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Geile Zeit
Ständig habe ich Angst. Eine Scheißangst vorm Sterben. Sie sitzt mir im Nacken. Tag und Nacht. Lässt mich kaum zur Ruhe kommen. Es fühlt sich an wie in einem Film, in dem ein Mädchen von einem Kerl verfolgt wird, der ihr an die Wäsche will. Sie rennt und rennt und rennt, und er ist ihr dicht auf den Fersen; sie riecht seinen stinkenden Atem, rennt schneller, hängt ihn ab. Er hetzt nach, holt auf und ist wieder hinter ihr. Die junge Frau, sie läuft um ihr Leben. Schwitzt, keucht, weiß, am Ende wird er sie kriegen.
Doch es gab mal eine Zeit, da konnte ich die Pausetaste drücken und ein ganz normales Mädel sein. Dann stand ich in der Turnhalle. Verteilte Kreidestaub auf meinen Händen, und alles war ruhig. Nur Friede und Stille in meinem Kopf. Oder wenn ich mit Jayden zusammen war – noch viel besser. Wie hunderttausend, ach was, eine Milliarde Sporthallen.
Ich kenne ihn seit meinem ersten Schultag. Nicht der mit der Tüte voller Süßigkeiten und Fotos machen. Nein, der danach, wo es ernst wurde. Der, an dem Herr Fuchs ins Schulzimmer kam. An seiner Seite ein Junge in Turnschuhen. Breitbeinig stand er da, das rechte Knie leicht angewinkelt. Die Daumen in seine Gürtelschlaufen eingehängt. Trug ein T-Shirt mit rotem Ami-Auto drauf. Auf dem Kopf eine Baseballmütze, unter der braune Locken hervorquollen. Sein Blick wanderte durch den Raum. Fing in einer Ecke an und zog sich durch die Klasse, ohne abzusetzen. So, als würde er mit den Augen das Haus vom Nikolaus malen. Zwischendurch zuckten seine Kiefer und ich hätte schwören können, dass er Kaugummi kaute. Ui, ui, ui, der traute sich was. Schon sein Käppchen verstieß gegen die Ordnung.
Er wurde zwischen Carmen und mich gesetzt.
»Hey, ich bin Jay.«
Das werde ich nie vergessen. Ist in mir drin, wie Herzklopfen und Atemgeräusche. Hey, ich bin Jay. Dabei hat er mich angesehen, als wolle er jetzt sofort alles über mich wissen.
Während Carmens Augen fast aus den Höhlen purzelten und sie ´n Ami, ´n richtiger Ami wisperte, fand ich sein Shirt interessant und sagte: »Ich heiß Valle. Corvette is´super.«
Ja, und dann begann das, was wir später geile Zeit genannt haben und weswegen ich jetzt heulend hier sitze und nicht anders kann, als an jenen Tag zu denken. Meinen letzten Tag mit Jayden …
Auf dem Plattenspieler drehte sich eine Scheibe. Bon Scott sang von Jean, deren Lächeln ihn Sterne sehen lässt und von der er weiß, wie sie es haben will.
»Du hättest dort dein Abi machen können«, sagte Jayden. Er saß vor dem Bett. Mein Kopf lag in seinem Schoß, und er begann, sich eine Strähne meines Haares um den Finger zu wickeln. »Mir bei den Viechern helfen. Und dich von meiner Granny verwöhnen lassen.«
Vorsichtig zog er den Finger aus der Locke und legte sie mir zurück auf die Brust.
Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
»Dein Texas ist verdammt weit weg. Wie soll ´n das gehen?«, fragte ich und zeigte auf meinen Brustkorb. »Es fängt an, mich in die Knie zu zwingen – die Turnerei kann ich schon mal an den Nagel hängen.«
Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Öffnete sie, schloss sie. Öffnete sie und schob sie mir unter den Hintern.
»Ich weiß. Es ist nur … Fuck, ich hätt dich so gerne dabei.«
»Meine Eltern würden´s eh nicht erlauben«, sagte ich und merkte selbst, wie trotzig das klang.
»Fünf Jahre, Honey. Höchstens. Dann machen wir Nägel mit Köpfen.«
Ich sah zu ihm auf: Seine Locken standen wild vom Kopf ab und umrahmten das schmale Gesicht. »Wird das jetzt ´ne Verlobung, Killinger?«
Jaydens Mundwinkel fielen nach unten. »Was reagierst ´n gleich so angefressen?«
»Weil ich vielleicht tot bin, wenn du zurückkommst.«
Ruckartig zog er die Beine unter mir hervor und sprang auf. »Hör auf, immer so ´nen Scheiß zu reden. Wenn du leben willst, dann quatsch nicht vom Sterben«, schnauzte er, war mit zwei Schritten an der Tür und warf sie knallend hinter sich zu.
Don´t go and leave me. Cause I love, I love you, I love you. Don´t leave me(1) sang Bon und ich musste an mich halten, um nicht gegen den Plattenspieler zu treten.
Was für eine beknackte Woche. Und jetzt war auch noch Jayden wütend. Kam einfach nicht mit der Wirklichkeit zurecht. Verdrängte. Ignorierte. Ließ nichts an sich heran. Mein armer Jayden.
Paar Minuten später war er wieder da. Ich hatte mich auf die Seite gedreht. Lag auf seinem Bettvorleger, schluchzte, und der Plan war, mich in den Schlaf zu heulen.
Jayden legte sich hinter mich, schob mir seinen Arm unter den Kopf und machte: »Sch ... sch.«
Gleichzeitig streichelte er mein Haar. Vom Scheitel bis zu den Spitzen, immer in diese Richtung. Er wusste, wie sehr ich das mag. Jayden kaute, roch nach Wrigley´s Spearmint, und wenn ich dicht an ihn rückte, konnte ich seinen Herzschlag und das Heben und Senken des Brustkorbs spüren. Ich liebte das. Gab mir das Gefühl, seine Lebendigkeit würde auch für mich reichen.
Als ich mich beruhigt hatte, sagte er: »Ich versteh´s nicht, wie man ´nem Kind sowas sagen kann. Nee, ich krieg das wirklich nicht in mein Hirn.«
»Die wollten, dass ich mir keine falschen Hoffnungen mache.«
»Bullshit – du warst da viel zu jung. Scheißweißkittel. Schau dich an. Wann hast ´n das letzte Mal durchgeschlafen, hm?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Und? Können die in die Zukunft gucken? Wissen die, was in zehn, zwanzig Jahren is´? Wissenschaftler pennen doch nicht. Medikamente werden besser …«
Er hatte sich in Fahrt geredet. Jetzt senkte er die Stimme und sagte: »Vielleicht kann man´s eines Tages sogar heilen.«
Ich lachte auf.
Viel hatten wir nicht gewusst, über meine Krankheit. Groß erforscht war die noch nicht. Irgendwas mit den Genen. Husten und Sekret in der Lunge. Und dass die Kinder keine hohe Lebenserwartung hätten. Wie ich es gehasst habe, wenn meine Eltern damit hausieren gingen, Aufklärung betrieben. Selbst vor meiner Lehrerin machten sie nicht halt. Ich malte mir damals aus, wie das Gerede seine Kreise zog. Erst in meiner Klasse, dann durch die Schule, bis am Ende das ganze Dorf Bescheid wusste. Ich fühlte mich gebrandmarkt wie ein Rind auf der Killinger-Ranch. Dachte, alle würden tuscheln, sagen: »He, da kommt die, die nicht lange leben wird.«
»Kann ich mir nicht vorstellen, dass die mal was erfinden und alles wird gut«, antwortete ich ihm.
»Du musst´s endlich zulassen, so zu denken«, sagte Jayden. »Was machst ´n in vier Jahren? Nimmst ´n Strick und hängst dich auf?«
»Also echt, Ki…«
Jayden drehte mich zu sich und legte die Hand auf meinen Mund. »Ich will dich nicht ärgern. Ich wünsch mir nur, dass du deine Einstellung überdenkst. Wirst du das für mich tun?«
Er lächelte mich an. Ich sah seine Grübchen, hob den Kopf und küsste sie. Keine Ahnung, ob ich das konnte, worum er mich bat. Wo ich bis eben nicht mal wusste, dass meine Angst, bald sterben zu müssen, nur eine Einstellung von mir war.
Ich zuckte die Schultern, und Jayden pikste mich. Drückte den Finger in die Stelle über meiner Hüfte, wobei ich immer die Beherrschung verlor, wenn er das tat.
»Wirst du das für mich tu-un?«
Ich gluckste und schüttelte den Kopf.
»Wirst … du … das … für … mich … tun?«
Mit jedem Wort ein Stich. Ich kreischte, Jayden lachte. An seinen Lippen hingen Speichelfäden, und ich spürte Spucke im Gesicht.
»Sag schon, sag schon, sag schon, sag schon!«
Er feuerte eine Salve Pikser auf mich ab; ich strampelte mit den Beinen, schrie, lachte, bäumte mich auf – und dann passierte, was ich mehr hasse als eine Kur im Schwarzwald: Ich musste husten. Laut, lang und heftig. Mit Stechen im Brustkorb und Kanonendonner im Schädel. Um besser Luft zu bekommen, setzte ich mich auf. Dieser Husten war anstrengender als eine Zehn-Punkte-Kür am Stufenbarren, und eines Tages wird er mich in der Mitte entzweireißen – so viel ist sicher.
Jayden rutschte hinter mich, legte die Hände auf meinen Rücken. Fühlte. Mal oben, mal unten, mal an den Seiten. Einmal klopfte er ein bisschen. Mit der hohlen Hand, so tat es am wenigsten weh.
Als es vorbei war, hätte ich auf der Stelle in einen Tiefschlaf fallen können, und lehnte mich gegen Jayden. Mein Bauch schmerzte, die Lunge fühlte sich an, als ob sie jeden Moment platzen würde; ich rang nach Luft.
»Das wollt ich nicht«, sagte Jayden und nahm mich in den Arm.
»Niemals Jaydi … wird mich … der Scheißhusten … davon abhalten, … mit dir zu lachen«, stieß ich hervor.
»Gut so. Du musst das echt ändern, sonst gehst du dran kaputt.«
Jayden zog ein Kissen vom Bett und ließ sich mit mir auf den Fußboden fallen. Er murmelte was von einer ordinären Lache, die ich hätte.
Ich machte es mir auf ihm bequem. Spürte seine Hand, die mir durchs Haar fuhr, hörte auf das Rauschen in meinen Ohren und blies beim Ausatmen die Luft durch die Lippen, bis sich alles in mir entspannte. Dann schloss ich die Augen und dachte nach.
Langsam wurde mir klar, wie sehr ich mich getäuscht hatte. Wie konnte ich mich bloß so irren? Verrennen? Annehmen, Jayden würde etwas verdrängen? Er setzte sich mit meiner Krankheit auseinander und machte sich seine Gedanken. Sie waren nur anders als meine. Viel hoffnungsvoller.
»Ach Jaydi, was mach ich nur ohne dich?«
»Du kriegst das hin. Hundertpro.« Jayden lächelte mich an. »Geht´s wieder?« Ich nickte, und er gab mir einen Klaps auf den Po. »Wir sollten mal los«, sagte er, doch als ich aufstehen wollte, hielt er mich fest. »So viel Zeit muss sein …«
Und dann knutschten wir noch eine Weile.
Lautes Gelächter und das Knallen von Autotüren reißen mich aus meinen Gedanken. Zwei Frauen umarmen sich, laufen über den Parkplatz, und ich überlege, wie sie ausgesehen haben, als wir zur Schule gingen.
Mein Blick schwirrt umher. Streift den Rückspiegel. Eine sommersprossige Frau starrt mich mit verheulten Augen an. Ich seufze und befingere mein Gesicht. Drücke in die Wangen, bis ich den Knochen spüre. Das wird hier bald aufgehen wie ein Hefeteig. Hat mich jedoch nicht davon abgehalten, eine Wochendosis Prednison einzunehmen. Sicher ist sicher. Denn heute mache ich Urlaub. Urlaub von der Krankheit. Heute Abend will ich leben. Will wieder mal eine junge Frau und keine Kranke sein. Da ist mir jedes Mittel recht. Um Spätfolgen mache ich mir wenig Sorgen. Es hat alles seine Vorteile – sogar das Sterben.
Mit den Fingern trommle ich gegen das Lenkrad, die Füße zappeln. Ich stelle mir vor, das Gaspedal wäre die Bass Drum: bumm, bumm, bumm. Meine Medikamente machen mich zu einem Nervenbündel, immer bin ich hibbelig.
Jayden. Meine Hände zittern. Der Mund ist trocken. Da soll es helfen, mit den Zähnen über die Zunge zu schaben. Also kratze und kratze ich, bis es weh tut, und sammle Spucke. Schlucke sie runter und lasse mich in den Sitz zurückfallen; ich weiß nicht, woher ich den Mut nehmen soll auszusteigen. Ob ich stark genug sein werde, ihn wiederzusehen? Ich will ihn sehen, ihn umarmen. Will mit ihm sprechen, ihm was erklären und mich verabschieden. Denn meine Zeit wird knapp. Mir geht der Atem aus.
Jayden. Ich sehe ihn vor mir, seinen dunklen Wuschelkopf. Das grinsende Gesicht. Die verfluchten Grübchen. Jahrelang hat mich sein Lächeln verfolgt; in der Nacht gewärmt und am Tag in die Verzweiflung getrieben. Tränen laufen mir aus den geschlossenen Lidern. Wütend wische ich sie weg.
Jayden. Meine erste Liebe. Meine einzige Liebe.
Die Sonne stand tief. Es roch nach verkohlten Steaks und dem Harz der Fackeln. Ein paar Jungs halfen den Mädchen, einen alten Holzkahn an Land zu ziehen. Danach kletterten alle ins Boot. Bernd ging rum, den Arm voller Flaschen, und verteilte Bier; ein Joint machte die Runde.
Jayden stand daneben und nahm einen tiefen Zug. Behielt den Rauch in der Lunge, bevor er ihn durch die Nase entließ.
Ich hatte mir die ganze Zeit seinen Hintern angesehen. Einfach Bombe, in der engen Jeans, und als Jayden mit Bernd ans Ufer lief, linste ich dem Knackarsch hinterher.
Jayden trank Whiskey aus dem Becher. Ging ein paar Schritte rückwärts, stolperte, fing sich wieder und lachte. Dann legte er eine Hand auf die Schulter seines Freundes. Sie neigten ihre Köpfe, und Jayden hörte nicht auf zu quatschen. Bernd verstrubbelte nur seine Vokuhila-Mähne und grinste den Rasen an.
Ich verstand kein Wort und beobachtete Jayden. Kam ins Träumen. Ich stellte mir vor, wie er seine Bauchmuskeln anspannte. Dachte an den dunklen Flaum, der unter dem Nabel ansetzte und einladend in der Hose verschwand. Ich sah mich mit der Zunge über diesen weichen und zarten …
Jayden schielte herüber, spitzte die Lippen und zwinkerte mir zu. Durch meinen Bauch schoss glühende Lava. Ich lächelte zurück.
»Seit wir ihn kennen, wissen wir, dass er nach der Schule abhauen wird«, sagte Carmen, die mit mir am Lagerfeuer saß. »Tja, morgen isser weg.«
Sie langte nach den Treets, warf eine Schokonuss in die Luft und fing sie mit dem Mund wieder auf.
»Tataa!«, rief ich, trippelte mit den Beinen und reckte beide Arme in die Höhe. »Good News: Kann ihn anrufen. Opa zahlt zehn Mark pro Monat.«
Beseelt von dem unerwarteten Reichtum, leerte ich mehr Bols ins Glas, als gut für mich war. Ich kippte eine Ladung Orangensaft obendrauf und nahm einen kräftigen Schluck von dem jetzt grünen Cocktail.
»Mein Grandpa … also mein Grandpa ist sowas von … great«, sagte ich und kaute, als hätte ich den fettesten Bubblegum im Mund.
»Na siehste. Alles halb so schlimm.« Carmen drehte meine Kappe am Schild nach hinten. Ich grinste sie an. Im Badeanzug hockte sie neben mir und warf ein Holzscheit ins Feuer. Es knackte und krachte; ein paar Funken flogen auf. »Jetzt machen wir schön Sommerferien, danach geht’s auf´s Wirtschaftsgymi und dann isser bald wieder da«, zählte sie an den Fingern ab. »Wirst sehn, wie schnell … Oh, guck mal, wer da kommt.«
Ich fuhr zusammen, drehte den Kopf und sah den fünf Grazien im Bikini entgegen, die sich dem Boot von der Seeseite näherten. Sie schubsten sich und kicherten wie Erstklässler.
»Verdammte Eislauf-Tussis«, sagte ich und starrte die Blonde im Tanga an. »Die provoziert mich nicht mehr – die nicht.«
Miss Schlittschuh stand am See und überprüfte die Schleifen an ihrem Höschen. Dabei stieß sie an Jaydens Arm, der seinen Bourbon über sie kippte, ihr ins Oberteil glotzte und garantiert ihre Möpse mit meinen verglich.
Das fängt ja gut an, dachte ich, setzte mich aufrecht und straffte die Schultern.
Jayden sagte »Sorry« und schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln. Er lief zur Hütte, wo seine Kumpel vom Eishockey standen. Per Schulterrempler begrüßte er Eric, einen Typen mit ausgeschlagenem Schneidezahn und Carmens großer Schwarm – ganz großer Schwarm.
Blondie kicherte wie eine blöde Zwölfjährige und rannte hinterher. Ich stand auf, taumelte und musste mich an Carmen festhalten.
»Mir reicht´s. Der drück ich ´ne Kufe in die Visage«, sagte ich und wollte los, doch Carmen zog mich zurück.
»Jetzt relax mal. Die hat Dellen am Arsch. Und stinken tut se auch«, sagte sie und wir prusteten los. Lachten, wie man eben lacht, wenn man beduselt und sechzehn Jahre alt ist: laut und gemein. Ich musste bisschen husten und hörte ein leises Rasseln – alles ganz normal.
Die Blondine sah zu uns herüber, lächelte zuckersüß und rief: »Na Valle, viel Spaß beim Trübsal-Blasen.«
Ich zeigte ihr den Mittelfinger. Carmen grunzte.
Bon sang von der Geburtsstunde des Rock´n´Rolls und Angus quälte die Gitarre, dass die Lautsprecher am Radiorekorder dröhnten.(2)
Ich brauchte eine Pause. Saß japsend auf meinem Gartenstuhl, während alle am Rocken waren. Die Eishockey-Boys grölten und tanzten, als hätte ihr Verein die Meisterschaft gewonnen. Jayden stand in ihrer Mitte, hatte sich das Hemd aus der Hose gezogen und aufgeknöpft. Er spielte Luftgitarre und beim Headbangen flogen ihm seine Locken um die Ohren. Wie schön das aussah. Er schien frei von allem, was Sorgen macht; ich konnte mich nicht sattsehen.
In Momenten wie diesem, in denen ich glaubte, an meinen Gefühlen für ihn zu ersticken, da wünschte ich, mit ihm alt werden zu können. Da träumte ich von einer Zukunft. Sehnte mich nach kleinen, goldigen Lockenköpfen mit braunen Augen und Grübchen in den Wangen. Ich habe das nie jemandem erzählt. Der nächste Husten, das nächste pfeifende Geräusch beim Atmen ließ diesen Traum immer platzen, als wäre er ein verdammtes Lungenbläschen.
»Was für ein Hammersong! Was für eine Stimme. Echt schade um den Kerl«, rief Jayden. Er war kein bisschen außer Puste und kam im Duckwalk zum Feuer. »Geht´s dir gut, Honey?«
Ich streckte ihm die Arme entgegen, und als er sich an mich presste, roch ich seine verschwitze Haut. »Jetzt ja.«
»Dann lass uns abhauen«, flüsterte er und gab mir einen Kuss.
Ich nutzte die Gelegenheit, mit der Zunge durch seinen Mund zu fahren. Hoffte, etwas Hasch abzubekommen und wühlte in einer Pfefferminz-Alkohol-Höhle herum.
Jayden schob mich zurück. »Vergiss es«, sagte er, und im Schein der Flammen glitzerten seine Augen. »Wenn du dir was einpfeifen willst, inhalier Kochsalz. Machst das eh zu wenig.«
»Mensch Killinger, manchmal redest du … Nee, also wirklich.«
Ich verzog den Mund wie ein schmollendes Kind und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was hast ´n mit Bernd vorhin ausgeheckt?«
Er ging in die Hocke. Hatte plötzlich nichts Wichtigeres zu tun, als mit der silbernen Kette an seinem Handgelenk zu spielen. Drehte sie, bis das Plättchen mit meinem Namen drauf oben war. Strich mit dem Finger darüber, hauchte es an und kratzte ein bisschen.
»He du.«
»Hey you.«
Ich verdrehte die Augen und stieß ihn am Knie. »Sag, dass es nicht das ist, was ich denke.«
Dieser Augenaufschlag. Mannomann. Der Killinger und sein Hundebabyblick.
»Is´mein Texas-Style. Bin beruhigter, wenn er nach dir sieht.«
»Haha, Texas-Style. Sehr witzig«, sagte ich. »Echt, als wär ich sechs. Das ist voll peinlich.«
Ich lächelte, fuhr über seine Backe und legte ihm eine Haarsträhne hinters Ohr. »Jaydi, Jaydi, Jaydi. Warum wundert mich das nicht?«
Grinsend kam er hoch und riss eine Fackel aus dem Boden. »Willst du weiter quasseln oder können wir endlich?«
»Wohin?«
»Überraschung.«
»Yeah«, rief ich und sprang auf.
Ich schlenkerte mit unseren Armen. Wurde immer heftiger, und als Jayden sagte, ich solle ihm nicht die Schulter auskugeln, hörte ich damit auf. Nun hüpfte ich, um in seinen Takt zu kommen, und ging im Gleichschritt neben ihm her.
»Zum Bootssteg?«, fragte ich, als er den befestigten Weg verließ.
Jayden grinste. »Wart hier, ja? Bin sofort zurück«, sagte er und verschwand neben einer Wand aus Schilfgras.
Ich stemmte die Hände in die Hüften und kicherte. Ein wenig schien der See zu schwanken, der geheimnisvoll und dunkel vor mir lag. Nur vereinzelt helle Stellen, wo der Mond die Wolken durchbrach und sich sein Licht auf der Oberfläche spiegelte. Ich dachte an mein Röntgenbild vom letzten Winter und daran, dass ich im Sommer nicht so leicht sterben werde.
Hinter dem Röhricht hörte ich Jayden rascheln und die Fackel in den Kies rammen. Dann stand er neben mir.
»Mach mal die Augen zu«, sagte er und hob mich hoch.
Ich wog keine vierzig Kilogramm, und wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte, reichte ich ihm bis zur Schulter. Aber er stöhnte und ging in die Knie, als ich in seinen Armen lag.
»Wanna tell you a story(3) …«, sang er und ich hielt ihm schnell den Mund zu, fing an zu kreischen.
»Jaydiii! Du bist voll gemein – ich bin nicht fett.«
Jayden warf den Kopf in den Nacken, lachte in meine Handfläche und versuchte, sich von ihr zu befreien; zerrte an meinem Arm und quetschte ein Fourt´two thirt´ninefiftysix(3) heraus. Ich plärrte »Neiiin!« und »Igitt, du hast gespuckt!«, setzte nach, drückte ihm die Hand wieder auf die Lippen, und wir lachten und rangelten, bis mich Jayden nach unten gleiten ließ und über seiner Hüfte trug. »Never had a woman like you(3) …«
»Das ist entwürdigend!«
Ich lachte. Sabber lief mir aus dem Mund und tropfte zu Boden. Ich spürte Jaydens Unterarm am Bauch, starrte auf braune Erde und niedergetrampeltes Gras; zappelte wie verrückt mit Armen und Beinen, schrie: »Nimm mich hoch, nimm mich hoch!«
Jayden stampfte mit den Füßen – nein, er tanzte. Sang und tanzte wie ein Irrer, mit mir unterm Arm, schüttelte mich durch und lachte sich weiter einen ab.
»Los! Sofort!«
Mit einem Schwung war ich oben. »Whole lotta Vallie(3) …«
Seine Augen waren feucht glänzende Schlitze. Die Grübchen so tief, dass man in ihnen einen Puck hätte versenken können – aber er strich mir sanft übers Haar.
»Du bist so ein Arsch. Und singen kannst du auch nicht«, sagte ich und hämmerte ihm gegen die Brust.
»Au!« Er quietschte vergnügt wie Bon, wenn seine Lady für ihn auf allen vieren kriecht.(4)
Ich schlang die Arme um seinen Hals und presste mich an ihn. Roch herbes Aftershave, Kaugummi, Schweiß; meinen Jayden. Schloss die Augen.
»Diesmal musste ich nicht husten«, murmelte ich. »Nicht ein einziges Mal.«
Unter Jaydens Füßen knirschten Kieselsteine. Dann ein dumpfes Poltern, als er über Holz lief. Ich roch Rauch, wurde auf etwas Weiches gelegt und Jaydens Atem kitzelte, als er seine Nase an mir rieb.
»Kannst wieder aufmachen.«
Das Erste, was ich sah, waren Blütenblätter, die auf mich herunterrieselten; und Jaydens Augen, strahlend wie die Deckenscheinwerfer in der Eishalle. Er kniete über mir. An seinem Schenkel lehnte eine Einkaufstüte, in die er seine Hand tauchte, bevor er es erneut regnen ließ.
»Jaydi«, rief ich. »Das … das ist zauberhaft.«
Ich stütze mich auf die Ellenbogen, lachte und sah mich um. Jede Menge Fackeln entlang des Stegs, deren Flammen in der Nachtluft tanzten und uns Licht und Wärme spendeten. Meine Hände tasteten über den Flokati – er ließ mich glauben, auf Daunen zu liegen.
»Einfach zauberhaft«, sagte ich noch mal und spürte die Hitze des Feuers auf meinem Gesicht. Den Armen und Beinen. In meinem Herz. »Und so romantisch.«
Jayden zupfte mir Rosenblätter aus dem Haar. Atmete durch und sah mich an. Seine Augen waren dunkel und tief wie der See. Ich liebte diesen Blick. Tauchte ein und badete darin. Ganz egal, ob ich Jayden mit Fragen über Amerika löcherte, Urkunden und Medaillen vom Turnier mitbrachte oder zur Krankenhausdecke starrte, weil die Infusionsnadel in einer Fußvene steckte. Immer, immer, immer gab er mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, und plötzlich erkannte ich, warum: Dieser Blick, das waren wir. Jayden und Valentina. Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben könnte. Aber auf einmal hatte ich den Durchblick. Auf einmal wusste ich, dass es nie anders sein würde. Sein konnte. Ich verstand alles an ihm. Alles an mir. Und überhaupt. Wenn jetzt einer käme und was von Vererbungslehre erzählen würde, ich war sicher, auch das zu kapieren. Das fühlte sich fantastisch an. Befreiend. Als hätten mir meine Ärzte gesagt, alles wäre ein großer Irrtum gewesen und ich litt gar nicht unter einer tödlichen Krankheit, sondern an was anderem. Etwas weniger Schlimmem. An Asthma vielleicht.
Ich setze mich auf Jaydens Schoß. Saß so dicht auf ihm, dass mich seine Gürtelschnalle zwischen den Beinen drückte.
»Für dich nur das Beste«, sagte er und legte die Hände auf meinen Hintern. »Weil du mich nicht wie ein Schuft dastehen lässt. Als einen, der sein Mädchen im Stich lässt. Du hättest jedes Recht der Welt …«
»Hab ich nicht«, sagte ich und versuchte, das Wasser in meinen Augen wegzublinzeln. »Aber ich will, dass du mir alles schreibst. Hörst du? Ich stell mir das wie ´n Tagebuch vor. Jeden Abend, bevor du ins Bett gehst oder so. Und wenn du ein paar Seiten …«
»Paar Seiten?«
»Doch, doch, doch«, sagte ich und wedelte mit der Hand. »Ich muss mir das vorstellen können. Weißt du? Und Fotos will ich. Haufenweise. Vergiss das nicht. Und …«
»Meine süße, kleine Valle. Du kriegst alles, was du willst von mir.«
Jaydens Worte waren leise und so zärtlich wie seine Lippen und Hände. Die einen lutschten an meinem Ohrläppchen, die anderen fuhren mir unters Shirt.
Mich überkam ein Frösteln. Nur kurz. Nur für die Länge eines Wimpernschlags. Dann stand ich in Flammen. Die Lava im Bauch brodelte, in meinem Unterleib zuckte es. Ich lächelte Jayden an und ließ mich auf den Wollteppich sinken. Räkelte mich. Öffnete die Schenkel. Zog meinen Slip unter dem Rock hervor und warf ihn zu Jayden; doch bevor der auf ihm landen konnte, war Jayden über mir. Seine Haare fielen mir ins Gesicht, weich wie Federn, und streichelten mich. Unsere Zungen spielten miteinander. Waren nass und rau. Der Atem heiß. Ich spürte Jaydens Hände auf meinen Schenkeln, unter dem Rock und stöhnte auf, als er einen Finger in mich schob und ihn langsam bewegte.
Wir grinsten bis hinter die Ohren, weil es sofort anfing zu schmatzen.
Hinter uns raschelte es im Schilf, eine Ente schrie und flog auf. Dann war es wieder still. Nur hin und wieder Musik und Stimmen, die der Wind zu uns herübertrug.
Jayden lag neben mir, hielt mich und küsste die verschwitzte Stelle zwischen meinen Brüsten; ich spielte mit seinen Haaren und unterdrückte ein Gähnen – an Schlaf dachten wir keine Sekunde.
»Mein Salzmädchen«, flüsterte er, und wir lächelten uns an.
»Was meinst du?«, fragte ich, löste mich aus seiner Umarmung und setzte mich. »Ob wir auch zusammen wären, wenn ich diese Sache nicht am Hals hätte?«
Es kitzelte, und ich bekam Gänsehaut, als Jayden mit dem Finger Kringel auf meinen Rücken zeichnete.
»Du und dein Was-wäre-wenn. Das bringt doch nichts.«
»Vielleicht wär ich ja ´ne Andere.«
»´ne große Dicke?«
»Mann, du weißt genau, was ich meine«, sagte ich und merkte erst jetzt, dass die Kreise Buchstaben waren: Er hatte unsere Namen geschrieben und ein Herz darum gemalt.
»Jaja. Und wenn meine Mom kein Heimweh gekriegt hätte?«
»Hat sie aber.«
Jayden stand auf, suchte meine Klamotten und gab sie mir. Nackt stand er da und sah zu mir runter. Sonnengebräunte Haut, mit einem hellen Streifen zwischen Hüfte und Oberschenkel. »Genau. Und du hast diese Sache am Hals. Es is´ wie es is´– leider.«
Er kniete sich vor mich und sank auf die Fersen.
Junge, Junge, Junge. Ich leckte meine Lippen und konnte nicht aufhören, ihm zwischen die Beine zu starren.
Jayden nahm meinen Kopf zwischen die Hände und richtete ihn auf. »Ich weiß, er macht dich kirre. Kannst mir trotzdem zuhören?« Er grinste, und ich grinste zurück. »Lass dir von keinem Doc was einreden. Egal was die sagen: Hör nie auf dran zu glauben, dass es besser werden kann. Verstehst du?«
Als ich nickte, glitten Jaydens Finger über meine Schläfen; hoch und runter.
»Ich hab´s mir überlegt. Das mit den Medikamenten … wer weiß, vielleicht hast du ja recht.«
Jayden bekam große Augen und rief: »Yes, das ist meine Honey. Man muss sie nur ein wenig schubsen.« Er küsste mich und sprang auf. »Zieh dich an, die Fackeln sind fast runter«, sagte er, stieg in seine Shorts, dann in die Jeans und zog mit einem Ruck den Reißverschluss hoch. Dieses Endgültige ließ mich zusammenzucken. Danach hockte er sich an den Rand des Stegs. Ich hörte es plätschern, als er die Füße in den See tauchte, zog mir schnell meine Sachen über und krabbelte zu ihm; rutschte auf seinen Schoß.
»Wenn ich könnte, wie ich wollte, dann würd ich mit dir gehn.«
Jayden sagte nichts, nickte nur und griff nach der Decke, die Carmen vorhin mal gebracht hatte. Er legte sie sich über die Schultern und hüllte uns darin ein.
»Wir hatten so ´ne geile Zeit. Ich hab Angst, dass nichts mehr sein wird, wie es war. Amerika wird dich verändern. Meine Krankheit mich.«
»Die kriegen wir wieder, dafür werd ich sorgen.« Lange sah er mich an. Ein Kranz schwarzer Wimpern um Augen, die sich immer mehr verdunkelten. »Du rufst mich an, wenn´s dir nicht gut geht, ja? Ich komm jederzeit zurück.«
»Versprochen. Hoch und heilig. Mach dir keine Sorgen«, sagte ich und streckte zwei Finger in die Höhe. »Ich werd alles tun, was die Ärzte verlangen. Schließlich muss ich dabei sein, wenn du Nägel mit Köpfen machst.«
Ein Klopfen an der Fahrertür lässt mich zusammenzucken. Carmen fächelt sich mit der Einladungskarte Luft zu und sagt was von einem gottverdammten Jahrhundertsommer. Ich kurble die Scheibe vollends runter und schiele sie an. Carmen lebt mit Zahnlücken-Eric zusammen, hat einen Sohn und seit der Schwangerschaft Übergewicht – nach dem Klassentreffen will sie zu den Weight Watchers.
»Wo bleibst ´n du?« Carmen greift durchs Fenster, legt die Hand unter mein Kinn und zwingt mich, sie anzusehen. »Herrje, hast du geheult?«
»Nee, Zwiebeln geschnitten«, fahre ich sie an, doch Carmen ist nicht gekränkt, grinst nur amüsiert.
»Jay hat nach dir gefragt. Wollt wissen, wann du kommst.«
»Was hast du geantwortet?«, frage ich und lasse sie nicht aus den Augen.
»Na, du wärst so gut wie da«, sagt Carmen. »Interessiert´s dich, was er noch gesagt hat?« Sie wartet meine Antwort nicht ab, redet ungebremst weiter: »›Wetten, dass sie im Auto hockt und heult?‹«
Ihr Lachen ist so wenig damenhaft wie meines, nur schlage ich mir dabei nicht auf die Schenkel.
»Nie im Leben hat er das.«
»Aber so ähnlich«, sagt sie und tupft sich Tränen aus den Wimpern. »Ehrlich. Der wollt gleich rausrennen und dich suchen. Dann fiel ihm ein, dass er nicht weiß, was für ´n Wagen du fährst.« Sie kichert leise. »Er ist total besorgt, Valle. Lass ihn nicht länger zappeln.«
»Und sonst?«
»Ganz der Alte, keine Sorge«, sagt sie und streicht mir über die verheulten Backen. »Redet wie damals, als er in unsere Klasse kam – wie ´n Ami halt.«
»Das mein ich nicht.«
»Was dann? Sandy-Wendy?«
Ich nicke, verknote meine Finger und murmle: »Wir müssen aufpassen, Jay soll nicht mitkriegen, dass wir uns nie ihren Namen merken wollten.«
»Er ist alleine da. Trägt auch keinen Ring.« Carmen schaut zu Boden, als müsse sie Pflastersteine zählen.
»Echt? Mein Armbändchen hat er nur beim Sport ausgezogen.«
»Da kannste mal sehn – er wird dir sicher sagen, was mit ihr is´.«
»Was soll sein?«
»Weiß nicht. Du hast gefragt.«
»Ich wollt wissen, ob die mitgekommen ist. Nicht was mit der los ist.«
»Wie auch immer.« Sie wendet sich zum Gehen, bleibt dann doch stehen und dreht sich noch mal um. »Schneider ist auch da.«
»Hm.«
»Weißt du noch?« Carmen stützt sich auf den Fensterrahmen und scheint auf einmal alle Zeit der Welt zu haben. »Voll auf die Zwölf, nur weil der Wichser dich blöd angelabert hat.«
»Hm.«
»Jay war schon süß. Und sowas von verknallt. Hab dich immer drum beneidet.«
»Ja, Carmen. War und hab. Merkste was?«
Carmen bläst die Backen auf, und ich klammere mich ans Lenkrad. Ich traue ihr zu, dass sie mich aus dem Auto zieht und an sich drückt. Nur bin ich mir nicht sicher, ob sie mich trösten oder zusammenstauchen wird. Meine Gefühlsduselei geht ihr oft schwer auf den Senkel. Doch ich kann entspannen. Sie seufzt nur und sagt: »Ich geh jetzt.«
»Wart mal«, sage ich und halte sie fest. »Klappt das mit dem Rauchen?«
»Freilich. Die gehen auf die Terrasse.«
»Danke, Carmen. Wenn ich dich nicht hätt.«
»Ey, das wär ja was: Zehnjähriges und du nicht mit von der Partie.« Sie wischt sich über die Augen und läuft vom Auto weg.
»Ich werd Jay aber nicht sagen, dass er mir gefehlt hat«, rufe ich ihr hinterher.
»Fünf Minuten. Dann schick ich ihn raus«, droht Carmen, ohne sich noch mal umzudrehen.
Die Gaststätte ist ein Eckhaus, drei Stufen führen zum Eingang. Beim Betreten halte ich gewohnheitsmäßig die Luft an, aber da ist nichts, was mir den Atem nehmen könnte. Unter dem Rundbogen, der das Foyer vom Gastraum trennt, bleibe ich stehen und verschaffe mir einen Überblick.
»Na endlich«, sagt Carmen, die aus dem Nebenzimmer angeschossen kommt. Sie zieht mich hinter sich her und zeigt mir unsere Plätze. »Du sitzt zwischen Jay und mir. ´s gibt gleich Essen.«
Und weg ist sie wieder. Ich bleibe neben dem Stuhl stehen, den Carmen mir zugeteilt hat, und tippe gegen die Lehne. Aus dem hinteren Teil des Saales dröhnt die Heimorgel; ein Alleinunterhalter sitzt davor und singt einen Evergreen. Das kann heiter werden, denke ich und sehe mich nach Jayden um. Ob er getürmt ist, bei der Musik?
»He, Porzellanpuppe«, säuselt jemand, und mir stellen sich die Nackenhaare.
Schneider greift nach meinem Arm und angelt sich den Stuhl, der für Jayden gedacht ist. Seine schiefe Nase lässt mich kalt.
»Das is´Jays Platz«, zische ich. Mit einem Ruck befreie ich mich aus seinem Griff.
»Ich werd heut neben dir sitzen«, sagt er und fasst erneut nach mir. »Das wollt ich die ganze Schulzeit. Aber da war immer der Ami.«
»Verpiss dich«, kommt es von hinten.
Ich bekomme weiche Knie und drehe den Kopf. Lächle ihn an. Seine Locken fallen ihm bis zum Kinn und zwei schokobraune Augen halten sich an mir fest.
»Na hör mal«, protestiert Schneider, »wärst halt früher …«
»Ich sag´s nicht zweimal.« Jaydens Ton spart ihm die Drohung, sein Blick ist eine Liebkosung.
»Bist immer noch ´n Arschloch, Killinger.« Schneider versetzt dem Stuhlbein einen Tritt und sucht sich einen Platz am anderen Ende des Tisches.
Mein Herz schlägt wild. Ich spüre sein Pochen in Hals und Kopf. Reiß dich zusammen Valentina, denke ich und fühle, wie sich siebzig Augenpaare auf uns richten. Ihre Blicke brennen sich in mein Kreuz. Sie alle kennen unsere Romanze, warten darauf, was passieren wird. Jayden reagiert als Erster. Er zieht mich an sich, hebt mich hoch und lacht dabei. Gemeinsam drehen wir uns im Kreis.
»Mensch Valle, ich dacht schon, du kommst nicht mehr«, sagt er mit amerikanischem Akzent, als er mich zurück auf die Füße stellt. »Ich freu mich so, dich zu sehn.«
Er küsst mir Stirn und Wangen und lässt die Finger durch meine Haare gleiten. Seine Faszination für meine roten Fransen habe ich zwar nie verstanden, aber immer gemocht. Ich stehe da wie eine Puppe, lasse alles über mich ergehen und bin auf einen Schlag glücklich. Jayden.
Er tritt einen Schritt zurück und sieht mich lachend an. Ich verzehre mich nach seinem Lächeln. Seinen Grübchen. Es ist, als wäre kein Tag vergangen, seit wir uns zuletzt gesehen haben, und mir wird endgültig bewusst, dass ich nie aufgehört habe, verliebt in ihn zu sein. Meine Nervosität ist verschwunden – man darf nicht alles auf die Medikamente schieben.
Jayden lässt mir Zeit. Hängt seine Daumen in die Gürtellaschen und mustert mich; von der Haarspange bis zu den Sandalen. Das macht mich verlegen. Ich bin klapperdürr, und mein Hintern ist flach. Nie habe ich mich mehr wie eine Porzellanpuppe gefühlt als in den letzten Monaten, und was ich jetzt am wenigsten ertragen kann, ist von ihm so angesehen zu werden.
Auf einmal wird er unruhig, tritt von einem Bein auf das andere, und sein Grinsen bringt mich um. Dann beugt er sich zu mir und flüstert in mein Ohr: »Hey, ich bin Jay.«
Das erlöst mich aus meiner Starre. Ich spüre, wie etwas in mir nachgibt. Es ist nicht nur mein Körper, der aus dem Dornröschenschlaf erwacht. Mit einem Freudenschrei falle ich ihm um den Hals, presse das Gesicht an seinen Kopf. Ich rieche unsere Sommer. Sehe Kirschbäume, Spielplätze, Badeseen. Höre unser Lachen. Meine Augen füllen sich mit Tränen, doch diesmal weine ich aus Freude. Die ersten tropfen auf seinen Nacken, kullern ihm ins Hemd. Jayden zuckt nicht mal zusammen, drückt mich stattdessen fest an seine Brust.
»Du hast mir gefehlt«, sage ich und küsse ihn auf den Mund. Sandy hin, Wendy her. Schließlich habe ich ältere Rechte. »Gott, wie du mir gefehlt hast, Jaydi.«
Neben uns kichert Carmen.
Jayden wartet, bis ich Platz genommen habe, ehe er sich zu mir setzt. »Valle, ich muss …«
Weiter kommt er nicht. Unser ehemaliger Klassensprecher steht neben der Bontempi und langt zum Mikrofon. Er bedankt sich, dass so viele aus der Jahrgangsstufe zum Treffen erschienen sind. Begrüßt die drei Lehrer und unterhält uns mit Anekdoten aus der Schulzeit. Jayden rutscht auf seinem Stuhl herum, und ich höre nicht richtig zu, spiele mit dem Saum der Tischdecke und frage mich, was er mir sagen wollte.
Als die Leute im Saal anfangen zu lachen, erschrecke ich. Auch Carmen und Jayden schmunzeln. Ich habe nicht mal mitbekommen, was da Witziges erzählt wurde: Ein Faden am Tischtuch braucht meine Aufmerksamkeit. Jayden greift nach meiner Hand. Legt sie auf den Tisch und hält sie fest. Ich lächle ihn an. Dann findet Tommy ein Ende. Er wünscht allen einen schönen Abend, schaut rüber, sieht unser beider Hände und fängt an, zu zwinkern und zu zappeln, als leide er unter einer Nervenkrankheit. Dann sagt er, wie sehr es ihn freue, dass Jayden in die Heimat zurückgekehrt sei.
Mein Kopf fährt herum. Mit aufgerissenem Mund starre ich Jayden an.
»Fuck«, murmelt der und sieht kopfschüttelnd zu Tommy.
»Du bleibst?«, frage ich und ramme mir die Fingernägel in den Schenkel.
Jaydens Lächeln ist schief. »Ja, ich bin wieder zu Hause.«
»Und deine Frau …? Was will eine Amerikanerin …? Ist Sandy-Wen ...?«
»Cindy. Meine Frau hieß Cindy, und sie …«
»Hieß? Großer Gott, Jay!«
Mir bleibt kurz die Luft weg, und ich spüre, wie Magensäure in meine Kehle hochsteigt. Ich habe nie aufgehört, auf seine Rückkehr zu hoffen, und immer davon geträumt, wie er eines Tages mit dem Koffer in der Hand vor meiner Tür steht. Bis ins kleinste Detail habe ich mir die verschiedensten Beziehungskisten ausgemalt. An den Tod seiner Frau habe ich dabei aber nie gedacht – niemals.
»Das tut mir sehr leid«, sage ich.
Jayden sieht mich mit großen Augen an, dann hebt er die Hand. »Nein. Hey, beruhige dich, es wird nicht immer gestorben. Ich hab mich von ihr getrennt – die Scheidung läuft.«
»Getrennt? Scheidung?« Meine Stimme ist schrill, und ich komme mir wie ein Papagei vor. »Du wusstest davon. Eric und Bernd auch«, schnauze ich Carmen an.
Sie zuckt mit den Schultern. »Aber erst seit gestern.«
»Und hast mir nichts gesagt?« Wütend will ich aufstehen.
»Geh nicht. Bitte«, sagt Jayden.
Sowohl er als auch Carmen krallen sich in meinen Arm. Drücken mich auf den Stuhl.
»Reg dich ab und denk nach«, zischt Carmen und ihre Augen schießen giftige Pfeile auf mich ab. »Außerdem ...«
»… hab ich sie und die Jungs drum gebeten. Ich wollt´s dir selbst sagen.« Jayden starrt auf seine Hand, die mich dort umklammert hält, wo in einem anderen Leben ein ausgeprägter Trizeps war. Er löst den Griff und streichelt die roten Abdrücke, die seine Finger hinterlassen haben.
»Du bist ausgeflippt und wolltest nicht, dass wir über Jay reden. Du hast gedroht, uns die Freundschaft zu kündigen«, sagt Carmen und tippt bei jedem Du auf meine Brust. »Nun sei nicht eingeschnappt, wenn wir uns dran gehalten haben.«
Ich beiße mir auf die Lippe und schiele sie an. Ihr Ausschnitt ist für meinen Geschmack zu gewagt, das Gesicht gerötet.
»Jaja, schon gut«, murmle ich.
»Wie meinen?«, fragt Carmen und hält eine Hand hinter ihr Ohr.
»Du hast recht.«
»Ich raff nur nicht, warum du ihn erst heute triffst«, sagt sie und redet, als wäre ich fünf. »Da heulst du dir jahrelang die Augen nach ihm aus, dann ruft er vom Flughafen an, will dich gleich sehen und du sagst: ›Nö, erst am Klassentreffen.‹ Echt Valle, das kapier, wer will.«
Ich fühle mich wie ein in die Enge getriebenes Tier. Links von mir Carmen, die vieles an mir nie verstehen wird, und zu meiner Rechten Jayden, den ich vor den Kopf gestoßen habe. Ich sehe von ihm zu ihr und von ihr zu ihm und weiß nicht, was ich sagen soll.
»Mach dir keine Gedanken – ´s ist alles okay«, sagt Jayden und lächelt mich an.
»Hätt ich ihn … also bei mir oder bei euch … ich wär nur am Flennen gewesen«, sage ich zu Carmen.
»Ja und? Als wenn wir dich noch nie …«
»Enough of that!«
Jayden legt einen Arm um meine Rückenlehne, den anderen auf den Tisch und beugt sich an mir vorbei zu Carmen. Während ich noch am Grübeln bin, ob es seine Absicht war, mich dabei mit den Haaren zu streifen, pflaumt er sie an: »Ich hab gesagt, du sollst da nicht drauf rumhacken – Valle muss das machen, wie´s gut für sie ist und basta.«
Carmen klimpert mit den Wimpern, sagt: »Also echt, kaum biste zurück, Killinger …«, und stößt mich in die Seite.
Sie ist die beste Freundin der Welt. Nicht nur, dass sie Jaydens Trauung hat sausen lassen, um mich trösten zu können; ohne ihre Hilfe beim Putzen und Einkaufen hätte ich längst wieder bei Mama und Papa unterkriechen müssen, weil ich oft nicht in der Lage bin, meinen kleinen Haushalt alleine zu versorgen.
Die Gardinen blähen sich auf. Im Lokal sind alle Fenster weit geöffnet, doch es ist, als würde jemand heiße Luft hereinblasen. Es riecht nach Gewürzen und Frittierfett; Deodorant und Schweiß.
Während Carmen und Jayden sich mit Appetit über den Hauptgang hermachen, stochere ich lustlos darin herum. Ich habe schon lange einen Weight Watcher. Er nennt sich Ernährungsberater und wird von der Krankenkasse bezahlt. Für ihn protokolliere ich Mahlzeiten und Gewicht; er zählt Kalorien und sagt, ich müsse doppelt so viel essen – mindestens. Bla, bla, bla. Wie soll das gehen, wenn eine Lungenentzündung die nächste ablöst, ein Krankenhausaufenthalt dem anderen folgt und ich an drei Tagen mehr abnehme, als ich im gesamten Monat zunehmen kann?
Aber ich weiß jetzt, was Sache ist: Ich stehe mit dem Rücken zur Wand. Muss mich entscheiden, ob ich leben oder sterben will. Es gibt nur eine Option.
»Erzählst du mir, was passiert ist?«, frage ich Jayden, als er den Teller zurückschiebt.
Er springt so hastig auf, dass sein Stuhl dabei zu Boden fällt.
»Komm«, sagt er und nimmt meine Hand.
Die Straßenlampe ist kaputt, und es dauert eine Weile, bis ich den Autoschlüssel aus meiner Tasche gekramt habe.
Jayden dreht erst die Kurbel fürs Seitenfenster, bevor er sich auf den Beifahrersitz fallen lässt.
»´s kühlt null ab«, sagt er. Die oberen Hemdknöpfe hat er längst geöffnet, den Schlips entknotet. Jetzt zieht er ihn vom Hals und wirft ihn auf die Rückbank. »Hast du noch was vor?«, fragt er und zeigt mit dem Daumen nach hinten, zu meinem Rucksack.
Ich schüttle den Kopf. »Is ´ne Sauerstoffflasche drin – für den Notfall.«
»Oh.«
Ja, »oh«. So weit ist es gekommen, denke ich und lasse mich ins Polster sinken. Mir kommt der Tag kurz nach meinem neunten Geburtstag in den Sinn, als man mir sagte, mit viel Glück könne ich zwanzig werden; und was Jayden mal über die Forschung prophezeite und wie er damit ins Schwarze getroffen hatte, denn als ich zwanzig war, hieß es, die Leute werden inzwischen sogar dreißig, und heute? Ja, heute fühle ich mich um drei Jahre meines Lebens betrogen. Scheiße, Scheiße, Scheiße – wer stirbt schon gern vor seiner Zeit?
Dass ich das Lenkrad ohrfeige, merke ich erst, als Jayden nach meinen Händen greift. »Soll ich fahren?«
»Geht schon. Wohin?«
»Baggersee«, sagt er, und ich spüre seinen Blick auf mir.
Ich nicke und fahre los.
»Silke ist gestorben. Schon gehört?«, frage ich, als wir am Friedhof vorbeikommen. »Vor ´nem Vierteljahr oder so. Hatte Brustkrebs.«
»Silke?«
»Die Blonde aus ´m Eisstadion.«
»Ach die. Nee, wir kannten die ja kaum.«
»Ich war auf der Beerdigung.«
Er knetet seine Finger und sagt: »Du hast sie nie gemocht.«
Ich starre auf die beiden Lichtkegel vor mir. Sie fressen die Dunkelheit auf wie Keime meine Lunge.
»Die war doch immer gesund – immer gesund war die.«
Jayden macht sich am Radiogerät zu schaffen, erkennt, dass eine Kassette im Schacht steckt, und lässt sie heraushüpfen.
»›Jaydis Best of AC/DC‹«, liest er, was ich vor hundert Jahren auf das Etikett geschrieben habe. »Du weißt, dass es die inzwischen als CD gibt?«
»Deine Bänder sind mir lieber.«
Er sieht mich lange an. Doch im Auto ist es dunkel, seinen Blick kann ich nicht deuten.
»Ich hätt nie weggehen dürfen.«
»Wir hatten es fast geschafft, hab mich schon wie Bolle auf dich gefreut. Nee Jay, du hättest nichts mit dem Mädel anfangen dürfen.«
Jayden nickt; mit hängendem Kopf und aufeinandergepressten Lippen. »Das mit Cindy … Es war nicht wie bei dir und mir«, sagt er leise. »Es tut mir leid, ich wollt dir nie Kummer machen.«
»Kummer«, murmle ich und denke daran, wie mein Leben den Bach runtergegangen ist: Ausbildung geschmissen, an nichts mehr Freude gehabt, beim Psychologen gelandet. Man hätte auch Katastrophe dazu sagen können. Aber kleinlich war ich noch nie. »Hauptsache du bist jetzt da – nur das zählt.«
Sein Kopf ruckt hoch. »Wie? So einfach ist das für dich?«
»Nein, nicht einfach. Hab nur keine Kraft für Kompliziertes.«
Ich biege links ab, fahre an ein paar Wochenendhäusern vorbei und parke am Ende der Straße. Mir geht vieles durch den Kopf. Ich will fragen und erklären. Buchstaben und Worte wuseln in meinen Hirnwindungen herum wie Labormäuse in einem Labyrinth; nichts lässt sich greifen. Nichts in Sätze fassen.
»Steck das Band wieder rein«, sage ich stattdessen. »Ich muss die Flippers aus den Ohren kriegen.«
Bon Scott singt Little Lover(5) und unsere Blicke treffen sich; wir grinsen uns an.
»Das war … das war das Verrückteste, was du je mit mir gemacht hast.« Jayden beugt sich rüber und legt die Hand auf meine Wange. Sein Atem ist ein Knoblauch-Pfefferminz-Gemisch und streichelt mein Gesicht.
»Von mir aus hätt das ewig mit uns weitergehen können«, sage ich, und als er seine Hand wegnehmen will, halte ich sie fest. »Es war ja nicht so, dass mich keiner gewarnt hätte. Sogar Carmen hat gefrotzelt und von Ami-Mädels geredet, die dir schöne Augen machen. Aber«, ich kralle meine Nägel in sein Handgelenk, »ich hab nur darüber gelacht. Nie Jay, nie, nie, nie hab ich geglaubt, dass das passiert.« Ich schließe kurz die Augen und flüstere: »Es hat sich angefühlt, als wärst du tot.«
In meinem Hals bildet sich ein Kloß, und Kälte macht sich breit – wie immer, wenn ich es nicht schaffe, die Leere in mir auszublenden. »Nachdem du … Ich wusste nichts mit mir anzufangen. Da war nichts, was mich angetrieben hätte«, sage ich. »Ich war … einsam, ohne dich … und verlassen.«
Jaydens Stimme klingt rau. »Ich weiß, Valle. Konnt mir ja denken, wie du …«
Kopfschüttelnd studiert er mein Gesicht, als sähe er es zum ersten Mal, und ich bekomme eine Ahnung davon, wie sehr auch er gelitten haben muss. »Bernd hat mir viel erzählt. Von Atemnot und Panikattacken. Dem Zoff mit deinen Eltern, und wie du dich eingeigelt hast.« Er nimmt meine Hand, rutscht zurück auf den Sitz und sieht mich von der Seite an.
Ich beiße mir innen auf die Backen, kneife die Augen zusammen und reiße sie wieder auf. Nur nicht heulen. Bitte, nicht heulen.
»Ich hab … mir oft gewünscht, … dass sich … meine Lunge verschlechtert«, sage ich leise. »Mich … nach Ruhe gesehnt … und dass … es vorbeigeht.«
Jayden lehnt sich zurück. Sein Gesicht ist starr und ausdruckslos wie eine Maske. Er hat meine Hand auf seinen Schenkel gelegt und die Finger darum geschlossen, als wolle er sie beschützen.
Tränen laufen mir übers Gesicht. Einfach so. Ich kann nichts dagegen tun. Als flöge etwas durch die Luft, das in den Augen reizt. Mit der freien Hand taste ich zum Seitenfach und fische ein Taschentuch heraus. Vorsichtig, ohne den anderen Arm zu bewegen. Ich will Jayden nicht meine Hand entziehen. Es scheint, als bräuchte auch er etwas, woran er sich festhalten kann. Ich trockne mein Gesicht, schnäuze die Nase. Atme durch.
Jayden streichelt meine Hand und starrt in die Nacht. »Was geschehen ist, kann ich nicht rückgängig machen«, sagt er leise. »Aber wenn du mich lässt, dann mach ich´s wieder gut.«
Wir schweigen und hören von Bon, dass der Lover sich schwer damit tut, jemanden zu finden, der ihm das gibt, was er braucht.
Ich mach´s wieder gut. In fast jedem meiner Gedanken habe ich ihn das sagen hören. Wenn er noch der Jayden ist, den ich mal kannte, dann wird ihm das gelingen. Denn trotz allem bin ich die Valentina, die nichts anderes will, als mit ihm zusammen zu sein.
Ich nicke, zeige auf das Radio und summe die Melodie.
»Hast ´ne knallrote Rübe gekriegt.«
Jayden schnappt nach Luft, als hätte ich ihn vor dem Ertrinken gerettet, und lächelt mich an. »Als wenn das noch möglich gewesen wäre. Echt Valle, kein Mädchen lacht so dreckig wie du.«
Ich grinse und öffne die Autotür. »Gehn wir ein Stück?«
»Wenn´s dir nicht zu viel wird.«
»Heut ist ein guter Tag. Bin gedopt bis untern Pony.«
Schweigend laufen wir zum See. Ich hake mich bei Jayden unter und bestimme das Tempo; er die Richtung. Seine Haare sind am Ansatz feucht, und dort, wo sich unsere Arme berühren, klebt die Haut.
Zu unserer Anlegestelle bin ich nie wieder gegangen. Jetzt bleiben wir davor stehen. Ich löse mich von Jayden, bleibe zurück, während er den Steg betritt. Selbst von Weitem kann ich sehen, dass es nicht mehr der von damals ist. Die Pfähle sind neu, die Planken auch.
Nichts bleibt, wie es war, denke ich. Nicht mal ein blöder Bootssteg.
Ich beobachte Jayden, der über den See starrt. Groß, braungebrannt und muskulös ist er; seine Pobacken immer noch zum Reinbeißen. Breitbeinig steht er da und sieht sich um. Keine Spur von Anspannung, und ich wüsste gerne, woran er denkt. Er schiebt die Hände in seine Hosentaschen, dreht sich um und kommt zurück.
»Ich hätt wirklich die nächste Maschine nehmen können – wär kein Ding gewesen«, sagt er unvermittelt, und ich zucke zusammen. Seinen Blick erkenne ich wieder. Es ist der, der mich mal glauben ließ, es könne nie anders sein zwischen uns. Mir wird erst kalt, dann heiß. Ich weiß nicht, wohin mit meinen Händen und reibe sie an der Hose.
»Ich wusste erst nicht …«, sage ich. » … also ob´s dich … aber ich hab´s dir ja versprochen … und … also … du hast mich mal gemocht … und das Klassentreffen … hätt ich´s nicht vergessen … also …«
»Sch … sch.« Jayden legt die Hände auf meine Schultern, und wäre ich nicht so ein Gerippe, würde er jetzt sicher an ihnen rütteln.
»Das war gut«, sagt er. »Richtig gut, und genau das, was ich gebraucht hab.«
Unruhig spiele ich mit dem Kies. Kicke Steinchen vom linken Schuh zum rechten und wieder zurück. Wie schlimm das war, seine Stimme zu hören. Und wie er sich zuerst gefreut und dann erschreckt hat.
»Gebraucht?«
Der Mond spiegelt sich im See und erhellt die Nacht. Hand in Hand stehen wir am Ufer. Jayden redet über seine Ehe. Erzählt von Schmetterlingen im Bauch und Glückseligkeit. Aber auch von Enttäuschung, Streit und Resignation. Mein Herz fängt an zu rasen, als er sagt, er habe mich vermisst. Die Atmung verändert sich, wird hektischer. Doch ich bewahre Ruhe, gerate nicht in Panik und beglückwünsche mich zu meiner Entscheidung am Morgen. Jaydens Blick ruht auf mir. Ich komme mir vor wie Mutter Teresa oder Lady Di, und meine verrückt gewordene Pumpe jagt das Blut mit einem Druck durch die Venen, der Ohrensausen erzeugt: Ich kann kaum verstehen, was er sagt.
»Dein Anruf hat mich wachgerüttelt. Dran erinnert, zu wem ich gehöre.« Jayden drückt meine Hand, als habe er Angst, ich liefe davon. Es tut weh, aber nur ein bisschen. »Die Zeit war knapp, und Cindy hat … Schwierigkeiten gemacht. Ich wollt nicht, dass du dich noch mehr aufregst. Drum hab ich keinem was gesagt.«
Ich will schreien vor Freude, fühle mich aber zu schwach dazu – mein Herz schlägt noch immer Flickflacks. Lieber lehne ich mich an Jaydens Brust und schließe die Augen; seinen Herzschlag höre und spüre ich gleichzeitig. Er hebt die Hand und streichelt mein Haar. Langsam, von oben nach unten, immer in diese Richtung. Ich rieche den Schweiß auf seiner Haut; Rasierwasser, Pfefferminze, und plötzlich ist mir, als hätte ich einen Schlag bekommen, wie wenn man an ein beschädigtes Kabel fasst. Auf einmal ist da ein Empfinden, ganz intensiv. Ich kann es nicht zuordnen. Es ist fremd, aber irgendwie auch so vertraut, dass mir heiß wird. Dazu noch ein Bild in meinem Kopf: Ich sehe mich vor meinem Turngerät stehen. Die Handflächen weiß gepudert, meine Augen geschlossen; ich bin bereit, warte auf das Zeichen. Und jetzt erkenne ich auch das Gefühl. Es ist Ehrgeiz, und der unbedingte Wille, zu siegen.
Ich seufze. Finde keine Erklärung, warum ausgerechnet diese Erinnerung hochkam, und presse mich an Jayden. Schiebe die Hände in seine Gesäßtaschen. Taste über pralle Rundungen.
»Ey, befummelst du meinen Arsch?«
Ich grinse und schüttle den Kopf.
»Doch, du bist ´ne Grapscherin«, sagt er und zwickt mich in die Seite – sehr, sehr, sehr behutsam. Ich kichere, fasse nach seinen Armen und lege sie mir um die Taille.
»Du darfst mich nachher kitzeln.«
Wie von selbst streckt sich mein Körper. Die Fersen heben ab, bis es in den Waden zieht, der Kopf legt sich zurück. Doch weiter als bis zu seinem Hals komme ich mit den Lippen nicht. »Und bevor du mit Singen anfängst – da gibt´s was, das kannst du tausendmal besser.«
»Ja, ich reite fantastisch Pferde zu. Fange dir jedes Rind mit dem Lasso und schieße …«
»Halt mir keinen Vortrag und küss mich endlich.«
Jayden lächelt, streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und trägt mich zum Steg.
Meine Beine baumeln über dem Wasserspiegel, Jaydens hängen im See. Seine Brust hebt und senkt sich langsam. Während er einen Atemzug nimmt, nehme ich zwei; mein Atemvolumen ist zwar gering, doch der Fluss ruhig und gleichmäßig. Er schwitzt mehr als ich. Taucht sein Hemd ins Wasser, hält es über den Kopf und lässt sich nass regnen. Dass ich ein paar Spritzer abbekomme, ist mir egal. Wenn es kurz vor Mitternacht noch warm wie im Frühjahr ist, werde ich bei sowas nicht hysterisch.
Ich lege den Kopf schräg und sehe zu Jayden. Seine Kiefer sind zusammengepresst, der Blick huscht hin und her. Am Telefon habe ich gesagt, wie dreckig es mir geht, und ich weiß, das macht ihm Angst. Aber er wird mich nicht drängen, auch das weiß ich.
»Hab Kortison intus, das für ´nen Elefanten reichen würde«, beginne ich. »Kein Husten, kein Rasseln, keine Kurzatmigkeit – könnt mich dran gewöhnen. Aber …«
Er legt das Hemd zur Seite. Seine Augen erscheinen mir größer, die gebräunte Haut blasser. »Aber was? Du hast von Untersuchungen erzählt, die gemacht werden sollten.«
»Vielleicht brauch ich das Zeug nicht mehr. Gestern haben wir die Ergebnisse besprochen. Ich glaube, es gibt … gute Nachrichten.«
Mir wird schwindelig, denn wie ich es ausspreche, fange ich an zu begreifen, dass da Hoffnung in mir ist. »Der Doktor sagte, mein Krankheitsverlauf sei untypisch, weil hauptsächlich an der rechten Lungenhälfte Veränderungen sind.«
»Das … das hört sich fantastisch an«, sagt Jayden und legt den Arm um meine Schultern.
»Aber dort ist das Lungengewebe total kaputt, und wenn nichts passiert, werden die Entzündungen auf die andere Seite übergreifen.«
»Transplantation?«, fragt er, und ich höre, wie er den Atem anhält.
»Nein«, sage ich schnell. »Amputation.«
»Was?«
»Sie wollen den Lungenflügel entfernen.«
Ich rutsche auf Jaydens Schoß und lege die Hand auf sein Brustbein. Die Haut ist nass, und darunter fühlt es sich fest an, aber nicht knochig wie bei mir.
»Hier sollen sie voneinander getrennt werden. Und von da …«, ich ziehe mit dem Finger eine Linie von Schulterblatt zu Achselhöhle und fahre weiter zu seiner Brust »… bis da wird aufgeschnitten. Sie müssen mir ein paar Rippen brechen, um an die Lunge zu kommen.«
Jayden räuspert sich. »Was noch?«
»Ich werd viel Blut verlieren, weil man nur im Notfall Konserven kriegt. Vorher spenden würd mich aber schwächen.«
»Hm«, macht er und nickt.
»Das Pipapo mit Medikamenten, Atemgymnastik und Krankenhaus werd ich nie los – meine Lunge ist und bleibt krank. Aber die meinen, wenn ich mich ranhalte, kann ich aus der trotzdem was rausholen und wieder Sport machen.«
»Und tanzen. Wirst sehen, wir spielen die alten Platten und rocken ab.«
Jayden sieht in den Himmel, wo uns ein großer, runder Mond angrinst. Um ihn herum, silbrig glänzend, Tausende von Sternen.
»Wie geht’s jetzt weiter?«, fragt er nach einer Weile. Sein Blick ist ängstlich, und ich schäme mich, auch nur einen Moment an die andere Möglichkeit gedacht zu haben.
»Montag wollen sie Bescheid, dann wird der Termin gemacht. Die Operation - das wird ´ne große Sache. Hab ´nen Riesenbammel davor.«
»Ich auch. Aber ich will nicht dran denken, was sonst passiert.«
Ich küsse seine Brust. Höre seinen Herzschlag und Atem und seufze. Mein Jayden. Tausendfach verstärkt nehme ich alles an ihm wahr und stelle fest, wie sehr sich mein Leben in den letzten Stunden verändert hat.
»Es hat … es hat nie aufgehört weh zu tun«, sage ich leise und reibe mir den Unterarm. Die Narbe ist klein, sie hat keinen stutzig werden lassen.
Er vergräbt das Gesicht in meinem Haar. »Ich weiß. Aber jetzt ist´s vorbei, das garantiere ich dir.«
Ich lehne mich zurück und sehe ihn an. Da sind feine, fächerförmige Linien um seine Augenwinkel und dunkle Stoppeln an Wangen, Kinn und über der Oberlippe. Seltsam, erst jetzt fällt mir auf, dass er in meiner Vorstellung immer ein Teenager gewesen ist.
»Hört sich gut an«, sage ich und lächle. »Es ist schön, eine Zukunft zu haben. Eine mit dir.«
Wir sitzen eng beieinander, und ich wünsche mir, die Nacht möge nie zu Ende gehen. Morgen wird wieder alles beim Alten und doch ganz neu sein.
Jayden schüttelt seine Haare wie ein Headbanger und spritzt mich nass. Ich lache, fühle mich leicht und schwerelos und denke an die Kinder und Jugendlichen, die ich im Krankenhaus kennengelernt habe – viele von ihnen leben heute nicht mehr. Wie glücklich sie gewesen wären über die Chance einer lebensverlängernden Operation.
Mit einer Entschlossenheit, wie ich sie lange nicht hatte, stehe ich auf und ziehe an Jaydens Arm. »Wo wohnst ´n du eigentlich?«
»Daheim. In meinem alten Zimmer.« Er grinst und springt hoch.
»Deine Mom ist sicher froh, dich wiederzuhaben.«
»Das kannst du laut sagen.«
»Deine Mom ist sicher froh …«, schreie ich in die Nacht, und Jayden wirbelt mit mir herum, bis ich um Gnade bitte. Unser Lachen ist das von übermütigen Kindern.
»Meinst du, sie kann auf dich verzichten?«
»Sie wird´s müssen, Honey.«
Ein Wassertropfen löst sich von seiner Stirn und rinnt die Schläfe entlang. Ich wische mit dem Finger darüber und lecke ihn ab. Jaydens Lippen an meinem Hals sind angenehm kühl.
Kichernd ziehe ich ihn hinter mir her. »Auf geht´s, Killinger. Du hast uns eine geile Zeit versprochen. Sieht aus, als hättest du jede Menge zu tun.«
Quellenangabe
Wer nun Lust zum Rocken bekommen hat, die in der Geschichte genannten Songs und Songtexte stammen aus der Bon-Scott-Ära der australischen Hard-Rock-Band AC/DC.
Im Einzelnen sind das:
1 Love Song aus High Voltage (1975 Australien)
2 Let There Be Rock aus Let There Be Rock (1977 Australien)
3 Whole Lotta Rosie aus Let There Be Rock (1977 Australien)
4 She´s Got Balls aus High Voltage (1975 Australien)
5 Little Lover aus High Voltage (1975 Australien)