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Friedlos

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14.10.2001
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Friedlos

Die Tafel wurde aufgehoben. Mägde räumten die Holzplatten und die niedrigen Gestelle beiseite. Die Männer steckten ihre Messer in die Gürtel. In dem großen Wohnraum wurde es still. Der feierliche Augenblick war gekommen.
Uland hob sein silberumrandetes Trinkhorn und leerte es bis auf den Grund. Es war das Horn eines Ur, den er selbst erlegt hatte. Sein prächtig geflochtener Haarknoten über der rechten Schläfe leuchtete golden im Sonnenlicht, das durch ein Windauge fiel.
„Swanhild!“, rief er mit lauter Stimme. Erwartungsvoll suchte sein Blick sie unter den Vertretern ihrer Sippe.
Das junge Mädchen löste sich aus der Gruppe und schritt anmutig auf ihn zu. Hellkupferfarbene Locken fielen ihr ungebändigt bis auf die Schultern. Ihren ranken Hals betonte sie mit einer Bernsteinkette und die Arme hatte sie mit Reifen geschmückt.
Mit gesenktem Kopf blieb Swanhild vor Uland stehen. Er nahm sie bei der Hand und führte sie gemessenen Schrittes auf den erhöhten Stuhl an der Wand zu.
Das Haus hatte er für sie gebaut und ihrer Familie viele Kühe, Rinder, alle seine Ziegen, drei gezäumte Rösser und Waffen dargebracht. Ein Vermögen, – doch für Swanhild hätte er alles gegeben. Jeder Mann beneidete ihn. Sie galt als das schönste Mädchen weit und breit. Trotz ihrer zarten Glieder war sie stark und gesund. Stets arbeitete sie fleißig im Haus ihres Bruders mit und zankte sich niemals mit den anderen Frauen.
Wohlgefällig betrachtete Uland ihre milchige Haut, die klaren graugrünen Augen und den biegsamen Körper in dem lose fallenden Gewand, das sie mit Fibeln an den Schultern und an der Hüfte raffiniert gerafft hatte.
Er ließ ihre Hand nicht los, während er auf dem mit Schnitzereinen reich verzierten Stuhl Platz nahm. Er trug das Schwert, das er als Brautgabe von ihr erhalten hatte. „Swanhild gab Uland dieses Schwert“ war in eckigen Zeichen in das Metall eingeritzt.
Uland zog die Braut auf seine Knie. „Weib“, sagte er, „von heute an habe ich die Munt über dich. Du stehst unter meinem Schutz und dem Schutz meiner Sippe. Mein Haus ist auch dein Haus. Du wirst mir folgen, deine Pflichten getreulich erfüllen und mir Kinder gebären.“
Die Festgäste nickten sich zufrieden zu. Hart war um den Ehevertrag gefeilscht worden. Zwei starke Familien, die sich versippt hatten – das konnte für alle von Vorteil sein.
Ein Mann mit dunklem Bart stand etwas abseits und verfolgte die Zeremonie. Von einer Magd ließ er sich sein Trinkhorn erneut mit Brautbier füllen.
Ferun, seine Ehefrau, hatte sich zu den Weibern gesellt, die das Brautbett richteten. Laut schwatzend verließen sie das Haus. Auch die anderen Gäste gingen, und nur die Zeugen blieben zurück. Sie standen beieinander und sahen zu. Der Mann mit dem Bart war unter ihnen. Alle starrten sie auf das Bett, während die Ehe vollzogen wurde.
„Es ist vollbracht“, sagten die Männer, ehe sie sich zum Gehen wandten, und den anderen berichteten sie: „Alle Anzeichen sprechen dafür, dass der Ordnung Genüge getan wurde.“
Jedoch gab es drei Menschen, die genau wussten, dass nur durch weibliche Liste der Anschein dieser Ordnung gewahrt werden konnte.

„Schneller, Weib!“, schrie Uland und zerrte seine Frau hinter sich her. Swanhild sah die Schere in seiner Hand und wagte nicht zu schreien. In keinem der Langhäuser regte sich etwas.
Sie näherten sich dem heiligen Eichenhain, in dem die Nacht noch schwärzer schien. „Bei Ermin, dem Erhabenen! Bei Wodan, dem Sturmgeborenen!“, schrie Uland in die Dunkelheit. „Bei allen Göttern! Welche Schmach wurde mir angetan!“
Swanhild stolperte und wäre beinahe gestürzt. Uland riss sie hoch.
Sie hatten den Hain durchquert. Schon konnte man die feuchten Nebelschwaden spüren, die aus den Sümpfen stiegen. Uland keuchte. Schweiß strömte über sein Gesicht.
„Halte inne!“, bat Swanhild außer Atem, aber Uland hörte nicht. Weiter rannte er auf den Holzbohlen ins Moor hinein. Rechts und links dieses Weges aus Baumstämmen quoll Nässe aus der zähen Moormasse.
Endlich blieb er stehen und ließ Swanhild so plötzlich los, dass sie schwankte. „Vergib mir!“, flehte sie unter Tränen, „Ich werde dir eine gute Frau sein. Du wirst es nicht bereuen.“
Grob griff Uland ihr in die Haare und zwang sie auf die Knie.
„Schweig!“ Blind vor Wut schnitt Uland ihre Locken ab und warf die seidigen Strähnen von sich, bis ihr Schädel fast kahl war.
Swanhild zitterte so sehr, dass sie kaum sprechen konnte. „Ich bin unschuldig. Gewalt wurde mir angetan.“ Sie umklammerte seine Beine.
Uland trat nach ihr. „Unkeusche!“ Hasserfüllt kam es aus seinem Mund. „Du hast mich entehrt. Du bekommst nur, was du verdienst.“
Lichter geisterten gespenstisch über dem Sumpf. Swanhild richtete sich auf und rang die Hände. „So glaube mir doch ...“ Im Mondlicht sah ihr bleiches Antlitz aus wie eine Totenmaske.
Er spie ihr ins Gesicht und riss ihr das Gewand vom Leib. Einen Augenblick verharrte er. Swanhild war von makelloser Gestalt.
„Ich beschwöre dich, schenke mir mein Leben!“
Er schlug sie und stieß sie von sich. „Du hast mich betrogen!“ Seine Stimme überschlug sich. „Zum Gespött hast du mich gemacht vor allen Leuten.“
„Niemand wird es je erfahren.“
„Jemand weiß es.“ Er packte sie. Swanhild wehrte sich. Er griff noch fester zu und drängte sie an den Rand des sicheren Weges.
Sie klammerte sich an seinen Armen fest. Erbarmungslos befreite er sich von ihr und stieß sie von den Holzbohlen.
Gurgelnde Laute stiegen aus dem bodenlosen Morast auf. Sie schlug um sich, versuchte, sich an den Baumstämmen festzuhalten. Erbarmungslos trat er ihr auf die Finger.
„Rette mich!“ Das waren Swanhilds letzte Worte. Unaufhaltsam versank sie im schwarzen Schlamm.
Eine Weile sah Uland zu. Seine Augen brannten. Erst als nur noch ihre weit aufgerissenen Augen und ihr kahler Schädel zu sehen waren, drehte er sich um und ging mit langen Schritten davon.

Einen Tag und eine Nacht blieb Uland verschwunden. Abgerissen und allein kehrte er schließlich in sein Haus zurück. Die Knechte und Mägde stellten ihm keine Fragen.
Uland wusch und rasierte sich gründlich. Sorgfältig kämmte er sein schulterlanges Haar. Er aß, trank und legte sich auf das Brautbett, wo er in einen unruhigen Schlaf fiel.
Die Kunde, dass er ohne Swanhild zurückgekommen war, verbreitete sich schnell. Als er aus seinem Haus trat, hatte die Sonne gerade den Mittagspunkt durchquert. Vor den Türen saßen Frauen und putzten Pilze und Beeren, die ihre Kinder gesammelt hatten. Sie verfolgten ihn mit neugierigen Blicken, als er auf das Haus von Swanhilds Bruder zuging.
Neidhart erwartete ihn bereits. Mit vierunddreißig Jahren waren seine Tage gezählt. Die ganze Zeit über saß er am Feuer. Seine Gelenke waren rot geschwollen und schmerzten so heftig, dass er sich kaum bewegen konnte. Neidharts Blick aber war scharf wie eh und je.
„Wo ist Swanhild?“, fragte er, kaum dass Uland eingetreten war.
„Wodan hat es gefallen, sie als Opfer zu fordern. Es geschah im heiligen Hain, nahe dem Opferstein unter der alten Eiche. Ein Bär hat sie gerissen.“
Neidharts Töchter kamen herbei. Wehklagen erfüllte den Raum.
„Geht“, befahl Neidhart, „und holt eure Brüder vom Feld. Sagt der Sippe Bescheid und bereitet alles vor. Wir können Swanhild kein Grab bereiten, doch wollen wir morgen gemeinsam um sie trauern.“
Uland suchte auch seine Schwester Ortlind auf und berichtete ihr von Swanhilds Tod. Fest sah sie ihm in die Augen. „Du hast ein Haus gebaut, und du brauchst eine Frau.“
Er erwiderte ihren Blick. „Ich habe Swanhilds Familie beinahe alles gegeben, was ich hatte.“
„Oh Uland, konntest du Swanhild denn nicht schützen?“
„Nein!“ Seine Stimme war hart.
Schwanhilds schreckliches Ende sprach sich schnell in der Siedlung herum. Aber Uland war ein einflussreicher Mann. Sein Wort galt. Nur einen gab es der zweifelte. Doch auch er schwieg.

Schnell kehrte wieder der Alltag in das Dorf ein. Jeder ging seinem Tagwerk nach. Wie Mensch und Tier im kommenden Winter überleben konnten, das war die Frage, die alle am meisten beschäftigte. Der Sommer war nass gewesen, die Ernte schlecht. Monate des Hungers standen bevor.
Uland schnitt mit seinen Knechten das feuchte Gras. Ehe es richtig trocknen konnte, regnete es. Er würde das Heu mit Blättern strecken müssen, damit die Tiere im Winter etwas zu fressen hatten.
Tagsüber arbeitete er hart wie alle anderen, aber wenn die Dunkelheit hereinbrach, kamen die quälenden Gedanken. Wer, wer war es gewesen? Wer hatte Swanhild in Schande gebracht und seine Zukunft zerstört?
Eines Abends saß er vor dem verglimmenden Feuer. Auf seinen Knien lag Swanhilds Brautgeschenk. Sinnend betrachtete er die eingeritzten Runen. In der Siedlung gab es nur einen, der schriftkundig war. An ihn musste Uland denken. Das Gesicht des Mannes tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Seit der Hochzeit hatte er nicht mehr mit ihm gesprochen.
Eine Erinnerung wurde in ihm wach an etwas Bedeutsames, das er vor kurzem sah und nicht sogleich verstand. Es hatte mit der großen Eichenholztruhe zu tun, die Swanhilds Kleidung enthielt.
In der Dunkelheit öffnete er den Deckel und wühlte durch Wolle und Leinen, bis er auf etwas Festes stieß: ein Kästchen, in dem Swanhild ihren Schmuck und Fibeln aufbewahrt hatte. Er trug es zum Feuer und betrachtete es von allen Seiten. Das Holz war glatt und makellos. Er öffnete die Schatulle. Zuoberst lag die Bernsteinkette, die Swanhild bei der Hochzeit getragen hatte. Er sah ihren weißen Hals vor sich, umrahmt von hellkupferfarbenen Locken. Schnell schloss er die Augen, um das Bild zu verscheuchen.
Hastig räumte er den kleinen Kasten aus. Auf dem Boden waren Zeichen eingeritzt. Uland betrachtete sie genauer. Er war des Lesens nicht ganz unkundig. Angestrengt runzelte er die Stirn, während er die Runen entzifferte: „Dies ist gemacht von Sigurd“.
Mit offenen Augen lag er später auf seiner Pritsche. Wieso besaß Swanhild eine Schatulle, die Sigurd gefertigt hatte? Er war ein Nachbar, mindestens zehn Jahre älter als Swanhild und hatte Frau und Töchter. Schenkte er Swanhild dieses Kästchen? War womöglich er es gewesen, der ...?
Kurz nach Sonnenaufgang brachte er die Schmuckschatulle zu Sigurd, der gerade dabei war, einen Holzkarren zu beladen.
„Ich kann nicht lesen. Kannst du mir sagen, was dort eingeritzt wurde?“
Deutlich sah er, dass Sigurd erschrak, doch schnell fing er sich wieder. Ohne zu zögern begann er: „Dies ist gemacht von ...“ Er stockte und kniff die Augen zusammen.
„Sprich weiter: Von wem ist es gemacht?“
„Ich kann es nicht entziffern.“
„Die Schriftzeichen sind klar und deutlich zu erkennen.“
„Ich glaube, es heißt ‚Sigmar’.
„Sigmar? Wer ist das? Ich kenne keinen Sigmar.“
„Vielleicht hat Swanhild das Kästchen gefunden oder eingetauscht?“
Uland holte tief Luft. „Woher“, fragte er langsam, „weißt du, dass diese Schatulle Swanhild gehörte?“
Sigurds Augenlider flatterten kurz. „Es ist ein Behältnis, wie Weiber es benutzen.“ Damit wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.
Uland gab sich nicht die Blöße weiterer Worte. Er ging hinaus ins Moor. Allein stand er da und reckte seine Arme gen Himmel, in den Händen die Schmuckschatulle. „O Wodan“, rief er mit lauter Stimme, „O Wütender, nimm dieses mein Opfer an! Hilf, dass mir Gerechtigkeit widerfahre und die heilige Ordnung wiederhergestellt werde.“ Er warf das Holzkästchen von sich und sah zu, wie es im Brackwasser versank.
Es war schon spät am Tag. Uland eilte aufs Feld. Weit holte er mit der Sichel aus, während er mähte. Zorn führte seinen Arm. Er würde nicht eher ruhen, nicht eher Frieden finden, bis er Rache geübt und seine Ehre wiedererlangt hatte.

Ein paar Sonnenaufgänge später brachen einige Männer des Dorfes zum letzten Mal vor dem Winter zu einer Reise ins römische Reich auf.
Sigurd hatte seinen Wagen mit Behältern beladen. Sie enthielten flüssige und feste Seife, die er aus Schafswollfett selbst hergestellt hatte. Zufrieden betrachtete er den Karren. Seife war in Rom sehr begehrt. Er würde gute Geschäfte machen.
Ein Karren nach dem anderen setzte sich in Bewegung. Sigurd hatte seinen Wagen schwer beladen, sodass er nur langsam vorankam und bald hinter den anderen zurückblieb. Am Rand des Moores brach ein Rad. Er rief, aber es war bereits niemand mehr zu sehen.
Sigurd beeilte sich. Er hoffte, die anderen Händler im ersten Nachtlager einzuholen. Zum Glück war er stark und geschickt. Aber als er den Wagen entlud, entdeckte er, dass jemand die Fracht mit Sand und Steinen schwerer gemacht hatte. Es war mühsam, den Wagen zu richten. Trotz der herbstlichen Kühle rann ihm Schweiß über das Gesicht.
Endlich konnte er weiterziehen. Da hörte er einen Laut, der wie der Schrei eines wütenden Tieres klang. Er fuhr herum und sah Uland, der hinter einem Busch hervorsprang. Mit flammenden Augen stand er vor ihm. In der Hand hielt er ein Schwert.
„Warum bist du mir gefolgt?“
„Ich werde dich töten.“
Sigurd griff nach seiner Waffe.
„Du hast ihr Gewalt angetan!“, schrie Uland.
„Sie gab sich mir freiwillig hin.“
„Du lügst!“
„Sie war mir sehr lieb“
Uland erhob die Waffe. Sie kämpften. Der metallene Klang ihrer Schwerter hallte in der Stille des Moores wider.
Die Wut verlieh Uland ungeheure Kräfte. Er schlug seinem Widersacher die Waffe aus der Hand.
Sigurd war verloren, und er nahm es hin. Seine Arme hielt er leicht gestreckt, die Handinnenflächen dem Todfeind zugewandt. Uland setzte ihm die Schwertspitze auf die Brust. Sie sahen sich kurz in die Augen. Dann stieß Uland zu. Sigurd brach zusammen. Wieder und wieder hieb Uland auf ihn ein, bis Swanhilds Liebhaber als blutiges Bündel vor ihm lag.
Er keuchte. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Der Anblick des Leichnams erfüllte ihn mit Genugtuung.
Auch Sigurds Ochsen tötete er. Laut rief er über das Moor: „Dank sei dir, Ermin! Dank sei dir, Wodan, du Führer der Toten! Ihr Götter, ich bitte euch: Nehmt diesen Ochsen als Opfergabe an!“
Er horchte auf. Waren da nicht undeutliche Stimmen und seltsame Geräusche? Sie schienen näher zu kommen? Ächzend schleifte Uland den leblosen Körper zu einem Sumpfloch und gab ihm einen Stoß. Mit einem Stock hieb er nach, bis nichts mehr zu sehen war.
Es war ein Flüstern, wie ein Raunen, das ihn von allen Seiten umgab. Schnell kauerte er sich hinter einen Busch. Niemand war zu sehen und er konnte nicht verstehen, was die Stimmen sagten. Waren es die Geister und Dämonen, die das Moor bevölkerten? Waren es die Götter, die in unverständlicher Zunge zu ihm sprachen?
Uland erschauerte. Er sprang auf und floh in den heiligen Hain.
Sein Gewand war blutbefleckt. Erst im Schutze der Nacht schlich er sich in sein Haus.

Uland lag auf der Schlafbank und starrte in die Dunkelheit. Es war kalt. Zornig schien ein Stern durch das Windauge geradewegs auf ihn hernieder. Er drehte sich zur Seite. So sehr sehnte er sich danach, dass sich Ruhe über ihn breiten möge wie eine wärmende Decke. Vergeblich. Nacht für Nacht lag er schlaflos oder wälzte sich in unruhigen Träumen.
Die warnende Stimme in seinem Kopf wollte nicht verstummen. ‚Du hast nicht getötet, wie ein kluger Mann tötet. Du hast die Gefahren nicht bedacht.’
‚Die Götter haben mich daran gehindert.’
‚Nicht die Götter. Deine Furcht war es, die dich kopflos werden ließ.’
‚Ich war im Recht.’
‚Es war dein Recht, deine Ehre zu verteidigten. Dennoch hast du Sigurd um sein Leben betrogen. Er wird keine Ruhe finden in seinem Grab.’
Dieser Gedanke ließ Uland nicht mehr los: Was, wenn Sigurd zum Wiedergänger wurde? Wenn er ihn verfolgen und Rache fordern würde und alle von seiner Schmach erführen?“
Er stand auf, öffnete das eiserne Schloss und trat in die Türöffnung. Draußen herrschte Totenstille. Warum hatte er Swanhilds Liebhaber nicht den Kopf abgeschlagen, bevor er ihn im Moor versenkte? Sodass er ihn sich nicht mehr aufsetzen konnte? Warum hatte er nicht wenigstens daran gedacht, ihn mit Birkenstöcken zu bannen?
‚Du hast dich gefürchtet wie ein Weib’, sagte die unerbittliche Stimme. ‚Angst hat deine Vernunft verwirrt.’
„Es war nur gerechter Manneszorn, der mich trieb.“
„Furcht wird dich begleiten dein Leben lang. Niemals kannst du vor dem Wiedergänger sicher sein.“
Uland vergrub das Gesicht in den Händen. Im Osten graute bereits der Morgen. Menschen und Tiere erwachten. Auch die Toten lebten, kehrten manchmal aus dem Jenseits zurück. Dämonen und Geister ruhten nie.

Aufgeregte Stimmen waren draußen zu hören. „Sie kommen! Sie sind zurück!“ Immer mehr Menschen liefen zusammen. Uland gesellte sich zu ihnen.
Ferun legte eilig das Schiffchen beiseite und kletterte aus dem Grubenhaus. Endlich! Was mochte Sigurd aus Rom alles mitgebracht haben? Silberbecher, Bronzegefäße, Schmuck?
Ferun wollte ihrem Mann auch etwas schenken: eine neue Hoffnung. Freudig schloss sie sich den Menschen an, die den Heimkehrern entgegenzogen.
Die ersten Ehefrauen begegneten ihren Männern. Suchend sah Ferun sich um. Sie konnte Sigurds Wagen nirgendwo entdecken.
Segismund kam auf sie zu. „Ferun“, sagte er, „ich habe schlechte Kunde. „Wir haben Sigurd aus den Augen verloren. Auf dem Rückweg fanden wir seinen Wagen verlassen.
Ferun stieß einen Schrei aus.
„Räuber“, sagte Ulands Schwester Ortlind schnell, „wahrscheinlich ist er Räubern in die Hände gefallen.“
Ferun fing an zu weinen.
„Nein.“ Segismund schüttelte den Kopf. „Es waren keine Räuber. Die Seifentöpfe haben wir mit zurückgebracht.“
Helmbrecht, Neidharts Sohn, mischte sich ein. „Wo stand der Wagen?“
„In den Sümpfen.“
Uland räusperte sich. „Sicher ist er vom Weg abgekommen.“
„Nein.“ Wieder schüttelte Segismund den Kopf. „Wir haben keine Spur seines Ochsen gefunden.
Erschrocken sahen sich die Dorfbewohner an. Hatten die Geister und Dämonen der Sümpfe Sigurd geholt? Hatten sich die Götter auch seinen Ochsen genommen?
Da erhob Neidhart, der Älteste, seine Stimme. Auf zwei seiner Söhne gestützt war er herbeigehumpelt. „Sigurd und sein Ochse wurden getötet“, sagte er laut.
Die Menschen hielten den Atem an. Nur Feruns Schluchzen war zu hören.
Ulands Schwester ging zu ihr hinüber und legte den Arm um sie. „Wer sollte das getan haben? Und warum?“, fragte sie.
„Es war keiner von uns“, sagte Uland mit fester Stimme. „Sigurd hatte keine Feinde.“
„Eines Tages“, erklärte Neidhart bedächtig, „werden wir es erfahren. Ermordete finden keinen Frieden. Sie kehren zurück, um anzuklagen und Rache zu nehmen an den Frevlern, die unsere göttliche Ordnung zerstört haben.“
Die anderen nickten zustimmend.
„Und nun führt mich heim“, befahl Neidhart seinen Söhnen. Ehe er in seinem Haus verschwand, drehte er sich um. „Geht morgen ins Moor“, befahl er der schweigenden Menge, „und fleht zu den Göttern. Opfert ihnen dort Sigurds Wagen, damit sie uns gnädig sind.“
Neidhart war ein weiser, alter Mann und sie taten, wie er sie geheißen hatte.

Die Sonne schien warm, als Ferun niederkam. Es war ein Sohn, den ihr Gemahl sich so sehr gewünscht hatte. Sieben Mädchen hatte Ferun geboren. Zwei waren gestorben, als sie noch Feruns Milch tranken, und zwei, nachdem sie gerade sprechen gelernt hatten. Das siebte Mädchen hatte Sigurd nicht vom Boden aufgehoben, und so war es dem Tod geweiht gewesen. Der neugeborene Junge war kräftig und gesund. Ferun war sicher, dass er zu einem starken Mann heranwachsen würde. Sie gab ihm den Namen seines Vaters: Sigurd.
Bei dem Fest, auf dem das Kindsbier ausgeschenkt wurde, sah Uland das Kind zum ersten Mal. Zufrieden schlief es auf dem Arm seiner Mutter. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Im Gesicht des Säuglings erkannte er ganz deutlich die Züge des Getöteten.
Das Kind erwachte. Uland erschrak. Es war tatsächlich Sigurd, der ihn aus den Augen seines Sohnes anschaute. Abscheu lag in diesem Blick. Es gab keinen Zweifel: Sigurd war zurückgekehrt und erkannte ihn.
Der Säugling verzog das Gesicht und begann zu schreien. Uland verstand die Botschaft wohl. „Ich werde stark sein“, lautete sie, „und ich werde nicht rasten noch ruhen, bis du dein verdientes Ende gefunden hast.“
So weit wollte Uland es nicht kommen lassen. Aber obwohl er ohne Unterlass auf eine Gelegenheit lauerte, den Wiedergänger zu töten, gelang es ihm nie, den Jungen heimlich zu sich zu locken. Ständig befand er sich in der Obhut seiner Mutter oder Schwestern.
Ehe er es sich versah, lernte das Kind laufen und sprechen. Von Tag zu Tag wurde es Sigurd ähnlicher. Schließlich konnte Uland seinen Anblick nicht mehr ertragen und mied Ferun und ihren Sohn. Doch er wusste: Dieses Kind durfte nicht zu einem Manne heranwachsen, sonst war er verloren.

Uland zog sich von allen zurück und verbrachte seine Tage in Angst und Trübsal. Die Sommer und Ernten wurden von Jahr zu Jahr schlechter. Er besaß nur noch ein paar Schafe und wenige Rinder. Um eine neue Frau konnte und wollte er nicht werben. Alles hatte er damals für Swanhild gegeben.
Feruns Sohn aber wuchs und gedieh. Sogar zu Pferde hatte man ihn schon gesehen.
Eines Abends kam Uland früher von der Feldarbeit heim als seine Knechte. Die untergehende Sonne färbte den Himmel glutrot. Er fand das Haus verlassen vor, denn die Mägde waren in den Wald gegangen, um Nüsse zu sammeln. Er stellte er sich in die Türöffnung und beobachtete Feruns Haus.
Plötzlich lief der kleine Junge allein in den umzäunten Garten. Uland hielt den Atem an. Das Kind rannte zum Gartentor hinaus. Weit und breit war niemand zu sehen. Uland schlich ihm nach.
Die Dämmerung brach herein. Das Kind bewegte sich schnell auf den heiligen Hain zu. Während Uland ihm folgte, hatte er das unheimliche Gefühl, von dem Wiedergänger in den Wald gelockt zu werden.
Zwischen den Bäumen war der Junge nur als heller Fleck zu erkennen. Er näherte sich dem Opferstein unter der alten Eiche. Wer war das Opfer? Auf wessen Seite standen die Götter?
Uland beschleunigte seinen Schritt und zog das Schwert.
Jetzt hatte der Junge ihn gehört. Er drehte sich um. Uland hob die Waffe. Das Kind schrie nicht. Es sah ihn nur an. Seine Arme hielt es leicht gestreckt. Es war nicht Sigurds Sohn, der ihm seine Handinnenflächen zuwandte, es war Sigurd selbst. Der Tod konnte ihn nicht schrecken, weil er bereits tot war. Er war wiedergekehrt, um ihn zu quälen, und niemals würde er von ihm ablassen.
Ein heiserer Laut entrang sich Ulands Kehle.
Da löste sich der Junge aus seiner Erstarrung und floh.
Uland ließ das Schwert sinken. Entsetzen erfüllte ihn. Er rannte, stolperte über Baumwurzeln, Dornen ritzten seltsame Zeichen in sein Fleisch. Von ferne hörte er Stimmen. Sie suchten das Kind.
Es war eine mondlose Nacht. Erst unter dem Apfelbaum vor seinem Haus kam Uland langsam zu Atem. Er zog die zerrissenen Beinlinge aus und wischte sich das Blut ab. Als er die Gruppe mit dem Jungen zurückkommen hörte, ging er ins Haus.
Bald schlief das ganze Dorf. Nur er saß allein am Feuer in der Mitte des Wohnraums und dachte nach. Die kalte Jahreszeit hatte früher begonnen als sonst und die wenigen Kühe und Schafe standen bereits in ihren Ställen an den Längswänden des Hauses. Die Tiere schienen seine Rastlosigkeit zu spüren. Sie bewegten sich unruhig, scharrten mit den Hufen und sein Ross schnaubte und wieherte.
Ulands Gedanken ordneten sich langsam. Er erkannte, dass der Wiedergänger sein Ziel schon beinahe erreicht hatte. Sein kindlicher Widersacher würde sprechen. Sie würden ihm Fragen stellen. Seine Geheimnisse wären enthüllt. Das durfte nicht geschehen.

Lange starrte Uland in die Glut. Erst neulich war das Haus, das früher dem alten Neidhart gehört hatte, vollständig niedergebrannt. Dabei verlor sein ältester Sohn Helmbrecht Vieh, Gesinde und zwei seiner Töchter.
Uland griff nach einem Holzscheit, hielt ihn in die Glut und sah zu, wie er sich entzündete und eine immer größer werdende Flamme an ihm entlang leckte. Brandstiftung war ein schwerer Friedensbruch. Wenn ihn jemand dabei beobachtete, würde man ihn hinrichten. Was war furchtbarer: die Todesstrafe oder die endlose Rache eines Wiedergängers?
Geräuschlos öffnete er die Tür. Weder Mond noch Sterne standen am Himmel. Er trat hinaus. Sein Schatten wurde eins mit der Nacht.
Mit einem schwach glimmenden Holzscheit rannte er auf leisen Sohlen zu Feruns Haus hinüber. Wind kam auf. Funken sprühten, kleine Flammen züngelten den Scheit entlang. Ein plötzlicher Windstoß ergriff das Feuer und trug es mit sich fort. Wodan, der Sturmgeborene, war auf seiner Seite! Gebannt beobachtete Uland, wie er Funken gegen das Haus schleuderte und Feuer sich hungrig durch die fensterlose trockene Wand fraß. Schnell umloderten gierige Zungen die verschlossene Tür.
Da schrie jemand: „Es brennt! Es brennt!“
Erschrocken warf Uland das brennende Scheit von sich.
Aus den umliegenden Häusern liefen die Menschen zusammen.
Wie eine riesige Fackel loderte das Feuer bereits in den Nachthimmel. Die glühendheiße Luft war wie eine undurchdringliche Wand. Niemand konnte es mehr wagen sich zu nähern. Tiere muhten, grunzten und blökten in Todesangst. Jemand im Haus schrie.
Von innen wurde die Tür aufgestoßen. Doch es kam niemand heraus. Nur das Prasseln der Flammen und das Bersten von Balken war zu hören. Einen Augenblick bevor das Dach einstürzte, galoppierte das Pferd durch die Türöffnung.
Als es hell wurde, waren nur die schwelenden Grundpfosten übrig geblieben. Es fing an zu nieseln. Einer nach dem anderen löste sich aus der schweigenden Gruppe und ging zurück in sein Haus.
Auch Uland kehrte heim. Eine Magd brachte ihm seinen Frühstücksbrei. Lustlos rührte er mit dem Löffel darin herum.
Plötzlich hörte er draußen Rufe. „Sigurd“, schrie eine Frau, „er lebt! Ich habe ihn am Dorfrand gefunden. Auf dem Rücken des Pferdes hat er sich gerettet.“
Es konnte nicht sein, es war unmöglich. Er hatte selbst gesehen, dass niemand aus dem brennenden Haus entkommen war.
Ein paar Frauen rannten vorbei. Eine von ihnen trug etwas Schweres auf dem Rücken. Sie liefen in das Haus von Sigurds Bruder Roderich. Vorsichtig zogen sie das Kind aus. Der Junge hatte die Augen geschlossen und schien kaum bei Bewusstsein. Die Frauen holten Wasser und wuschen ihn vorsichtig. Er hatte Brandwunden im Gesicht und an Armen und Beinen. Liebevoll sprachen sie auf ihn ein, während Uland ihm nur eins wünschte: den Tod.
Schließlich öffnete das Kind die Augen und begann zu weinen. Und da wusste Uland, dass alles umsonst gewesen war.

Am Mittag desselben Tages begehrte Helmbrecht Einlass in sein Haus. Uland war gerade dabei, Schuhe aus festem Leder herzustellen.
„Es sind Vorwürfe gegen dich laut geworden.“
„Wessen werde ich beschuldigt?“ Uland legte sein Werkzeug nicht aus der Hand.
„Der Brandstiftung und des Mordes.“
„Wer beschuldigt mich solch schweren Friedensbruchs?“
„Du wurdest gesehen. Und Sigurd hat gesprochen.“
Uland arbeitete weiter und schwieg.
„Ich habe ein gebotenes Ding einberufen“, fuhr Helmbrecht fort. „Du hast dich einzufinden an der heiligen Opferstätte unter der Eiche, nachdem die Sonne zweimal aufgegangen ist.“
Uland nickte. Er hämmerte weiter, als Helmbrecht sich umdrehte und ging.
Er hatte viel zu tun in der kurzen Zeit, die ihm noch blieb. Seine Knechte und Mägde schickte er fort.
Nach Ablauf der zwei Sonnenfristen machte er sich schon früh auf den Weg zur heiligen Opferstätte. Er trug neues festes Schuhwerk, einen warmen Mantel und hatte seinen Gürtel umgebunden, an dem alles Gerät hing, das er täglich benötigte.
Der Weg durch den Wald war beschwerlich. Regen hatte die Pfade aufgeweicht und Uland zog einen schweren Holzkarren hinter sich her. Bevor er sich der heiligen Eiche näherte, verbarg er ihn unter dichtem Gebüsch.
Die Opferstätte war bereits eingehegt und das Ding gespannt. Männer saßen auf Steinen und sprachen leise miteinander. Hoch erhobenen Hauptes schritt Uland ihnen entgegen.
Als alle Freien des Dorfes eingetroffen waren, ergriff der Älteste das Wort. „Ist dies der rechte Ort für das Ding?“, fragte Helmbrecht. Die Männer nickten. „Und ist dies die rechte Zeit für ein Ding?“ Wieder nickten sie.
Das Ding war eröffnet. Helmbrecht rief: „So jemand Klage erheben will, trete er vor.“
Roderich erhob sich. „Ich habe die Munt über Sigurd, den Sohn meines Bruders Sigurd. Für ihn spreche ich.“
„Was hast du vorzubringen?“
„Ich beschuldige Uland, des Nachts das Haus in Brand gesteckt zu haben, in dem mein Mündel schlief.“
„Warum verdächtigst du Uland eines solchen Verbrechens?“
„Er war einer der Ersten am Ort des Unglücks und wurde gesehen, wie er sich eines brennenden Holzscheits entledigte.“
„Was hast du dazu zu sagen?“, wandte sich Helmbrecht an Uland.
„Das Haus, in dem Sigurd lebte, war alt. Das Reisiggeflecht zwischen den morschen Holzbalken war trocken. Es geschieht häufig, dass Flammen von der Feuerstelle auf Wände übergreifen.“
„Warst du zugegen?“
„So wie alle anderen.“
„Hast du ein brennendes Scheit fortgeworfen?“
„Das habe ich. Er stammte von dem Haus, das in Flammen stand.“
Die Männer berieten. Schließlich ergriff Helmbrecht das Wort. „Uland steht im Verdacht, jedoch kann ihm der Friedensbruch nicht nachgewiesen werden. Ich empfehle, ihn freizusprechen.“
Zustimmend schlugen die Männer ihre Waffen aneinander.
Roderich erhob sich erneut.
„Des weiteren beschuldige ich Uland, meinem Mündel nach dem Leben zu trachten. Am Tag des Brandes lauerte er ihm im Wald auf. Er hatte sein Schwert erhoben und wollte ihn töten, doch dank sei den Göttern konnte Sigurd entkommen.“
Uland fuhr dazwischen. „Wollt ihr etwa den Worten eines Kindes Glauben schenken?“
Helmbrecht nickte. „Sigurd ist ein verständiger Junge. Wir glauben ihm.“
„Es ist nicht rechtens, das Wort eines Kindes über das Wort eines Mannes zu stellen.“
„Du hast Sigurd nicht getötet“, erwiderte Helmbrecht, „und wirst dafür nicht verurteilt werden. Wir verlangen nur eine Erklärung, warum du den Tod dieses Jungen offenbar wünschst.“
Uland atmete schwer.
„Wie wir wissen“, fuhr Helmbrecht fort. „wurde sein Vater ermordet, und nachdem du seinem Sohn nach dem Leben trachtest, haben wir keinen Zweifel, dass du es warst, der ihn umgebracht hast.“
Uland wusste, dass es nur einen Weg gab, das nackte Leben zu retten.
„Ja, ich habe ihn getötet“, sagte er. „Er hat Swanhild in Schande gebracht.“
„Du hast also auch Swanhild das Leben genommen?“
„Sie war unkeusch.“
Diesmal brauchten die Männer nicht lange zu beraten.
„Es war recht und billig, Swanhild zu richten“, sagte Helmbrecht, „und weil du dich offen dazu bekennst, Sigurd getötet zu haben, stellt diese Tat nur einen leichten Friedensbruch dar. Du hast die Götter nicht beleidigt und sie müssen nicht durch deinen Tod versöhnt werden. Somit erklärt dich das Ding nur für friedlos. Du musst der Sippe des Opfers Genugtuung verschaffen. Drei Jahre hast du Zeit, den Frieden wieder herzustellen.“
Während die Männer dröhnend ihre Waffen und Schilde aneinander schlugen, flüchtete sich Uland in den Wald.

Im Dickicht versteckte er sich, bis es dunkel wurde. Unter Menschen konnte er nicht zurückkehren. Die Blutfehde, die zwischen ihm und Sigurds Sippe ausgebrochen war, machte dies unmöglich. Es war sein Blut, das fließen würde, das war ihm klar. Sigurd war ein angesehener Mann gewesen. Das hohe Blutgeld, das seine Sippe für ihn forderte, würde er nie und nimmer aufbringen können. Er war friedlos. Niemand konnte, niemand durfte ihm helfen.
Uland wartete, bis der Mond aufging. Mit seinem Karren machte er sich auf den Weg ins Moor. Als Waldgänger und Wolfsgenoss wollte er versuchen zu überleben, drei Jahre lang.
Jedoch kehrte er nie aus den Sümpfen zurück.

 

Hi Jakobe,

eine wirklich gute Geschichte über ein germanisches Volk zur Zeit des römischen Reiches.
Es gefällt mir sehr, wie du es schaffst, ein Einzelschicksal detailliert und lebendig zu erzählen und dabei viele Informationen des Alltages der damaligen Zeit einfließen zu lassen.
Auch dein Stil ist mMn passend. Es hört sich nicht nach einem gezwungen 'alt gemachten' Wortschatz und Satzbau an, sondern fließt ganz natürlich um die germanischen Namen.
Eine Geschichte im Historik-Forum wie ich sie mir wünsche. ;)

Zwei Fragen:
1. War es wirklich ein Grund als "friedlos" ausgestoßen zu werden, wenn ein Mann seine Ehre wieder herstellte, indem er den Liebhaber seiner Frau ermordete? Oder gilt das in diesem speziellen Fall, weil der "Ehebruch" vor der Ehe standfand?

2. Kebsweib: Damit wird eigentlich eine nicht rechtmäßig angetraute Frau, also eine Nebenfrau bezeichnet. Zum einen können sich eigentlich nur Adelige Nebenfrauen leisten und zum anderen waren das ja keine heimlichen Geliebten, sondern vielmehr ein Teil des Prestiges.
Ich verstehe, dass du damit sagen möchtest, dass er sie eben nicht vergewaltigt hat, sondern sie seine Geliebte war. Es hat so aber einen anderen Beigeschmack.
Hinzu kommt, dass Kebsweiber bei dem Mann fast immer höher angesehen waren als die eigene Ehefrau. Die Ehe wurde, v.a. im Adel aus dem der Begriff stammt, meist aus reinen gesellschaftlichen, politischen oder sonstigen Vorteilen geschlossen, nicht aus Liebe. Die Liebe holte sich der Mann bei seinen Kebsweiber, die er selbst und nach eigenem Geschmack aussuchte.
Deshalb ist das "Sie war mir viel mehr als ein Kebsweib." irgendwie irreführend. Bei manchen war es wohl so, dass sie sich Kebsweiber nahmen des puren Sexs willen, aber dafür konnten gerade die Adeligen sowieso nach Willkür über jede Frau tieferen Standes verfügen. Kebsweiber waren 'beständiger', eben Geliebte.
*bla* ;) Klär mich auf, wenn ich in einer falschen Epoche stecke und Kebsweib in anderer Zeit eben auch anderes bedeutete. Denn in deinem Zusammenhang ist sie nichts als ein Sexspielzeug.

Kitana

 

Liebe Kitana,
es freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefallen hat.
Ich will versuchen, deine Fragen zu beantworten, aber nur ohne Gewähr. Ich habe viel nachgelesen, als ich die Geschichte schrieb, aber die meisten Informationen wurden ohne genaue Zeit- und Ortsangaben gegeben, wahrscheinlich deshalb, weil es "die" Germanen eben nicht gab, sondern für jeden Stamm wieder was anderes gilt.
1. Zu "friedlos" habe ich Folgendes gefunden:
Wer sich offen zu einem Mord bekannte, wurde nicht zum Tode verurteilt. Seine Tat galt dann nur als leichter Friedensbruch. Aber zwischen dem Täter und der Sippe des Ermordeten brach die Blutrache aus. Den Frieden konnte der Täter nur wiederherstellen, wenn er an die Sippe seines Opfers Blutgeld zahlte. Tat er das nicht, wurde er friedlos.
2. Zum Ehebruch und Kebsen
Junge Frauen wurden bei "Unzucht" wie Ehefrauen bestraft, die Ehebruch begangen hatten, d. h. sie wurden verstoßen oder durften getötet werden. Für Männer dagegen war es ganz normal, Kebsen zu haben. Ich habe nichts darüber gefunden, ob es nur bei Adligen üblich war und welches Ansehen Kebsweiber hatten. Weil "Kebsen" ursprünglich die Bezeichnung für Mägde war und erst später zur Bezeichnung der Geliebten des Hausherrn wurden, nahm ich an, dass jeder einigermaßen wohlhabende Mann Kebsen haben konnte.
Es ist durchaus möglich, dass meine Geschichte Anachronismen enthält und dass Einzelheiten nicht stimmen, weil das Wissen über die Germanen insgesamt sehr lückenhaft ist. Aber ich habe mich damit getröstet, dass ich ja keinen Fachaufsatz schreiben wollte, sondern eine Geschichte. Und wenn es mir gelungen wäre, etwas Grundsätzliches - das Denken, die Weltsicht der Germanen - im Großen und Ganzen richtig rüberzubringen, dann würde ich mich freuen.
Viele Grüße!
jakobe

 

Zu 1.: Was damit gemeint ist, friedlos zu sein, ist mir klar. Ich dachte nur, dass es zu den Sittenregeln gehörte, dass ein Ehemann das Recht hat, nicht nur seine untreue Frau, sondern eben auch deren Liebhaber zu ermorden, um seine Ehre wieder herzustellen. Die Frage war, ob ein Mann friedlos werden konnte, wenn er den Liebhaber seiner Frau ermordet.
Zu 2.: Der Begriff Kebsweib ist mir auch klar. Ich fand ihn nur so wie du ihn in deiner Geschichte verpackt hast nicht passend. Denn Kebsweiber bedeuteten dem Mann sowieso meist mehr als Ehefrauen. Ehen wurden geschlossen - beschlossen, Kebsweiber holte sich der Mann aus Liebe und/oder Begehren. Deshalb fand ich "mehr als ein Kebsweib" irreführend. Das würde bedeuten, dass Kebsweiber 'unwürdig' sind und Swanhild ihm mehr bedeute als eben solch Unwürdige. Im Gegenteil konnten Kebsweiber jedoch großes Ansehen erlangen, eben wie Konkubinen.

Aber beides finde ich jetzt nicht großartig störend, nur interessant und wissenswert.
Deine Geschichte finde ich wirklich sehr lesenswert.

Kitana

 
Zuletzt bearbeitet:

Zu 1): Ob ein Ehemann das Recht hatte, den Liebhaber seiner Frau zu ermorden, weiß ich nicht. Ich nahm nur an, dass es nicht so war, weil Männer Geliebte haben durften. Aber, wie gesagt, darüber habe ich nichts gefunden.
2) Ich habe den "Kebsweibsatz" gestrichen, damit es keine Missverständnisse gibt. Vielen Dank für den Tipp!
Nochmals viele Grüße!
Jakobe

 

:) Schön, wenn sich Autoren so viele Gedanken machen.
Ja, erstens erscheint mir auch einleuchtend, ich dachte nur, du könntest auf Quellen zurückgreifen.
Zu 2.: Ich finde es so besser. Den Satz mit "Ich liebte sie und sie liebte mich." oder so ähnlich, könntest du ja trotzdem lassen.

Kann ich auf weitere Historik-Geschichten von dir hoffen?
Kitana

 

Liebe Kitana,
eher nicht, denn Geschichte ist nicht gerade mein Spezialgebiet, um es milde auszudrücken. Diese Geschichte hatte ich im Rahmen eines Monatsthemas bei einer Schreibgruppe geschrieben.
Jakobe

 

Hallo Jakobe,
ich habe deine Geschichte schon letzte Woche gelesen, bin nur noch nicht dazu gekommen, etwas dazu zu schreiben.
Dir ist hier wirklich eine sehr interessante, und vor allen Dingen gut recherchierte historische Geschichte gelungen. Ich war froh nach all den "erster und zweiter Weltkrieg-Geschichten" mal endlich wieder eine "richtige" historische Geschichte zu lesen. :)
Ich habe viel neues durch deine Geschichte gelernt und hatte doch nie das Gefühl, einen Schulbuchauszug zu lesen, es war von Anfang an so spannend geschrieben, dass ich unbedingt weiterlesen wollte.
Am Schluss war ich zunächst etwas geschockt, dass jemand, der mehrere Menschen getötet hat, einfach nur ausgestoßen wird. Es gab schon merkwürdige Regeln damals im Mittelalter.
Schade, dass du nur einen kurzen Abstecher in die Historik unternommen hast. Ich hätte gerne noch mehr von dir darüber gelesen.
Aber ich weiß selbst, dass mit dem Schreiben von historischen Geschichten eine Menge Arbeit verbunden ist, wenn man alles gut nachrecherchieren will.

LG
Blanca:)

 

Liebe Bianca,
vielen Dank für deine positive Rückmeldung. Es hat mir nachher großen Spaß gemacht, die Geschichte zu schreiben (zuerst wollte ich nicht), aber es war wirklich sehr arbeitsintensiv und, wie ich schon oben schrieb, ich kann beim besten Willen nicht für jedes Detail die Hand ins Feuer legen. Aber ich freu mich wirklich, dass die Geschichte bei euch gut angekommen ist!
Viele Grüße!
Jakobe

 

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