht irren.
Wenn, wenn, wenn.
Ich spiele gedankenverloren an der Packung Kaffee. „Wie wollt ihr das machen, euch die Erde von IHNEN zurückholen? Wie viele seid ihr überhaupt?“ frage ich. Der Blondling und die Mitstreiter, die er zu haben scheint, sind ja nun meine einzige Hoffnung aufs Überleben. „Hier in der Stadt? Vielleicht fünfzig, Männer und Frauen.“ Die Betonung des letzten Satzes lässt darauf schließen, dass er hofft, dass es mehr werden. Er fährt schulterzuckend fort: „Im ganzen Land? Keine Ahnung, aber wir haben Nachricht aus mehreren Städten im Bundesland. Dort bleiben auch so zwischen zwanzig und dreißig Menschen. Und wer weiß, wie es in ländlichen Gebieten aussieht.“ Er schweigt kurz, sieht mich durchdringend an und erklärt dann: „Du gehörst jetzt zu uns.“ Ich nicke, weil das wohl stimmt. Er zieht eine kleine Tube aus der Jackentasche und wirft sie mir zu. Eine Paste, die, so behaupten es manche Menschen, dabei hilft, von IHNEN unentdeckt zu bleiben. Ich habe meine Zweifel, aber für Blondie hier scheint es funktioniert zu haben. Ich zeige auf die Packung in meinen Händen. „Kaffee?“ frage ich.
Als es dunkel wird, stehen wir auf dem Dach des Lagerhauses und lauschen. Alle paar Minuten verkündet Blondie die Uhrzeit. Bisher keine Schreie, keine rennenden Schatten. Keine Blutgier. Aber auch keine dröhnenden Maschinen. Jeder von uns hält einen Becher dampfenden Kaffees in der Hand, während wir Richtung Westen blicken. Dort, in Richtung der untergehenden Sonne liegt das Raumschiff, mit dem das Verderben zu uns Menschen kam. Das unserer Spezies jetzt Hoffnung auf Rettung gibt.
Dann, als der letzte glühende Sonnenstrahl verschwindet, beginnt ein Donnern und Dröhnen, das ich als Erschütterung bis in die Zehenspitzen spüre.
Jetzt rennen die Schemen, purzeln übereinander, werfen sich lustvoll vorwärts, wissen auch ohne Berührung, wer für dieses Getöse verantwortlich ist. Aber sie sind zu spät. Mein Herz hüpft, und Hoffnung steigt in mir auf – Hoffnung für die anderen, wenn schon nicht für mich.
Gleißendes, weißes Licht flutet die Stadt, und eine metallene Festung erhebt sich in den Himmel. Nimmt Fahrt auf. Steigt hoch, hoch in den Himmel, wo jetzt die ersten Sterne zu sehen sind. Ich winke dem Raumschiff, meinen Freunden, die IHNEN entkommen sind, und lasse lachend meinen Tränen freien Lauf. Blondie legt seine zitternde Hand auf meine Schulter.
Aus dem gleißenden Licht der Scheinwerfer wird ein Glühen am Himmel, dann ein sanftes Leuchten. Ein neuer Stern, der langsam verblasst.