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Geräusche
Es war endlich 22 Uhr. Oh, wie aufgeregt Ellie war, als auf dem Fernseher die Durchsage lief.
„Dieser Film ist für Zuschauer unter 16 Jahren nicht geeignet.“
Eigentlich erlaubten ihre Eltern ihr nie, Gruselfilme zu schauen. Aber die waren heute nicht da, also hatte Ellie es sich mit ihrer flauschigen Decke auf dem Sofa bequem gemacht. Aufgeregt und ihren Eltern gegenüber ein bisschen schuldbewusst hatte sie den Fernseher gestartet.
„Pah!“, dachte sie sich „ich bin 10 und kein kleines Kind mehr! Ich beweise ihnen jetzt, dass ich mir das ansehen kann!“
Als der Film endete, hatte Ellie einige Male laut aufgeschrien, sie hatte sich phasenweise tief in die Decke vergraben, aber sie hatte sich immer daran erinnert, dass das nur ein Film sei. Der gruselige Mann mit den Silberzähnen war nur Fiktion, alles nur ausgedacht.
Als Ellie sich ihre Zähne putzte, musste sie noch einmal an das silberne Grinsen des Mannes aus dem Film denken. Sie sah sich im Spiegel an und reckte stolz die Zunge heraus, als blicke von dort nicht sie, sondern der Mann aus dem Film zurück. Sie hatte es bewiesen, dass sie mit so etwas umgehen kann. Morgen würde sie es ihren Eltern erzählen. Die würden sie zwar wahrscheinlich dafür ausschimpfen, aber sie konnten es ihr in Zukunft nicht mehr verbieten, da Ellie sich nun bewiesen hatte.
Lächelnd ging sie die Holztreppe hoch auf ihr Zimmer. Die Dielen im Flur knarzten unter ihren Füßen. Sie hob ihren Pyjama auf, schlüpfte hinein, schloss das gekippte Fenster und zog die Gardinen zu. Sie blickte sich kurz um. Der große Schrank, die kleine Galerie mit ihren geliebten Büchern, der Schreibtisch mit der kaputten Uhr, daneben ihre Garderobe und ihr kleines Regal. Was sollte hier schon sein. Hier war sie sicher.
Sie legte sich hin, zog das Laken bis zum Kinn, machte das Licht aus und kuschelte sich in eine bequeme Position. Mit geschlossenen Augen dachte sie über ihren Erfolg nach. Ihre Mutter würde bestimmt sauer sein, aber ihr Vater wäre wahrscheinlich sogar stolz auf sein tapferes Mädchen. Er würde die Mutter sicher beim Ausschimpfen unterstützen, aber nur, weil er sonst selber ausgeschimpft würde. Oh, und wie große Augen ihre Freundinnen wohl machen werden, wenn sie ihnen das erzählt! Sie könnte ihnen die ganze große Pause lang davon erzählen. „Das wird toll!“, dachte sich Ellie. „Da kann Julia mit ihrem neuen Tamagotchi aber mal einpacken, das wird mein Tag!“ Sie dachte noch eine Weile darüber nach, wie sie den Film schildern würde, wie sie alles formulieren könnte und wie ihre einzelnen Freundinnen reagieren würden. Und dabei fiel sie langsam in einen glücklichen Halbschlaf.
Bis sie ein Ticken hörte. Urplötzlich war Ellie hellwach. Wo war das hergekommen? Sie spitzte die Ohren und lauschte angestrengt auf jeden Laut, doch nichts rührte sich. Hatte die leere Batterie ihrer Uhr noch einmal einen letzten Schwung ausgelöst? Oder hatte sie schon geträumt? Sie entspannte sich etwas und horchte weiter. Nichts. Beruhigt schloss sie die Augen wieder, horchte noch eine Weile weiter und verfiel schließlich erneut langsam in einen sanften Halbschlaf.
Ein Rascheln, ein Aufprall, ein Scheppern. Ellie schreckte hoch, schlang die Decke fest um sich und starrte zitternd in den dunklen Raum. Sie konnte nichts erkennen. Angespannt wartete sie ab. Schließlich atmete sie einmal tief durch, schloss die Augen und zog an der Schnur ihrer Nachttischlampe. Der Raum war leer. Sie brauchte kurz, um zu erkennen, wo der Lärm hergekommen war. Ihr Schal war vom Haken gerutscht und hatte sich beim Herunterfallen offenbar in ihrer Stiftebox auf dem Schreibtisch verhakt. Nun lagen alle Stifte auf dem Boden verstreut und die blecherne Box war an einer Seite eingedellt.
Ellie sah sich noch einmal im Zimmer um. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Zögerlich schob sie einen Fuß aus dem Bett, ihren zweiten hinterher. Obwohl das Licht noch an war, horchte sie auf jedes Geräusch im Haus. Noch immer: Nichts. Langsam stand sie auf, legte den Schal zur Seite, räumte ihre Stifte wieder in die Box und stellte sie wieder auf den Schreibtisch, dieses Mal aber in die Mitte.
Als Ellie fertig war, sah sie sich nochmal skeptisch im Zimmer um. Mit einem Seufzen trat sie ans Fenster und öffnete die Gardinen. Eigentlich mochte sie es dunkel im Zimmer, aber das schwache Licht des Halbmonds würde sie gerade doch etwas beruhigen. Für einen kurzen Moment blickte sie ruhig hinaus auf das Dach des Nachbarhauses und darüber hinweg. Alles war ruhig, nur leise hörte sie aus der Ferne einen aufheulenden Motor.
Erleichtert legte sie sich erneut ins Bett, schaute sich nochmal kurz um, schloss die Augen und riss sie sofort wieder auf. Da war etwas gewesen! An ihrem Schreibtischstuhl! Es hatte sie angesehen, als sie gerade die Augen geschlossen hatte! Am ganzen Körper erstarrt blickte sie angestrengt ihren Stuhl im Halbdunkel an. Da blickte sie nichts mehr an. Aber da war eine merkwürdige Form. Was war das? War da etwas auf ihrem Stuhl? Sie wagte es nicht zu atmen, war bis zur letzten Faser ihres Körpers angespannt, starrte auf den Stuhl und wartete darauf, dass er sich bewegen würde.
Doch nichts geschah. Ellie war schweißgebadet. Langsam schob sie ihre Hand wieder zur Nachttisch-Lampe und schaltete sie an. Der Schal. Sie hatte den Schal über den Stuhl gehängt. Deshalb sah er so komisch aus. Ellie ärgerte sich über sich selbst. Sie hatte doch beweisen wollen, dass sie kein ängstliches Kind mehr ist und jetzt kann sie nicht einschlafen und erschrickt sogar vor ihrem Schal. Sie schaltete das Licht wieder aus, murmelte genervt vor sich hin, drehte sich im Bett um und schloss ein weiteres Mal die Augen. Das konnte doch nicht wahr sein, dass sie sich jetzt wegen ihres Schals halb in die Hosen gemacht hatte.
Ihr Ärger war noch nicht verraucht, als ein lautes Knarzen aus dem Flur kam. Ellie erstarrte erneut. Sie hätte sich nicht umdrehen sollen. Sonst hätte sie jetzt nämlich die Tür im Blick. So lag sie nur erneut reglos da und lauschte. Sie hörte, wie etwas von draußen die Tür berührte. Ihr Türschloss schliff langsam über den Rahmen. Ellie war vor Panik und Angst starr wie Eis. Tränen stiegen ihr in die Augen. Ihre Muskeln verkrampften. Mit einem leisen Klacken öffnete sich die Tür. Ellie nahm all ihren Mut zusammen, drehte sich schlagartig im Bett herum, zog am Lichtschalter ihres Nachtlichts und blickte zur Tür.
„MAMA!“, schrie sie überrascht. Ihre Mutter stand in der Tür und wich überrascht ein Stück zurück. Ellies Magen machte einen kleinen Hüpfer vor Erleichterung, während sich ihr Kopf darüber ärgerte, dass sich ihre Mutter so angeschlichen hatte und dass sie nicht bemerkt hatte, wie ihre Eltern heimkamen.
„Entschuldige Ellie, ich wollte nur sehen, ob bei dir alles in Ordnung ist und du schon schläfst“, sagte ihre Mutter in sanftem Ton. Ellie sah sie kurz an und gab dann genervt zurück: „Jaaah… Alles gut Mama, du musst nicht immer auf mich aufpassen. Ich kann schon alleine einschlafen.“ – „Dann ist es ja gut. Gute Nacht, Schatz, und schlaf gut“, sagte ihre Mutter weiter in sanftem Ton. „Gute Nacht, Mama“, murmelte Ellie zurück.
Ihre Mutter schloss die Tür und als sie zur Treppe ging, hörte Ellie wieder den Flurboden knarzen. Sie legte sich ein weiteres Mal hin. Ihre Eltern waren da. Alles war gut. Halb war sie froh nicht mehr allein zu sein, halb ärgerte sie sich darüber, dass sie so froh war. Sie warf einen letzten Blick in ihr Zimmer und schloss erneut die Augen. Sie horchte noch ein bisschen, hörte noch leise, dass ihre Eltern im Erdgeschoss redeten. Sie hörte, wie sie zum Zähneputzen ins Bad gingen, und schließlich ins Bett. Dann war es still im Haus. Ellie war beruhigt. Und endlich konnte sie tief und fest einschlafen.
Der Halbmond erleuchtete ihr Zimmer. Er schien auf die kaputte Uhr, auf den Schal, auf den Schreibtischstuhl und auf Ellies Stiftebox. Eine funkelnde Reihe silberner Zähne reflektierte das Mondlicht.