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Geh schlafen Anastasia
Ich saß am Fenster meines Hotelzimmers mit Blick auf die unendliche Weite des Ozeans, als ich beschloss, nicht mehr zu leben. Anders als die meisten wohl glauben würden, war dies kein bereits lang bestehender Gedanke, dessen Ausführung ich in diesem Moment beschloss oder der sich da auch nur verfestigte. Vielmehr war es wie eine Gewissheit, die einen ganz plötzlich ereilt und doch so erscheint, als wäre sie schon immer da gewesen.
Lautstark hörte ich den Wind pfeifen und den Regen gnadenlos gegen die Scheiben prasseln. Als Kind erklärte ich meinen Eltern einst meine Theorie, dass, anders als es Filme es einem weißzumachen versuchten, die unerfreulichsten Dinge immer bei schönem Wetter passierten. Doch wie immer, wenn ich etwas sagte, dass meine Mutter nicht verstand oder verstehen wollte, antwortete sie nur "Geh schlafen Anastasia."
Die meiste Zeit in meinem bisherigen Leben tat ich das dann auch. Zumindest legte ich mich in mein Bett und fragte mich stillschweigend vor mich hin, ob Laubbäume wohl gesprächiger wären als Tannenbäumen oder ob die Toten genau Buch darüber führten, wer wann und Blumen welchen Wertes ans Grab legte.
Eines Tages, es war ein grauer Tag ähnlich wie der heutige, ging meine Mutter mit mir zu dem Spielplatz unweit unserer Wohnung. Sie hielt meine Hand fest in Ihrer und lief sehr schnell, sodass es mir ein bisschen weh tat, doch sagte ich ihr davon nichts. Irgendwann, sie machte nun etwas langsamer, fragte ich sie, warum es keine Spielplätze für Erwachsene gab. Ich erklärte ihr, dass es dort sicherlich jede Menge Laptops, Zeitungen und Kaffee gab aber auf jeden Fall viele Uhren und klingelnde Telefone. Eine Weile blieb meine Mutter still bis wir an dem Spielplatz ankamen und sie dann erwiderte "Geh spielen Anastasia".
Als ich älter wurde, hörte ich auf, anderen meine Gedanken mitzuteilen. Man sagte mir; aus dir ist ja doch noch was geworden; schön, dass du aus deiner sonderbaren Phase rausgewachsen bist. Ich nickte und lächelte, wie ich gelernt hatte, dass Erwachsene es taten.
Auch wenn ich irgendwann zwar nicht mehr allseits als das komische Mädchen bekannt war, so vermieden es doch die meisten meiner Mitmenschen, mit mir mehr Zeit als wirklich nötig zu verbringen.
Eines Tages besuchte ich meine Mutter, die mittlerweile, in einem betreuten Seniorenwohnheim, mit fortgeschrittener Demenz lebte. Ich brachte ihr Blumen und las ihr aus Jane Austen oder Fitzgerald vor, während sie meist reaktionslos in die Leere starrte. Doch an diesem Tag, da schaute sie mich sehr lange an, beobachtete geradezu wissenschaftlich wie ich mit der Pflegerin redete und die verwelkten Tulpen gegen den neuen Strauß austauschte. Auf einmal sagte sie: " Ich bin müde Anastasia". Ich antwortete: " Geh schlafen Mutter"
Als ich am Morgen der Beerdigung meiner Mutter von den warmen Strahlen der Sonne in meinem Gesicht geweckt wurde, spürte ich zum ersten Mal seit ihrem Tod genauso heiße Tränen meine Wangen herunterlaufen. Der salzige Geschmack erinnerte mich an das Meerwasser, dessen Tosen mich in der Nacht wachgehalten hatte.
Es waren nur der Priester und ich an jenem Tag. Zum Schluss der Predigt sagte er: "Möge sie in Frieden ruhen" "Schlafen?" fragte ich daraufhin. Der Priester schaute mich an, schaute in den Himmel und sagte "Wer weiß das schon"
Als ich zurück im Hotelzimmer war, der Himmel mittlerweile wolkenverhangen im Angesicht des aufziehenden Sturmes, fühlte ich mich ungewöhnlich leicht, als würde nach jahrelangem Stemmen eines schweren Gewichtes, mir die Hälfte dessen abgenommen werden.
Ich rief den Priester an und fragte " Glauben Sie, dass wohlhabende Fische in den Urlaub in die Karibik fahren?" Nach kurzer Bedenkzeit sagte er " Vermutlich bevorzugen sie eher die Malediven". Ich legte auf und wusste, dass heute mein letzter Tag auf Erden war. Just in diesem Moment erhellte ein Blitz die ungestüme Landschaft.