Was ist neu

Copywrite Fuks

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13.02.2008
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Fuks

Die Fensterscheibe des Reisebusses brummt mich ruhig und taub. Dazu blitzen mir die Scheinwerfer und bunten Lichterketten der Lastwagen aus der Schwärze entgegen. Gerne würde ich die Augen schließen, doch dann leuchtet es in unregelmäßigen Abständen durch die Lider und ich bekomme einen epileptischen Anfall. Wenn ich nur lange genug warte, wird es mir schließlich den Kopf aus dem Gewinde rütteln. Dann wird er auf dem braungefleckten Teppich im Gang herumkullern, bis er schließlich ganz hinten vor den Toiletten zu liegen kommt, die struppigen Synthetikfasern in der Nase. Ein paar Butterkekskrümel und Schmutzflusen bleiben an den geöffneten Lippen hängen.
Mein Trekkingrucksack thront neben mir, ein wahrer Sitzriese. Wenn ich den Arm um ihn lege, beruhigt er mich.

Ich wollte mit Jan nach Schweden, in das Michelhaus meiner Eltern. Um ihm dort tagsüber beim Holzhacken zuzusehen und abends bis zur Tiefenentspannung mit ihm ins Feuer zu glotzen. Um mich bei Tagesanbruch gegen seine Morgenlatte zu drängen und ihn aus dem Halbschlaf zu vögeln. Oder umgekehrt. Aber als ich kam, um ihn abzuholen, hatte er nicht gepackt. Er öffnete mir die Tür, schlurfte wortlos ins Wohnzimmer, wo er sich aufs Sofa setzte und sein Gesicht mit beiden Händen festhielt, als könne es jeden Moment abfallen. Ich dachte, jemand sei gestorben. Dabei wollte er nur nicht mehr mit mir nach Schweden fahren. Und auch sonst nirgendwohin. Etwas in ihm hatte beschlossen, dass er mich nicht mehr wollte.
Zwei Wochen später beschloss Lina, dass ich nicht weiter in meiner Wohnung hocken und in meinen Tee heulen durfte. Ich sollte was Neues erleben. Auf jeden Fall musste es etwas sein, das mich sinnlich überwältigen und von meinen Jangedanken ablenken würde.
Als ich aus dem Flughafengebäude in Delhi trat, als die Taxifahrer mich anbrüllten und versuchten, mir meinen Rucksack aus der Hand zu reißen, als sich die feuchte Hitze wie ein Wischmopp um meine Schultern drapierte, schrieb ich Lina eine SMS: „Die Luft fasst mich an. Ich habe Haarschmerzen“, aber bei ihr war es Nacht. Nachdem ich einen halben Tag durch Delhi gelaufen war, seine Abgase, exotischen Gerüche, Hindi, Urdu, Hupenlärm und grelle Farben in mich aufgesogen und in mir hatte wirken lassen, wünschte ich mir eine Sonnenbrille, Ohrenstöpsel, eine Gasmaske und einen Neoprenanzug. Ich konnte meine Gedanken nicht hören. Ich konnte Jan nicht sehen.

Als ich aussteige, juckt mein Kopf bis in den Nacken. Das Beste daran ist, dass ich meine Wange nicht mehr spüre. Der Kies auf dem Weg vom Parkplatz zum Hoteleingang knirscht laut und tut mir durch die Wanderschuhe hindurch an den Fußsohlen weh.
Wir sind spät angekommen und das Buffet türmt sich bereits auf fünf Metern Tisch in der Mitte des baumbewachsenen Innenhofes. Sogar einen Grill gibt es, an dem weißgewandete Köche den Gästen lächelnd Lammstücke vom Spieß streifen. Ram, unser Reiseleiter und Busfahrer, bietet kulinarische Führungen an, benennt und beschreibt jedes einzelne Gericht. Auch ich lasse mich von ihm an den vielen Näpfchen vorbeileiten. Als sich der Duft von tausend Gewürzen in meine Nasenlöcher zwängt, beginnt mein Magen zu boxen. Da frage ich Ram nach der internationalen Speisekarte. Ich bestelle ein Gericht, das „macroni white sauce“ heißt. Nicht auszudenken, wenn ich noch einmal auf eine Kardamomkapsel beißen würde. Mit meinem farb- und geschmacklosen Mahl setzte ich mich zu der Reisegruppe auf ein Kissenlager. Die Gruppe ist klein. Sie besteht aus zwei befreundeten norwegischen Rentnerpärchen – allesamt Trolle mit liebenswert runzligen Gesichtchen und Rübennasen – und einem stillen japanischen Jüngling mit seiner schönen Mutter. Sie sitzt sehr aufrecht und ist grau wie ein Stein. Ihre Haut hat einen elegant quarzigen Schimmer.
Die gutmütigen Norweger besetzen ihre Teller mit einer Vielzahl hübscher Häufchen, die in zweiten und dritten Runden durch andere Häufchen ersetzt werden. Am Ende bleiben auf jedem Teller ein bis zwei Häufchenenttäuschungen zurück.
Die Japaner essen bloß Hühnchen. Der Jüngling bestreicht es für seine Mutter dick mit Chilipaste. Als er an mir vorbeigeht, um seiner Mutter mehr Fleisch zu holen, zieht er scharf die Luft ein, fast wie ein tiefer Seufzer.

Bald nach dem Essen ziehen Norweger und Japaner sich zurück. Morgen müssen wir früh los, sagt Ram. Damit das Licht auch richtig ist. Das ist ihm ganz wichtig. Ich bestelle ein Glas Wodka, und dann noch eins und sehe den Angestellten dabei zu, wie sie die Reste aus den vielen Näpfchen in einen großen Trog zusammenkratzen. Bei der dritten Wodkabestellung zögert der junge Kellner etwas und bringt das Glas nur halbvoll zurück. Dabei ist das gar nicht nötig. Der Alkohol wirkt nicht. Die Umrisse des Blätterdaches zeichnen sich noch immer scharf vom Himmel ab, wo die Sterne noch immer so hell strahlen, dass ich sie nicht ansehen kann.
Am anderen Ende des Gartens erhebt sich ein Schatten und kommt zu mir herüber. Es ist Ram. Er setzt sich in respektvollem Abstand auf das Kissenlager. Ich rieche nassen Hund und etwas Schärferes, wie frische Metallspäne. „Eine schöne Nacht“, sagt er und legt für einen Moment den Kopf in den Nacken. Ich folge seinem Blick nicht. „Aber du solltest jetzt ins Bett gehen.“
„Ich glaube nicht, dass ich schlafen kann. Es ist zu hell. Die Grashüpfer sind so laut“, antworte ich. Dann fangen meine Augen wieder an zu brennen und ich erzähle ihm von Jan. Davon, dass ihm seine Liebe zu mir einfach abhanden kam und ich meine Liebe zu ihm nun nirgendwo mehr loswerden kann. Dass ich so randvoll mit ihr bin, dass es mich manchmal würgt und ich sie in einem großen Schwall Herzensblut auf den Reisebusteppich kotzen will.
„Es braucht nur Zeit. Du bist so jung. Du wirst wieder lieben“, sagt Ram mit weicher Stimme.
„Nein. Mein Inneres ist tot. Mein Herz ist Stein“, antworte ich trotzig und hoffe, die behauptete Tot- und Steinheit möge sich recht bald einstellen.
„Geh jetzt ins Bett“, wiederholt Ram und ich überlege einen Moment, ob ich den kleinen fünfzigjährigen Reiseleiter mit in mein Zimmer nehmen kann, ob ich seinen schweren Geruch, eine Berührung meiner dünnen Haut durch seine rauen Hände ertragen könnte. Wie es wäre, wenn ich ihn seinen viskosen Altmännerspeichel auf meinen Brüsten und um meinen Nabel verteilen ließe – er würde dort als schimmernde Spur auftrocknen, als sei eine Nacktschnecke über mich hinweggekrochen.
Als ich den Baumgarten verlasse, bemerke ich, dass der japanische Jüngling die ganze Zeit über ganz nah war. Er sitzt in einem großen Korbsessel, der ihn wie eine Baumhöhle verborgen hat. Seine Augen sind geschlossen, doch sein Körper ist gespannt.

Am frühen Morgen finde ich heraus, dass Agra die Vorhölle ist. Nur dass es nicht das Vor zur Hölle, sondern zum Paradies ist, dem Taj Mahal. Aus Denkmalschutzgründen können wir nicht direkt am Eingang parken und müssen deshalb ein Stückchen durch die Stadt laufen. Während es etwas anstrengend war, auf Delhis Straßen zu gehen und Rikscha-, Restaurant- und Souvenirangebote abzuwehren, ist Agra ein regelrechter Spießrutenlauf. Es sind dieselben Angebote, die uns angetragen werden, aber die Stadt ist dreckiger, die Menschen aggressiver. Selbst die Straßenhunde sind bösartiger. Die Reisegruppe bleibt eng zusammen in der Mitte der Straße, wie eine ängstliche Schafsherde. Nur die Japaner streichen unbehelligt an den Hauswänden entlang.
Wenn ich nicht mit der Gruppe unterwegs wäre, hätte ich vielleicht eine Chance, vergewaltigt, in kleine Stücke zerhackt und den Straßenhunden zum Fraß vorgeworfen zu werden. Nur der linke kleine Zeh, den Jan Mausezeh nennt, weil er noch so viel kleiner als der rechte kleine Zeh ist, wird für den DNS-Abgleich mit meiner Zahnbürste übrigbleiben. Später wird Jan mit spitzem Gesicht an meinem Grab stehen, zu trocken um noch zu weinen, wird sich Vorwürfe machen und vergessen, dass er seine Liebe zu mir kurzzeitig verlegt hatte. Er wird eine Rose hinabwerfen, zu meiner Mausezehe, die dort in einer Streichholzschachtel ruht, die er mit Glitzerpapier beklebt hat. „Ich Arsch“, wird er denken und nie wieder glücklich werden.

Als wir vor dem Taj Mahal stehen, erscheint es mir so vertraut wie das Schrebergartenhäuschen meiner Oma. Ram erklärt uns ein paar Sachen: Es ist ein Mausoleum, das Shah Jahan im 17. Jahrhundert seiner Hauptfrau Mumtaz Mahal erbauen ließ, weil er sie so verdammt doll und unsterblich liebte. Damit es weiß bleibt, darf es in der Region keine Industrie mehr geben, was vielleicht auch den Grimm der Anwohner und Hunde erklärt.
Mit besockten Füßen fitsche ich ein paar Runden auf dem noch kühlen Marmorboden herum, während die Norweger lange versuchen, Fotos zu schießen, auf denen das Hauptgebäude sich exakt im Wassergraben spiegelt. Genauso wie auf den Postkarten, die man beim Eingang kaufen kann. Dann bitten sie mich, ein paar Trickfotos von ihnen zu machen. Das sind Fotos, auf denen es so aussieht, als ob sie die Spitze der Kuppel zwischen den Fingern hielten. Sie fragen mich hundertmal, ob es denn jetzt mit diesem Ausschnitt auch ganz genau hinhaue, ob es täuschend echt aussehe. „Ja, ja, die perfekte Illusion“, sage ich und schneide ihnen die Trollköpfe ab. Als sie dann auf gestrickten Socken in Richtung Grab davonschlurfen und sich dabei ganz lieb an den Händen halten, schäme ich mich dafür.
Die schöne Japanerin sitzt mit ihrem Sohn auf einer Marmorbank, den Blick starr auf ihre wohlgesetzten Füße gerichtet. Der Jüngling umfasst ihre gefalteten Hände mit der Linken, reibt sie als seien sie kalt, was mir trotz der Morgenkühle kaum denkbar erscheint. Den rechten Arm hat er um ihren geraden Rücken gelegt und fährt mit den Fingern durch ihr langes Haar. Seine Berührungen erreichen sie nicht. Das Taj Mahal steht hinter ihnen. Genau das richtige Licht, die Spiegelung im Wassergraben perfekt. Ich werde von einer ruhigen Traurigkeit gepackt, ganz anders als der heiße Schmerz um Jan, der mein Inneres wie ein Pflug durchwühlt. Sie kühlt schwer wie ein nasses Handtuch auf sonnenverbrannter Haut.
Mir fällt nichts Besseres ein, als zu fragen: „Soll ich ein Foto von Ihnen machen?“
Da hebt die alte Frau den Kopf und ihre blicklosen Augen, ihr ruhiges Lächeln lassen mich davonstolpern. Ich spüre ein Brennen im Gesicht, und ein Brennen am Arm, wo die Finger des Jünglings mich kurz berührten. Plötzlich steht Ram neben mir und zwingt mich mit strengen Stirnrunzeln einen Schluck Wasser zu trinken. „Du bleibst besser in meiner Nähe“, sagt er.

Die Reise geht weiter: Eine goldene Stadt folgt auf eine blaue Stadt folgt auf eine rosarote Stadt folgt auf einen schneeweißen schwimmenden Märchenpalast. Mittlerweile ist es mir gelungen, eine Sonnenbrille zu kaufen – Ram hat dafür extra am Straßenrand angehalten. Ich esse macroni white sauce oder mash patato. In der rosaroten Stadt, die die buntesten aller Straßenläden und wuseligsten aller Gassen hat, bleiben wir zwei Nächte, weil die Norweger nicht mehr von den Toiletten herunterkommen. Ram bietet mir und den Japanern eine Extratour zum Palast der Winde an, der mit einer ausgeklügelten Luftzirkulation so konstruiert ist, dass man aus seinen Fenstern alles auf den Straßen darunter sehen, hören und riechen kann. Ich nutze den freien Tag lieber, um auf dem Bett zu liegen und mir ein weißes Laken über den Kopf zu ziehen. Ich weiß, dass ich am nächsten Tag wieder feinste Intarsien und magisch verwinkelte Prachtbauten bestaunen muss.

Die letzte Station, bevor wir wieder in den Smog um Delhi eintauchen werden, ist ein Tempel inmitten dichtbewaldeter Berge. Als wir auf die schmutzigweiße Anlage mit ihren Zuckerhuttürmchen zugehen, fragt Ram „schön?“, wie er mich immer fragt, wenn wir vor einer weiteren überwältigenden Sehenswürdigkeit stehen. Und wie immer bestätige ich „wunderschön“, mit einem tapferen kleinen Lächeln. Ich weiß, dass seine Familie tausende Kilometer entfernt in einem Dorf im Süden hockt, während er sich täglich bemüht, mich für die Schönheit seines Landes zu faszinieren. Damit ich ihm vor dem Abflug meine letzten Rupien gebe, die ich ohnehin nicht mitnehmen darf, und er sie vielleicht etwas früher besuchen kann.
Die Gläubigen haben jede der eintausendvierhundertvierundvierzig Säulen des Tempels unterschiedlich gestaltet. Wie soll man dem als Betrachter gerecht werden? Pflichtschuldig würdige ich jedes Monsterköpfchen und Ornament, graphisch wie vegetativ, denke an ihre Schöpfer und gebe mir Mühe, auch die Gesamtwirkung der lichtdurchfaserten Säulenhalle und ihrer Kuppel wahrzunehmen, bis mir schwindelig wird. Ich sehe die schöne Japanerin in der Mitte der Halle stehen, gerade und unbeweglich wie eine eintausendvierhundertfünfundvierzigste Säule. Sonnenlicht bricht sich auf ihrer Quarzhaut und lässt Schatten auf den umliegenden Sandsteinreliefs tanzen. Als der fremde Rhythmus mein Herz ins Stolpern bringt, eile ich auf den strahlenden Ausgang zu. Vollkommen blind trete ich in das gleißende Sonnenlicht hinaus. Eine kühle Hand ergreift die meine und führt mich in eine schattige Nische. Als meine Augen sich den Lichtverhältnissen angepasst haben, steht der junge Japaner vor mir. Jetzt bemerke ich, dass er kein Jüngling mehr ist. Er ist ein junger Mann von knabenhafter Statur, mit einer feinen Haut und Augen wie schwarze Kiesel. Als er lächelt, sehe ich, wie schön er ist.
„Komm, lass uns zu dem anderen Tempel gehen“, sagt er und läuft ein paar Schritte voraus auf ein kleineres Gebäude zu, das bei der Anfahrt von dem großen Tempel verdeckt wurde. Mir fällt auf, dass ich weder ihn, noch seine Mutter jemals sprechen gehört habe. Sie haben mir und den Norwegern immer nur höflich zugenickt. Als er merkt, dass ich noch immer in der Nische stehe, wendet er den Kopf über die Schulter und ruft mir zu: „Ich heiße Kaito“. Da wachen meine Beine auf und ich laufe ihm hinterher.
Viele Tänzerinnen schmücken die Außenhaut des runden Bauwerks. Kaito ergreift abermals meine Hand und zieht mich in den dämmrige Innenraum. Dort stehen wir dann vor zweihundert kugelrunden Apfelbrüsten und hundert erigierten Penissen. Die Gesichter der Liebenden sind trotz akrobatischer Verrenkungen völlig entspannt. Nicht entspannt eigentlich, vielmehr gleichmütig. Der Akt ist ein Ritual. Auf einem Relief wird ein Paar von einem Tier mit ebenso gelassener Miene beobachtet, ein Hund vielleicht.
„Das ist ein Fuchs“, sagt Kaito und drückt meine Hand fester. Bei dieser Berührung ziehen sich meine Beckenbodenmuskeln zusammen und der Steinboden unter meinen Füßen fühlt sich an, als sei er nicht mehr als straff gespannte Ballonseide.
„Ich wusste nicht, dass es in Indien Füchse gibt.“
„Es gibt überall Füchse. Sie reisen viel.“ Seine Stimme ist deutlich rauer geworden, als hätte er nach so langem Schweigen schon zu viel gesprochen. Und auch diese Veränderung spüre ich als Vibration in meinem Unterleib.
„Was hältst du von Füchsen?“
Ich überlege kurz. „Ich weiß nur, dass man keine Brombeeren in Fuchshöhe essen darf. Sonst bekommt man Fuchsbandwurm und der zerfrisst einem Herz und Hirn.“
Kaito lacht kehlig. „Nein, ich meine, was hältst Du von ihrem Wesen?“
„Als kleines Mädchen war ich in den Disney Robin Hood verliebt.“
Kaitos Augen sind wie Löcher, seine Hand ist noch immer eng um meine geschlossen. „Es wird gesagt, dass Füchse Menschen bestehlen. Aber man kann es auch anders sehen. Sie befreien die Menschen von einer Bürde.“
Er steht jetzt so nah, dass ich seinen heißen Atem auf meiner Wange spüre. In diesem Moment erscheint ein Schatten im Eingang. Es ist Ram. Er will uns sagen, dass der Bus gleich losfährt.

Beim Abendessen denke ich wieder an Jan, an seine langen blonden Wimpern, die kitzeln, wenn er meinen Nacken küsst, und daran, wie er in der Küche mit mir tanzt, wenn ein kitschiges Lied im Radio gespielt wird, auch wenn die Fischstäbchen dabei in der Pfanne verbrennen. Vor allem denke ich an sein Schweigen. Nachdem er seine Liste an praktisch-logistischen und weltanschaulichen Trennungsgründen aufgezählt hatte, sagte ich: „Aber da können wir doch dran arbeiten. Da ist Schweden doch gerade richtig. Zwei Wochen nur wir zwei und das Feuer, da können wir reden.“ Und als er nur den Kopf schüttelte, fügte ich noch ernsthaft hinzu: „Das ist doch alles kein Problem, so lange wir uns lieben.“ Aber da schwieg er nur noch fester. Ich wollte ihm eigentlich das scheußliche Potpourri-Glasschälchen seiner Mutter auf dem Kopf zertrümmern, damit er zur Besinnung käme oder es ihm wenigsten ordentlich und schmerzhaft das Hirn erschüttern würde. Stattdessen nahm ich sein Gesicht in beide Hände wie ich es nie zuvor getan hatte, zwang seinen widerspenstigen Blick in meine Augen und sagte: „Das ist doch kein Problem. Ich habe genug Liebe für uns beide.“ Da erblickte ich mein eigenes Spiegelbild in seinen Augen und flüchtete aus der Wohnung. Noch jetzt muss ich die Augen schließen und den Kopf schütteln, wenn ich daran denke. Als ich aufsehe, begegnet mein Blick Kaitos. Er lächelt mit blitzenden Zähnen und hebt kaum merklich die Hand zum Gruß.

Es ist unsere letzte Nacht als Gruppe, bevor wir uns in Delhi wieder trennen werden. Die Norweger lassen sich meine Adresse geben, damit sie ein paar Fotos schicken können. Ram setzt sich zum ersten Mal zu uns an den Tisch und bestellt Tee und klebrige Süßspeisen für alle. Als die Norweger zu Bett gehen, beugt er sich zu mir hinüber. „Du gehst besser früh schlafen. Ich will dich morgen gesund und munter am Flughafen abliefern.“ Ich nicke, dabei fällt es mir nicht leicht, den Raum unter Kaitos Blicken zu verlassen. Als ich in meinem Zimmer bin, überkommt mich jedoch schnell eine angenehme Müdigkeit. Ich nehme ein Bad und sortiere den Inhalt meines Rucksacks um. Als ich die Verschlusskordel zusammenziehe und den Plastikknipser herunterstreife, klopft es an der Tür. Es ist Kaito, mit glitzernden schwarzen Kieselaugen und ungeordnetem Haar. Sein Blick gleitet an meinem Körper hinab und hinterlässt eine heiße Spur. Unter dem Hotelbademantel bin ich nackt.
„Kann ich reinkommen?“ Mit ihm weht ein Geruch wie feuchtes Holz und Pilze ins Zimmer. Die Tür fällt klickend ins Schloss.
„Es ist spät. Schläft deine Mutter schon?“, frage ich, als er zur Bar schnürt, und sich einen Whiskey eingießt.
Er hebt den Kopf. Das Mondlicht sitzt auf seinem hohen Wangenknochen. „Wer? Ach so, ja, sie schläft jetzt. Ich bin gekommen, um dich zu sehen. Du interessierst mich.“
Ich kann gar nicht verhindern, dass meine Wangen rot aufblühen, ärgere mich ein wenig über seine Macht. Er tritt auf mich zu und streift mit zwei kühlen Fingern meinen Unterarm hinauf, gegen den Strich.
„Bitte nicht“, sage ich und rolle den Frotteeärmel wieder herunter, da meine Härchen noch immer hypersensible Meßfühler sind.
„Ich kann dir helfen“, sagt er und küsst mich tief, ohne das Glas aus der Hand zu stellen. Ein Brennen bleibt in meinem Mund zurück, mit einer Spur von Rauch. Ich weiß, dass sie in Japan den besten Whiskey der Welt herstellen. Langsam wird das Brennen zu einem Prickeln, weicht schließlich einer Taubheit – als würde ein eingeschlafenes Bein schmerzhaft ins Leben zurückkehren – nur umgekehrt.
Kaito zieht sich aus. Und obwohl er Schnürschuhe, Jeans und ein Hemd mit Knöpfen trägt, geht das bei ihm so fließend, als müsse er sich nur kurz schütteln, damit er nackt vor mir steht. Wie Angst durchrieselt seine Schönheit meinen Körper. Zwischen meinen Schenkeln wird sie zu Nässe. Er setzt sich auf die Bettkante. Dort im Schatten erscheint die weiße Haut seiner haarlosen Brust nebelgrau, wie ein mit Wasserdampf beschlagener Spiegel.
„Komm her“, sagt er und streckt lächelnd eine Hand aus, „es geht ganz einfach.“
Ich lasse den Bademantel zu Boden fallen und trete zu ihm hinüber. Sein Penis ist hart und weiß wie Marmor, dabei ist die Haut so zart, dass ich meine Wange daran legen möchte. Doch Kaito hilft mir sogleich auf seinen Schoß und gleitet glatt und kühl wie eine Schwertklinge in mich hinein. Sachte wiegt er mich vor und zurück, küsst meinen Hals und meine Schultern mit seinen nadeligen Lippen. Sein langsamer Herzschlag dröhnt in meinem Kopf. Dann dreht er mich geschickt herum, lässt mich auf die Matratze gleiten, ist jetzt über mir, damit er seinen Marmorpenis tiefer und fester in mich hineinstoßen kann. Sein Geruch wird schärfer, durchdringend raubtierartig, und ich höre mich selbst wie eine Fremde, die man vom benachbarten Hotelzimmer aus beneidet. Seine Stöße werden heftiger, werden zum Ziepen, zum Ziehen.
„Kaito, du tust mir weh“, rufe ich und versuche seine Bewegungen zu stoppen. Doch er achtet nicht mehr auf mich und knurrt leise. Ich spüre ein Zerren, als habe er sich in meinen Eingeweiden verhakt. Den Kopf gesenkt, beginnt er, mich bei jeder Zugbewegung von sich wegzustemmen, bevor wir wie durch ein Gummiband verbunden wieder ineinander schnellen. Ich greife in seine Haare, zwinge ihn, mich anzublicken. Es ist Jan. Er sieht mich mit nassen Wimpern an und er lächelt wieder, wie er mich anlächeln soll. Tränen schießen mir in die Augen. In diesem Moment spüre ich, wie etwas in mir reißt, sich ablöst und herausgerissen wird. Es tost und pfeift in meinen Ohren, vielleicht höre ich jemanden schreien wie ein Tier. Dann ist alles still, als hätte man bei einem Sturm ein offengebliebenes Fenster zugeschlagen.
Kaito steigt von mir herunter und gibt mir einen Kuss auf die Stirn, den ich kaum spüre. Dann nimmt er ein Handtuch vom Nachttisch und bettet etwas hinein, das er zwischen meinen Beinen vom Laken aufliest. Mehrere Gewebefetzen, die aussehen wie rohe Leber. Er trägt sie in die gegenüberliegende Zimmerecke. Dort sitzt, fast gänzlich in Schatten gehüllt, seine Mutter auf einem Stuhl. Sie lächelt gleichmütig. Kaito präsentiert ihr die Gewebefetzen auf dem Frotteekissen wie eine Opfergabe: "Kore wa tsumaranai koto desuga, dozo." Nackt sitzt er zu ihren Füßen, während sie die glibbrigen Stücke eins nach dem anderen mit ihren grauen Fingern ergreift und in sich hineinschlürft, ohne zu kauen. Kaito ergreift ihre freie Hand und küsst, nein, leckt sie, reibt sein Gesicht und seinen Kopf daran. Sie sieht ihn. Rosige Flecken erblühen auf ihren Wangen, leuchten kurz auf und beginnen schon wieder zu verglühen.

Zum ersten Mal seit Wochen erwache ich ohne ein janschweres Gewicht auf der Brust. Als ich die dünne Decke zurückschlage, erwarte ich meinen Unterleib zerfetzt zu sehen, zerfetzt zu spüren. Doch das weiße Laken unter mir ist makellos und ich fühle nichts. Meine Ohren sind wattig. Diesiges Licht fällt durch die Fenster. Es scheint, als sei die Smogglocke Delhis heraufgestiegen, um mich abzuholen. Als ich mit dem Rucksack die Treppe hinabsteige, fällt mir auf, dass dieses Hotel nicht schon morgens von Frittierfett- und Gewürzduft erfüllt ist. Ich bin nicht überrascht, am Bus nur die Norweger zu treffen, und Ram, der mir abschiedstraurig entgegenlächelt.

 

Hallo nochmal.

Also mit mehr action am Anfang kann ich mir im Moment nicht so richtig vorstellen. Ich weiss auch nicht, ob ich das tatsaechlich gut faende.

Kann durchaus sein, dass mir da Überlegungen mitreinspielen, die ich gerade bezüglich meines eignen Schreibstils habe. Bin also doppelt vorbelastet. Musst also mal sehen, was die anderen sagen.

Gruß,
Kew

 

so lieber feirefix, hier kommt der versuch einer ausführlichen kritik von mir, zu einer deiner aktuellsten geschichten. für mich selbst zum üben. für dich um eine weitere meinung zu hören. also - du hast wirklich eine besondere gabe bilder zu erschaffen, die einen gewissen tiefgang haben. was mich sehr hin und her schmeißt ist die extreme kluft zwischen romantischen und grausamen bildern. [Die Fensterscheibe des Reisebusses brummt mich ruhig und taub. Dazu blitzen mir die Scheinwerfer und bunten Lichterketten der Lastwagen aus der Schwärze entgegen./Wenn ich nur lange genug warte, wird es mir schließlich den Kopf aus dem Gewinde rütteln. Eine Weile wird er dann auf dem braungefleckten Teppich im Gang herumkullern,][Um ihm dort tagsüber beim Holzhacken zuzusehen und abends bis zur Tiefenentspannung mit ihm ins Feuer zu glotzen. Um mich bei Tagesanbruch gegen seine Morgenlatte zu drängen und ihn aus dem Halbschlaf zu vögeln. ][ich meine Liebe zu ihm nun nirgendwo mehr loswerden kann. Dass ich so randvoll mit ihr bin, dass es mich manchmal würgt und ich sie in einem großen Schwall Herzensblut auf den Reisebusteppich erbrechen will.
]zack zack. geht es hin und her. gerade lehnt man sich zurück und genießt, da wirds auch schon blutig. das hält die geschichte einerseits lebendig, auf der anderen seite ist es erlösung wie sie endlich mit dem aufwachen, aus dem albtraum hinein in den eigentlichen albtraum ein ende nimmt.
es ist ein schweres thema und die schwere kommt deutlich rüber. die verwirrtheit, das auf und ab, der verzweifelte versuch es sich schön zu machen und das scheitern dabei, die flucht die nix bringt, es ist alles da. zwischen liebevoll und lieblos, romantik und zerstörung derselben.
es ist keine genuss geschichte, weil schon das thema es nicht zulässt. es ist ein bisschen qual mit einer gesunden nuance zynismus. eine gute bearbeitung einer situation, die wohl jeder kennt oder mal kennen lernen sollte im leben. danke.

 

so lieber feirefix
:D Okay, ich gebe mich geschlagen. Das scheint nun mein neuer Name zu sein - wie aus einem Asterix-Comic oder der Maggie-Versuchsküche

es ist ein schweres thema und die schwere kommt deutlich rüber. die verwirrtheit, das auf und ab, der verzweifelte versuch es sich schön zu machen und das scheitern dabei, die flucht die nix bringt, es ist alles da. zwischen liebevoll und lieblos, romantik und zerstörung derselben.
Das freut mich, dass Dir der Wechsel gefallen konnte, auch dass Du es als treffende Illustration des Seelenzustand gesehen hast und nicht nur als selbstgenügsamen Bildereigen. Es stimmt schon, ich mag solche Kontraste, das Häßliche im Schönen und umgekehrt. Für manche bestimmt auch zu wild und bunt, aber ich geb mir Mühe, das nicht um seiner selbst Willen zu betreiben.

Vielen Dank für Deinen Kommentar und dafür, dass Du nicht zu tief in der Geschichtenliste gewühlt hast.

lg,
fix

 

Hallo Aspharisch,

Toller Einfall, hat bei mir aber das Bild eines zu Boden sinkenden Menschen mit Schaum vor dem Mund hervorgerufen, was es mir schwer machte dem Absatz zu folgen, weil ich das Bild wieder loswerden musste.

Das tut mir leid.

Danke fuer Deinen Kommentar.

lg,
fiz

 

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