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- 04.07.2004
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Geburtstag kurz vor neun
Sie parkte vor dem renovierten Altbau und stieg aus. Auf ihrer Straßenseite schien die Sonne, und die Hitze trieb ihr sofort den Schweiß auf die Stirn. Die andere Straßenseite spendete Schatten, der ihren Blick wie magisch anzog. Aber es war nicht nur der Schatten, denn auf der anderen Seite entdeckte sie die schmerzlich bekannte Gestalt, die sie fast jeden Morgen sah- kurz vor neun Uhr. Seit mehr als einem Jahr. Er trug einen beigen Anzug, und sie musste lächeln und bedauerte ihn fast- so wie sich selbst und jeden anderen, der an einem Tag wie diesen einen Anzug tragen musste. Sie wünschte sich sehnlichst, die Straßenseite zu wechseln, dem Schatten und ihm näher sein, und ihre Füße schienen sie selbstständig über die Straße zu tragen und sie zu zwingen, seiner unsichtbaren Spur zu folgen. Er ging auf eine Bäckerei zu, und sie lief ebenfalls die zwei Stufen herauf und betrat den kleinen Laden, in dem eine Klimaanlage arbeitete. Sie stelle sich hinter ihn und verharrte fast atemlos, als hätte sie Angst, dass dieser Augenblick verfliegen würde wenn sie sich bewegt. Er sagte dem Bäcker etwas, aber sie hörte es nicht, denn seine Stimme schien sie hypnotisiert zu haben. Das Rascheln der Papiertüte versetzte sie in die Realität zurück- er nahm diese an sich und drehte sich um; und sie blickte in sein Gesicht, in seine eisblauen Augen, und bemerkte eine Narbe rechts oben auf der Stirn. Er war so viel größer als sie, dass sie den Bäcker hinter ihm nicht sehen konnte, und sie fühlte sich durch seine Gestalt fast verunsichert. „Guten Morgen“, sagte er, sie nickte nur und wunderte sich selbst darüber, denn es geschah nicht oft, dass ihr die Sprache verging. Er lächelte schwach, ging an ihr vorbei und verließ die Bäckerei, und sie spürte eine bodenlose Leere, obwohl sie genau wusste, dass sie ihn morgen wiedersehen würde, auf seiner Straßenseite kurz vor neun Uhr. So wie seit mehr als einem Jahr... „Ein Sesambrötchen, bitte“, sagte sie, obwohl sie niemals Brötchen aß, nicht einmal zum Frühstück, und das erneute Papierrascheln, dasselbe wie eben, erinnerte sie daran, dass er gerade noch da war und verschwand, so wie jeden Morgen kurz vor neun... So wie sie beide jeden Morgen verschwanden, jeder in seine eigene Richtung. Sie auf der einen Straßenseite, und er auf der anderen. Jeden Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag. Morgen, am Freitag, würde es genauso sein. So wie vor einem Jahr. Und dann fiel ihr ein, wie ein Blitzschlag, dass er heute Geburtstag hatte: Vor einem Jahr war er auf ihrer Straßenseite- ausnahmsweise, und jemand wünschte ihm herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Es brannte sich in ihr Herz ein, die Worte so wie das Datum, denn damals wie heute wünschte sie sich, das Gleiche sagen zu können: „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“ Und heute wie damals konnte es das nicht. Nächstes Jahr würde das immer noch so sein, am zehnten Juni, kurz vor neun...
„Guten Morgen“, sagte sie, legte die Papiertüte auf den Tisch und wünschte sich, diese Worte vor zehn Minuten gesagt zu haben und ein ´Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag´. Wie er wohl reagiert hätte, fragte sie sich und wünschte gleichzeitig, die Überraschung in seinen Augen zu sehen... „Seit wann bringst du mir Frühstück ins Büro?“, fragte ihr Kollege, und sie lächelte. „Partnerschaftliche Hilfsbereitschaft“, sagte sie und wünschte sich wieder, eine solche Hilfsbereitschaft auf der anderen Straßenseite walten lassen zu können. Auch Kollegial. Und nicht nur kurz vor neun. Nicht nur an seinem Geburtstag.
Eine Tasse heißen Kaffee an einem heißen Junitag vertrug sich ausgezeichnet mit ihren verwirrten Gedanken. Sie stand am offenen Fenster neben ihrem Kollegen, der seine Mittagspause wie immer mit einer Zigarette begann. Diesmal sah er auf die andere Straßenseite, und sie konnte nichts anderes tun als seinen Blick mit ihrem eigenen zu begleiten, als wäre es kurz vor neun. „Schau mal, da kommt die Konkurrenz“, sagte ihr Kollege plötzlich, und erst jetzt bemerkte sie es auch. Er überquerte die Straße und war nun, genau wie vor einem Jahr, auf ihrer Straßenseite. Diesmal sagte niemand `Herzlichen Glückwunsche zum Geburtstag`, und sie hätte es am liebsten herausgeschrieen. Er ging an dem Altbau vorbei und sah hoch, wie jedes Mal wenn er auf dieser Straßenseite war- als wollte er wissen ob die Konkurrenz immer noch da war. Fast geräuschlos verließ sie ihren Platz vor dem Fenster und ging auf die Straße. Er war nicht mehr zu sehen, aber das war nicht mehr allzu wichtig. Sie wusste nun, dass keine Worte notwendig waren, um einem Menschen zum Geburtstag zu gratulieren. Heute vor einem Jahr hatte sie nicht einmal diese Möglichkeit- vielleicht würde sie nächstes Jahr noch eine andere Möglichkeit haben... Als sie zurückkam, stellte sie eine Vase auf das Fensterbrett- mit einer Rose, die gerade ihre ganze Schönheit entfaltete; die Vase stand jetzt genau neben ihrem Kollegen, der jetzt nicht mehr rauchte. „Hat jemand Geburtstag?“, fragte er. „Ja“, sagte sie nur und warf noch einen kurzen Blick auf die Straße. Und als kurz vor neun seit vielen Stunden vorbei war, dachte sie immer noch an die Rose. Eine Rose, die er nie bekommen würde. Aber vielleicht sehen...