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Gedanken einer Sommernacht
Gedanken einer Sommernacht
Zeit ... Manchmal scheint sie mit ungeahnter Geschwindigkeit vorüberzuziehen, achtlos dich zu überholen und im Dunklen verloren zurückzulassen. Manchmal scheint sie dahinzukrie-chen, unendlich langsam, bis du glaubst, ihre Last mit physischer Gewalt auf den Schultern spüren zu können. Die Zeit geht ihrer eigenen Wege, und alles, was wir tun können, ist, so gut es geht ihrer Bahn zu folgen.
Im Moment scheint sie stillzustehen. Ich sitze auf einem Felsen, eingebettet in das weiche Gras des Berges, hoch über dem Grunde des Tals, das sich vor mir ausbreitet, weit weniger hoch, doch immer noch ein gutes Stück entfernt auch von der kleinen Blockhütte, die sich hangabwärts, von den Bäumen verdeckt, in eine flache Mulde kauert. Um mich herum schient die Welt den Atem angehalten zu haben. Nicht ein Laut ist zu vernehmen, als dem fernen Rauschen des Flusses, der als silberdurchglänztes Band den Talgrund spaltet, verwoben mit dem verträumten Brausen des Windes in den Wipfeln, der nur eine schwache Ahnung der dunklen Masse des Waldes vermittelt, der das Gebiet über die Jahrhunderte für sich erobert hat.
Über mir erstreckt sich der Nachthimmel als eine schwarze Glaskuppel, durch die aus unzähligen winzigen Sprüngen das Licht der äußeren Welt strahlt, ein Netz aus dünnen, weißglühenden Fäden, unwirkliche Bilder formend, von klirrender Klarheit und doch seltsam unscharf, als hätte jemand Diamantenstaub über das Firmament gestreut und damit seinen ansonsten unerreichbaren Träumen und Sehnsüchten Gestalt verliehen. Und inmitten dieser den Sterblichen nicht verständlichen Botschaft thront der Mond, als helle opalisierende Scheibe, der mit seinen milchiges Licht verströmenden Fingern behutsam die Erde berührt.
Wie ein Schatten von noch tieferer Schwärze erhebt sich der Berg hinter mir, zerschneidet den glühenden Himmel, um dessen Licht in seinem zerklüfteten Antlitz einzufangen, in den Schluchten und Graten zu versenken und damit seine eigene Größe noch intensiver zu verdeutlichen. Ist es ein Hauch von Schnee, der von den höchsten Zinnen mir ins Auge glänzt? Oder gar der mahnende Blick des Berges, der die Erinnerung an seine Gnade in mein Herz sät, an jene wilde Sanftheit, mit der er den Eindringling in seinem Reich duldet? Wie einfach wäre es doch für ihn, seine weißen Türme zu brechen und herabzuschleudern, alles zerschmetternd, was nicht für sein Revier bestimmt ist. Vielleicht verschont er mich einzig deshalb, weil am Ende auch ich Teil von ihm geworden bin; ich, der ich gekommen bin, meinen Frieden in seinem Schatten zu finden.
Der herabstürzende Wind lässt mich frösteln und ich ziehe den Mantel enger um meinen Leib. Hilflos ist der Mensch, ausgesetzt und auf sich allein gestellt in der Natur. Ich spiele mit dem Gedanken, aufzustehen und reumütig die Wärme der Hütte aufzusuchen, in das goldene Licht des Kaminfeuers zu entfliehen, doch ich widerstehe der Versuchung. Diese Nacht soll mir gehören, mit all ihrer Schönheit sei sie meiner Seele gewidmet, mit aller Kraft möge ich jeden einzelnen Augenblick in mich aufnehmen und in die Erinnerung einbrennen. Dennoch beginnt eine Beklemmung in mir aufzusteigen, beinahe unmerklich, wie der Nebel, der sich morgens über das Tal erhebt, und die Kälte wird zunehmend spürbar, doch ist es eine Kälte, die von innen her gefriert. Hilflos und verloren glaube ich mich in der einschüchternden Weite, die sich um mich erstreckt, und größer werden die Zweifel. Zu mächtig ist die Urgewalt des Berges, des Himmels, der Welt ringsum.
Wie in meinen Gedanken, so scheint tatsächlich Nebel aufzusteigen. Der Fluss, der zuvor so hell im Mondlicht zu mir heraufgeglitzert hat, verbirgt sich jetzt hinter einem diffusen Schleier, ein zarter Hauch von Silber nur im Dunkel des Tals. Soll die Nacht denn tatsächlich vorüber sein? Die gezackten Ränder des jenseitigen Gebirges umfließt eine zerbrechlich anmutende Aura, die mit jedem Herzschlag langsam in das Tal sich ergießt, gleich Strömen gefrorenen Lichts. Die Schatten vertiefen sich, während die ersten Felshänge in wildem Feuer erglühen. Weiter ziehen die hellen Bänder, und wo sie die Erde berühren, entflammt der Nebel in goldener Glut. Ein kurzer Moment des Schweigens, dann bricht die Sonne über den Horizont, nur ein winziger, sprühender Funke zuerst, gleich einem in Aufruhr geratenen Rubin, doch selbst dieses schwache, blutige Licht reicht aus, die Stille zu brechen. Neben mir verströmen die Blüten zahlloser Wiesenblumen einen neuen, zuvor nicht gekannten Duft, während aus dem Wald erste Zeugnisse erwachenden Lebens erklingen, einfallend in einen jubilierenden Chor aus verschiedenen Vogelstimmen. Von unbestimmter Ferne glaube ich das Heulen eines Wolfes wahrzunehmen und mit diesem Laut scheint mein Herz sich zu öffnen.
Die Sonne erhebt sich, und sie strahlt mit dem Auge Gottes. Ich folge ihrem Beispiel und wage einen Blick in die Runde. Die blauschwarzen Schleier der Nacht füllen sich mehr und mehr mit rotem, orangenem, gelbem Licht, das zunehmend alle Farben des Spektrums annimmt. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, das durch jede Faser meines Daseins pulst, und ich weiß endlich, ich bin nicht alleine, denn ich bin ein Teil dieser Welt, die mich mit ihrer unsterblichen Musik begrüßt. Die Nacht war notwendig gewesen, mit all ihrer Finsternis, ihrer Einsamkeit, ihren Zweifeln, um das reine und unverfälschte Glück wieder fühlen zu können. Dies ist das Gefühl, das alle Leiden vergessen macht, ja ihnen selbst ihre Berechtigung zuzusprechen scheint.
Die Sonne ist aufgegangen und die Welt erwacht, und mit ihr ich selbst. Ich weiß, ein neuer Abend wird kommen, doch mit Zuversicht blicke ich ihm entgegen, mit Hoffnung im Herzen, denn nach all den Enttäuschungen habe ich nun endlich die Schönheit der Nacht schätzen gelernt. Und selbst wenn der Himmel sich verdunkelt, so bleibt mir doch die Erinnerung. Und die Flammen dieser Erinnerung werden nicht zu verlöschen sein. Ich bin alleine als wie zuvor, doch die Einsamkeit schmerzt nicht länger.
Mit neuem Blick für mein Leben beginne ich den Abstieg, der Heimat hinzu.
Wien, Januar 2004