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Geschichte einer Sucht
Geahnt hatten wir es fast alle, doch glauben wollte es keiner. Es hat soviel darauf hingedeutet. Doch jetzt ist alles zu spät. Weshalb sind wir so geschockt? Es wurde nur hinter vorgehaltener Hand darüber geredet. Jeder dachte, es wird schon nicht so schlimm sein. Wahrscheinlich wollten wir es aber alle auch nur nicht wahrhaben, genau wie sie. Jetzt ist es zu spät. Keiner kann sagen, er hätte etwas getan, wenn er etwas davon erfahren hätte, denn jeder wusste es. Die Ärzte sagen, sie können nicht mehr viel für sie tun. Wir sollten unsere Hoffnung aber nicht aufgeben. Hoffen könne man immer noch.
Die ersten Zeichen kamen, als sie des Öfteren ohnmächtig wurde. Sie selbst sagte immer: "Das ist nicht so schlimm. Das geht schnell wieder vorbei." Am Anfang wollten ihr noch viele helfen, doch sie hat nur von einem die "Hilfe" angenommen. Er konnte ihr aber auch nicht viel helfen, da ihre Abhängigkeit zu ihm immer stärker wurde. Sie dachte, sie könnte ohne ihn nicht mehr leben. Konnte es vielleicht am Ende wirklich nicht mehr.
Wie lange ist das alles her, dass man noch darüber getuschelt und getratscht hatte? Wann fing das alles an. Es kommt mir jetzt wie eine Ewigkeit vor. Tatsächlich sind es nur zwei Jahre.
Irgendwie warte ich die ganze Zeit auf einen Anruf. Ich habe keine Ahnung von wem der kommen sollte, aber ich möchte endlich mit jemandem darüber reden. Ich kann mich nicht einmal mehr auf meine Tätigkeit, das Schreiben, konzentrieren. Ich starre nur noch vor mich hin. Ich fühle mich so hilflos. So allein. So verlassen.
Meine Gedanken schweifen immer wieder ab. Ich muss an die schönen, sonnigen Tage denken, an denen wir noch soviel Spaß miteinander und der gesamten Clique hatten. Gut, es gab auch noch andere, aber an die habe ich kaum noch Erinnerungen. Die hatte ich von Anfang an immer verdrängt. Ich denke gerne an diese Tage, die Tage an denen wir uns noch gemeinsam über andere lustig gemacht hatten. So einen richtig großen Krach hatten wir nie miteinander. Wir hatten uns mit der Zeit nur ganz einfach auseinander gelebt. Wir hatten verschiedene Interessen. Sie hatte sich immer mehr und mehr von allen abgekapselt. Bis auf einen. Ihr großer Schwarm.
Am Anfang waren wir noch eine ganz normale Clique, bestehend aus sechs Leuten. Drei Mädchen und drei Jungen. Nach einiger Zeit haben sich dann Paare gebildet. Übrig geblieben sind dann noch sie und der Psychiater. Keiner hätte mehr Zeit für den anderen. Jeder hatte mit sich und seinem Partner genug Probleme. So haben sie und der Psychiater sich irgendwie auch zusammengeschlossen. Am Anfang waren es noch ganz normale Gespräche unter Freunden, doch mit der Zeit wurden sie immer intimer. Das heißt, später hat nur noch sie geredet. Sie musste bei jeder Kleinigkeit seinen Rat und seine Meinung dazu wissen. Sobald sie sich nicht mehr genügend von ihm beachtet fühlte, täuschte sie irgendwelche Wehwehchen vor. Als er die nicht mehr ernst nahm, aß sie fast nichts mehr und kippte dadurch um. So etwas kann man nicht vortäuschen, das war uns allen klar. Durch das stand sie für kurze Zeit im Mittelpunkt.
Sie fühlte sich aber nicht nur von dem Psychiater nicht mehr beachtet, sondern von allen, wie mir eine ihrer früheren Freundinnen berichtete. Sie dachte, sie würde nicht gut aussehen und sagte das auch oft. Mit der Zeit widersprach ihr keiner mehr, da jeder wusste, dass sie nur wollte, dass man das Gegenteil sagte. Sie brauchte die Achtung der anderen, da sie immer weniger Selbstvertrauen hatte. Die Gespräche mit dem Psychiater machten alles nur noch schlimmer, da sie merkte, dass es ihr gut tat, wenn sie mit ihm über ihre Probleme sprach. Sie brauchte ihn immer mehr und mehr. Konnte nichts mehr alleine entschieden.
Eines Tages zog der Psychiater dann weg, da er zu studieren begann. Er kam nur noch am Wochenende. Dadurch konnte sie nicht mehr jeden Tag mit ihm reden. Sie war wieder auf sich selbst gestellt. Konnte aber nichts mehr alleine machen. Sie versuchte es, war aber immer verunsichert. Jetzt aß sie gar nicht mehr.
Eine Woche nach dem der Psychiater weggegangen war, ging ich mit ihr Einkaufen. Plötzlich kippte sie mitten in der Fußgängerzone um. Ich fand daran inzwischen schon nicht Ungewöhnliches mehr. Viele Leute hatten sich inzwischen um uns gescharrt. Als sie nach ca. Fünf Minuten noch nicht wieder zu sich gekommen war, informierte irgendjemand einen Arzt, der dann einen Krankenwagen schickte. Die haben sie auf eine Bare gelegt und mitgenommen.
Als zwischen uns noch alles in Ordnung war, hatte sie mir oft von ihrem Psychiater erzählt. Wie toll er ist. Wie gut er nur einfach zuhört, keine Fragen stellt und keine dummen Kommentare abgibt - einfach nichts sagt. Der einem aber trotzdem das Gefühl gibt, dass er einen versteht. Er kann das angeblich und gibt es ihr allein durch seine Mimik zu verstehen. Sie behauptete immer, dass sie schon fast nicht mehr ohne ihn leben könne.
Geglaubt habe ich ihr das nie so ganz. Ich dachte immer, sie übertreibt mal wieder nur, wie so oft. Vielleicht hätte ich sie etwas ernster nehmen sollen. Ich hätte ihr auch nicht geglaubt, wenn sie zu mir gesagt hätte, dass sie eine Beziehung mit ihrem "Psychiater" hat.
Psychiater nannte ich ihn im Spaß immer, da ich der Meinung war, dass er für sie diese Funktion eingenommen hat. Zumindest in ihren Gedanken. Ich hätte niemals geglaubt, dass er sich wirklich mit ihr abgibt und es auch noch ernst mit ihr meint.
Ich hörte sie noch des Öfteren über ihn reden. Doch gedacht hatte ich mir dabei nie viel. Ich hätte nie gedacht, dass sie tatsächlich einmal so abhängig von ihm sein könnte. Sie musste jeden Tag mit ihm reden, ihn um Rat fragen, ihm ihre Sorgen mitteilen.
Das alles stellte sich erst jetzt raus. Jetzt, da sie im Krankenhaus im Koma liegt. Sie hat nun erreicht was sie immer wollte. Sie ist Gesprächsthema Nr. 1. Doch was nützt ihr das. Kaum einer glaubt, dass sie wieder normal leben wird können, wenn sie überhaupt noch einmal aufwacht.
Einige sagen bösartig: "Dass hat sie nun davon. Schöner ist sie davon, dass sie nichts mehr gegessen hat, auch nicht geworden. Im Gegenteil sie wurde von Tag zu Tag grauer und bleicher." Wie mager sie war hat sie durch ihre weite Kleidung zu vertuschen versucht. Was ihr auch ziemlich gut gelungen war.
Was jeder über sie dachte oder weiß, kommt erst jetzt raus. Wahrscheinlich zu spät. Jeder sagt, was er sich zuvor nie getraut hatte auszusprechen. Manche aus Angst, es könnte, was sie ahnen, tatsächlich eintreten. Ihr "Psychiater" hat mir inzwischen auch vieles anvertraut, da ich die letzte war, mit der sie noch, außer ihm, Kontakt hatte. Er erzählte mir von ihren Ängsten, von ihren Schwächeanfällen und allem, was damit zusammenhing. Er sagte mir auch, dass er nur keinem etwas davon erzählt habe, damit er sie nicht verletze. Es könnte ja sein, dass es irgendwie heraus kommt, dass er weitererzählt hat, was sie ihm anvertraute. Er hatte ihr versprechen müssen, es niemandem zu erzählen. Doch jetzt ist ja sowieso alles egal.
Plötzlich klingelte das Telefon. Der schrille Ton riss mich aus den Gedanken. Ich wollte zuerst nicht abnehmen, da ich jetzt mit niemandem reden wollte und konnte, der nichts mit dieser Geschichte zu tun hatte. Doch schließlich hatte ich mich doch überwunden. Es könnte ja auch etwas wichtiges sein. Sonst kann ich immer noch auflegen. Es war der "Psychiater". Ich hatte keine Zeit mehr um zu überlegen, weshalb er mich schon wieder anrief. Er stürmte sofort mit seinen Neuigkeiten auf mich ein. Das Krankenhaus hatte bei ihm angerufen. In Gedanken hörte ich ihn schon sagen, dass SIE gestorben wäre. Doch warum klang seine Stimme so erfreut? "Sie ist aufgewacht! Stell' dir mal vor, sie kann sich schon wieder ein kleines Bisschen bewegen!"
Ich verstand ihn nicht. Ich meine, akustisch schon, aber sonst nicht. Weil ich so überrascht war, legte ich ganz mechanisch den Hörer auf und setzte mich wieder an den Schreibtisch. Mir wurde erst nach und nach klar, was diese Worte für eine Bedeutung für mich hatten. Für mich und alle, die mit gebangt hatten. Wir, die fast alle Hoffnung aufgegeben hatten. Ich fuhr sofort zu ihr ins Krankenhaus.
Sie liegt auf der Intensivstation. Es war sehr schwierig die Schwestern davon zu überzeugen, dass ich unbedingt zu ihr gehen und sie sehen müsse. Ich musste mir zuerst so einen seltsamen, blauen Umhang anziehen. Als ich vor der Tür stand, überfielen mich Tausende von Fragen. Was wird mich da drin erwarten? Was soll ich zu ihr sagen? Wird sie überhaupt auf mich reagieren? Und wie? Wie wird sie aussehen? Sicherlich nicht gut. Das war mir auch klar. Doch als ich ganz vorsichtig die Tür öffnete und sie durch eine Glasscheibe zu sehen bekam wurde mir beinahe übel von ihrem Anblick. So schlimm hatte ich sie mir nicht vorgestellt. Überall diese Kabel, diese Apparate.
Ich glaube, sie hatte mich erkannt. Es schien mir, als ob sie mich angelächelt hätte. Sicher war ich mir aber nicht. Die Schwester hatte mir auf dem Gang erzählt, dass sie auf dem besten Weg der Besserung sei und wahrscheinlich schon nach zwei Wochen aus dem Krankenhaus entlassen werden könne. Danach müsse sie dann für mindestens zwei weitere Monate in eine Art Kur in der ihr wieder beigebracht werde, normal zu essen. Wenn sie es wolle, könne sie danach wieder ganz normal zu Hause leben. Sie müsse aber immer genügend essen. Sonst müsse sie wieder ins Krankenhaus und das nächste Mal habe sie höchstwahrscheinlich nicht mehr so viel Glück. Ich bedankte mich und machte mich schnell wieder auf den Heimweg. Zu Hause dachte ich noch einmal über alle die neuen Eindrücke nach.