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Freestyle Buddhist
Mr. John O’Brian hatte seinen Rock bereits angezogen und saß nun an seinem Schreibtisch. Er wohnte in Chapelizod und wollte sich gleich auf den Weg zur Tramstation machen, um in die Stadt zu fahren. Gewöhnlich tat er dies nur um zu seiner Arbeit zu kommen – er war Angestellter in einer privaten Versicherungsgesellschaft –, oder für einen seiner seltenen aber regelmäßigen Theaterbesuche.
Finanziell hätte er sich zwar auch eine Wohnung in der Stadt leisten können – wodurch ihm viele Stunden in der Tram erspart geblieben wären; die Vorteile eines Vorortes wogen jene aber um ein Vielfaches auf. Einerseits wohnte er nah an einem Wald, was für seine ausgedehnten Spaziergänge unerlässlich war. Andererseits hatte er stets eine legitime Ausrede, um Gesellschaften fernbleiben, beziehungsweise sich früher von diesen verabschieden zu können – die letzte Tram fuhr um 22Uhr.
Außer dem Schreibtisch und dem davor stehenden Stuhl befanden sich in seinem Zimmer nur sein Bett, ein Bücherregal und ein kleiner Teppich, der vor dem Kamin lag. Dekoration gab es, bis auf eine kleine Buddha-Statue auf dem Kaminsims, keine. Neben dieser thronte auf einer Buchstütze, mit dem Frontdeckel zum Raum gerichtet, ein Band von Arthur Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung. Vor ihm lag ausgebreitet eine Ausgabe des Evening Telegraph.
Mr. O’Brian war Junggeselle, aber einer derer, die diesen Weg selbst gewählt hatten. Durch seine kühle, besonnene – aber keineswegs strenge – Art, hatte er sich über die Jahre eine recht ansehnliche Stelle erarbeitet. Unter seinen Kollegen galt er als unersetzbar; gehe er unter, so die Firma gleich mit ihm, pflegten sie zu sagen. Seine Kopfbehaarung trug er immer, seinem momentanen Belieben folgend, unterschiedlich – mal rasierte er sich das Haupthaar bis auf ein paar Millimeter ab, trug dazu seinen Bart etwas länger; mal ließ er das Haupthaar wachsen und rasierte dazu seine Gesichtsbehaarung glatt. Obwohl er nur zwei Anzüge besaß, die dementsprechend abgenutzt waren, ging von seiner Erscheinung stets eine gewisse Eleganz aus – was nicht zuletzt seiner gold umrahmten, kleinen, runden Brille geschuldet war.
Nachdem er den Artikel über die Neueröffnung des Volta Cinematographen fertig gelesen hatte, machte er sich auf den Weg. Seine Schwester hatte ihn zu dessen ersten Wochenendvorstellung eingeladen. Auch wenn er sie nur noch zu Familienfesten und Beerdigungen traf, hatten sie ein sehr vertrautes Verhältnis zueinander, welches durch regelmäßigen Briefverkehr aufrechterhalten wurde.
Sie war die einzige Person, der er sich nie hatte ganz entziehen können. Was zum einen daran lag, dass sie sich in ihrer Kindheit gezwungenermaßen täglich sahen. Zum anderen war seine distanzierte Haltung in Kindertagen noch nicht so ausgeprägt wie heute. Ihm schien sie die einzige Person gewesen zu sein, die ernsthaftes Interesse an ihm hegte. Was er aber mehr den Umständen als sich selbst zuschrieb. Sie schloss sich wohl – wie ein Entenküken – einfach der erstbesten Person an.
Das Verhältnis zu seinem Vater – seine Mutter starb früh – war eher praktischer Natur. Er erbrachte die von ihm erwartete Leistung und erhielt im Gegenzug die ihm gebührende Anerkennung – oder vielmehr ausbleibende Verachtung. Seitdem er sich in seiner jetzigen Stellung befand, hatte er keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt. Diesen hatte er erst wieder zu erwarteten, sollte er jene verlieren oder sich sonstige Fehltritte leisten.
Statt mit der gewohnten Gleichgültigkeit blickte er gespannt auf die vor dem rechten Fenster vorbeiziehende, im Wechselspiel aus warmem Laternen- und kühlem Mondlicht funkelnde, Liffey. Seine Schwester erwartete ihn bereits an der Station, als die Tram langsam einfuhr. Er erkannte ihre, dem Fluss zugewandte, Silhouette am Kleid –
jenem Kleid, dass ihn so sehr an das Mädchen aus seiner Kindheit erinnerte. Es war völlig weiß, ähnelte durch seine Schlichtheit aber nicht im Geringsten einem Brautkleid, trotzdem es etwas Feierliches an sich hatte. Mit der Anmut einer aus dem Fenster blickenden Katze beobachtete sie das Wasser. Nachdem er sie einige Zeit angesehen hatte, begann er sich ihr langsam zu nähern. Aus Angst sie zu erschrecken, machte er – in einigen Metern Entfernung – einen lauten Schritt; ohne ihren Körper zu bewegen, wandte sie ihren Kopf zu ihm. Als sie ihn erkannte, drehte sie sich strahlend um. Tiefe Grübchen schmückten ihr, von Sommersprossen bedecktes, Gesicht. Sie hatte schulterlanges, rotes Haar; ihre Stirn war von einem geraden Pony bedeckt. Trotz der kindlichen Erscheinung, trug sie die Würde einer Mutter.
Sie umarmten sich innig, wobei sie ihren Busen an seine Brust und ihre Schenkel an die seinen presste. So hielt sie ihn, länger als ihm lieb war, fest. Der eigenartige, ihm vertraute Duft von Orangenschalen und Zigarettenrauch ging von ihr aus. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Cinematographen.
„Du musst unbedingt öfter zu unseren Gesellschaften kommen. Die Kinder fragen ständig nach ihrem Onkel und Oscar liegt auch sehr viel an den Gesprächen mit dir.“, sagte sie in der gespielten Überschwänglichkeit eines Aufeinandertreffens von entfernten Bekannten.
„Du weißt doch, ich verkehre nicht gerne in größeren Gesellschaften. Außerdem würde ich mir, käme ich einmal, auch die Pflicht eines regelmäßigen Kommens auferlegen – und ich möchte die Zeit, die ich habe, meinen Studien und Praktiken widmen.“
Als sie nach einigen Minuten Fußweg dort ankamen, fanden sie das Kino überraschend leer vor – sie waren spät. Lediglich drei Paare warteten noch vor ihnen an der Kasse.
„Schönen Guten Abend, Madam, wir hätten gerne zwei Plätze für die Vorstellung.“
„Das tut mir furchtbar Leid, es gibt leider nur noch einen freien Platz im Saal.“
„Oh, möchtest du gehen? Du hast dich so darauf gefreut.“, fragte John sich seiner Schwester zuwendend.
„Ich bitte dich, wir gehen ein andermal. Lass uns heute einfach ein wenig durch die Stadt spazieren.“
Da er bislang – wie ein Zug – nur die immer gleichen Routen Dublins zurückgelegt hatte, verspürte er die gleiche Freude und Spannung, die das Erkunden einer fremden Stadt auszulösen pflegt. Die Konversation näherte sich stetig ihren Briefwechseln an. Er breitete ihr seine neuesten Erkenntnisse und Einsichten aus – was sie mehr aufgrund seiner Begeisterung anstatt der Theorien wegen erfreute –, während sie ihm ihr Herz über Eheprobleme und andere weltliche Dinge ausschüttete.
Ihre Blicke trafen sich immer häufiger und gewannen an Länge und Intensität.
Er hatte sich zwar vorgenommen die Acht-Uhr-Tram zu nehmen, vergaß diesen Vorsatz aber infolge des Gesprächs. Sie spazierten einige Zeit durch die Straßen Dublins und entlang der Liffey, bis sie an der Station ankamen, an der sie sich getroffen hatten.
Sie umarmten sich wieder – seine Schwester löste sich von ihm.
Mit der gewohnten Gleichgültigkeit aus dem Fenster blickend, fuhr er den Weg nach Chapelizod.
Zurück in seiner Wohnung, setzte er sich – mehr aus Gewohnheit als aus dem Bedürfnis danach – im Schneidersitz auf den kleinen Teppich vor dem Kamin. Er zwang sich seine Gedanken zur Ruhe zu bringen. Anstelle der gewohnten Befreiung, nahm eine bedrückende Enttäuschung Besitz von seinem Inneren. Tränen quollen in seine Augen – ach wie gerne hätte ich doch die Vorstellung gesehen.