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Gegenwind
Während ich mir die Augen reibe, erinnere ich mich an einen netten Augenblick, den ich nie vergessen werde.
Ich blies sanft in ein offenes Klassenfenster und hörte erstaunt:
„Ronny, Füße vom Tisch! Die Frage war: Wenn du das Wetter bestimmen könntest, wie würdest du das machen?“
„Immer schönes Wetter, das würde ich machen.“
„Na ja. Wird man das nicht mal leid?“
„Nee, ich nicht. Immer blauer Himmel, immer Sonne.“
„Also würde es bei dir nie regnen. Da kannst du lange warten auf etwas Essbares.“
„Ich würde eben bestimmen, dass es jede Woche nur einmal regnet, aber kräftig!“
„Wie soll das gehen?“
„Indem Regenwolken kommen und sich abregnen.“
„Aha. Aber wie kommen die?“
„Na, einfach so. Automatisch.“
Und dann hörte ich, dass ohne mich, den Wind, gar nichts funktionieren würde. (Nur das mit dem Bestäuben hätte nicht erwähnt werden müssen. Ist eine beinahe unmännliche Aufgabe, doch ich füge mich – Erdmutter Ahmah hat es so gewollt.) Gerührt und stolz ging ich mit frischem Elan an meine Aufgaben.
Die sind seit dem Auftauchen der Menschen komplizierter geworden. Auch meine uneingeschränkte Freiheit habe ich eingebüßt; auf raffinierte Weise haben sie mich vereinnahmt. In meiner Arglosigkeit habe ich zugelassen, dass sie mich vor ihre Mühlen und Segel spannten.
Sie haben mich beobachtet, regelrecht studiert. Nun kennen sie meine Eigenarten, sie haben ihr Leben danach ausgerichtet – Bauern, Hoteliers, Winzer, Seefahrer und Millionen andere.
Sie haben mich ungefragt in die Pflicht genommen, erwarten, dass ich wie ein Zauberer imstande bin, es jedem recht zu machen. Nachlässigkeiten kann ich mir schon gar nicht erlauben, da gibt’s gleich irgendwo Überschwemmungen, Temperaturstürze und Lawinen, oder Hitzewellen und Dürre.
Ich tue, was ich kann – trotzdem schauen viele von ihnen mit unzufriedenen Gesichtern in den Himmel, weil sie sich den Tag anders vorgestellt hatten.
Ich muss dieses Joch tragen bis ans Ende der Welt. Wind zu sein, heißt schuften.
Der Fairness wegen muss ich aber auch sagen, dass mir Ahmahs Dienstplan Ruhezeiten zugesteht. Dann nehme ich einen Packen trockene Wolken, die weißen also, zart wie die Daunen von Eidergänsen, lümmle mich in die Kuhlen und gleite im Tagtraum über Kontinente und Meere. Im spiegelnden Wasser kann ich mich selbst betrachten, ziehe Grimassen im Übermut, blähe die Backen auf, nur so zum Spaß. Mehrere Schiffe bekommen allerdings Schlagseite und sinken. Das war sehr unbedacht.
Eigentlich bin ich ein rechtschaffener Kerl, für Scherze ist nur selten Zeit. Und auch für Small Talk mit Frau Sonne bleibt nicht viel Raum.
Das ist schade, ich mag sie sehr. Signora Sole ist Italienerin, mit sonnigem Gemüt – nicht nur von Berufs wegen. Die lacht ständig und könnte den ganzen Tag verquatschen. Schon beim Aufgehen ruft sie unnötig laut: „Buon Giorno, mio caro! Come stai?“
„Oh, Sole mio!“, rufe ich zurück und mache die Geste alter Frauen, wenn sie ein Unglück beweinen: „Molto lavore, molto, molto!“ Es klingt authentischer, wenn man alles doppelt sagt. Ihr Job ist mit meinem nicht zu vergleichen, denn wenn sie einmal scheint, ist die meiste Arbeit getan. Aber neidisch bin ich nicht – was ich tue, das tue ich gern.
Und doch beginnt es in mir zu rumoren, langsam gerate ich in Rage. Schon wieder kriege ich diese ekelhaften Schwaden in die Nase. Die ziehen mittlerweile um die ganze Welt. Mir tränen die Augen. Wie schwarze Himalajas türmen sie sich auf. Sie sind zäh, ich muss mich enorm anstrengen, sie zu zerteilen und auseinanderzutreiben.
Die Leute brauchen Energie, jedes Jahr mehr. Sie verheizen alles, was brennt. Das loht und wabert, die Luft stinkt.
Langsam verflüchtigt sich meine Sympathie für sie. Die machen mich zum Müllmann, der den Himmel aufräumen muss, sonst hätten sie einen dunkelgrauen Teppich über sich. Tag und Nacht umgeben mich Dreck und giftige Gase, damit die Herrschaften mobil sind, fliegen können wie die Vögel und ihre Städte wie Fixsterne im Kosmos strahlen. Was glauben diese kleinen Scheißer, wer sie sind?
Ich will mir die schwarzen Schlieren aus dem Gesicht blasen, doch sie kleben an mir wie Polypen aus Asphalt.
Mir wird übel, ich muss husten. Tief unter mir schreien sie „Taifun, Taifun!“, schaufeln weiter Kohle, stellen die Klimaanlage tiefer und klettern in den beheizten Pool.
Überall steigen künstliche Wolken auf, prall gefüllt mit Gasen und Gift statt mit Regentropfen.
Das hört nicht auf, die sind wie verrückt da unten. Ich werde zunehmend sauer und schicke ihnen eine Warnung.
Vielleicht etwas zu heftig, einiges geht zu Bruch.
Es herrscht großes Entsetzen. Sie reden von Orkan, von Hurrikan. Emissäre sprechen von Emissionen. Die pfiffigsten machen ein Geschäft daraus und verkaufen tatsächlich die ihnen – von wem auch immer – zugestandenen ‚Anrechte’ zur Himmelsverschmutzung an andere, gegen bares Geld! Wie beim Ablasshandel. Da schau’ ich ungläubig zu und meine Zornesader schwillt.
Was für ein unglaublicher Kontrast zu all den Jahrmillionen, in denen ich mein Pensum erfüllte, alle zufrieden waren – die Pantoffeltierchen, große Dinos, kleine Dinos, der Archeopteryx. Erdteile stemmten sich auf oder verschwanden, alles in Ahmahs Takt. Denn auch die Zeit war schon da, nur machte sie kein großes Aufhebens um sich. Nichts musste überstürzt werden.
Und jetzt – Zeit wäre Geld!? Sie, die Zeit, so alt wie ich, endlos und überall in Unmengen verfügbar, kostet plötzlich Geld? Das haben diese Witzfiguren erfunden. Das muss man sich einmal vorstellen – bald werden sie auch Luft und Licht zum Geschäft machen. Und mich. Vielleicht wie einen Tanzbären an der Kette führen, ins Seniorenheim zum Ausblasen von neunundneunzig Kerzen auf der Geburtstagstorte. Da blähen sich meine Backen von ganz allein auf. Ich zeige euch, wie ein zorniger Bär tanzt. Ich habe die Nase voll von euch, gestrichen voll!
Das Meer drücke ich in die Ströme, die Brücken brechen, ich knicke die Wälder. Bin außer mir, peitsche den Ozean, bis er mit dem Himmel verwirbelt. Sollen sie sehen, wo sie bleiben! Springfluten rollen über die Kontinente. Es ist nicht meine Schuld! Häuser treiben davon, Wolkenkratzer wanken und krachen zusammen. Der Christus über Rio hat nasse Füße.
Und Frau Sonne hält die Hände vors Gesicht und flennt: „Che miseria! Wie konnten sie nur so dumm sein!“
Nur die Pyramiden verschone ich. Um ein paar Meter hab ich sie versetzt, das ließ sich nicht vermeiden. Doch die nehmen das nicht krumm. Wir kennen uns schon sehr lange.