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Gewehrnovelle

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28.12.2009
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Gewehrnovelle

War unten am Rothenbach, wo wir den gefunden haben - heute soll da ja so n Friedwald sein, hab ich gelesen, aber sowas gabs früher natürlich noch nicht, da waren da einfach nur paar Bäume. Istn schöner Wald eigentlich, wenn man paar Meter reingeht, also bisschen abseits vom Weg, dann steht man da echt wie in ner großen Halle, und ganz ruhig isses. Wir sind ja am Stallberg aufgewachsen, Barbarastraße, direkt gegenüber von der KEPEC, gibt es ja auch schon lange nicht mehr, na ja. Man erinnert sich eben dran. Wir hatten ja immer die Angst, dass das Ganze mal abfackelt, nachts, wenn du schläfst und dann nichts davon mitkriegst … ist aber nie was passiert, bis kurz bevor sie das Ding zugemacht haben, das war noch bevor ich abgehauen bin. Da ging dann einer von den Kesseln hoch - keine Ahnung, ob das wirklich Kessel waren, jedenfalls irgendwas mit mächtig Druck drauf - und da hat ein Ventil nicht gehalten und ist ab durch die Mauer in n Haus auf der anderen Straßenseite. So schnell kanns gehen. Ich meine, war mittags und keiner da, aber …

Der Richard war ein paar Jahre älter als ich, hat gleich im Haus nebenan gewohnt, der war grade von der Schule runter und wartete aufs Berufsgrundschuljahr, Holztechnik. Freunde, na ja … in dem Alter sind paar Jahre ja schon viel, Welten sind das. Erstmal würd ich sagen, der Richard war bekannt wie n bunter Hund - in der ganzen Stadt eigentlich, dem is man am besten ausm Weg gegangen. Hat sich gerne geprügelt, auch mit Erwachsenen. Einmal, Karneval war das, da ist der mit seinem Rad einfach so durch die Straßen, der hatte damit ja nix am Hut, und an der Kneipe oben an der Zeithstraße standen paar Besoffene rum, wahrscheinlich um wieder n klaren Kopf zu bekommen - die kannte der nicht mal, aber die waren so brack, dass die ihn an den Gepäckträgern festgehalten haben, als der an denen vorbeigefahren ist, da habn die sich n Spaß draus gemacht, haben den Lenker hochgehoben, hing er dann halb in der Luft … da hattense sich den Falschen ausgesucht! Richard hat dem Ersten so n paar aufs Maul gegeben, dasser umgefallen is - der andere hat n paar mitbekommen und wollte schnell wieder zurück in die Kneipe, dem isser hinterher; mitm Schädel gegen den Zigarettenautomaten gedonnert, dem sind auch die Lichter ausgegangen. Gab n riesigen Aufriss. der Wirt hat die Polizei gerufen und alles, ach ja, Anzeige und Ärger und wasweißich nicht.

Nee, Freunde … das würd ich nicht sagen. Wir sind in derselben Straße aufgewachsen, quasi direkt nebeneinander, das konnte man nicht vermeiden. Aber ja, gab mal ne Zeit, da hab ich das wirklich gedacht, Freunde … richtig ist, dass wir oft zusammen am Rothenbach waren. Richard hatte da so was wie eine Bude gebaut, kleiner Unterstand mitten im Wald, aus ein paar alten Stämmen, und da sind wir dann immer hin. War ja nicht weit. Hinten an der Jägerstraße durchs Industriegebiet, Unterführung, von da über den Kamm, schon waren wir da. Ich hatte mit Rauchen und Trinken damals noch nichts zu tun, davon hatte ich keine Ahnung, obwohl ich nicht sagen würde, dass meine Eltern jetzt päpstlicher als der Papst waren - mein Alter war bei der Post, und meine Mutter hat im Schreibwarenladen gearbeitet, die haben schon ab und zu was getrunken, aber eher mal n Verpoorten oder n Glas Sekt. Mein Alter ist auch nie in die Kneipe, der hat abends in seinem Sessel gesessen und gelesen, das war ein richtiger Bücherwurm. Nordpol, Afrika und so, Reisen, Abenteuer, das hat ihn immer am meisten interessiert. Ich glaub, er hat drauf gehofft, dass er das irgendwie weitergibt, das mit dem Lesen, hat aber nicht funktioniert, ich bin nach drei Seiten immer eingenickt. Meine Mutter, die hatte ihre Serien, Dallas, Denver-Clan, sowas hat die geliebt. Aber Fernsehen hat mich gelangweilt. Einfach nur dasitzen und glotzen, das war nicht mein Ding.

Richard war auch nicht gerne zuhause. Seine Mutter hatte einen ziemlichen Ruf. Der leibliche Vater von ihm war schon lange nicht mehr da, der hatte was mit Motorrädern zu tun, ne eigene Werkstatt irgendwo bei Bonn, der hing wohl auch mit ziemlich zwielichtigen Typen rum, Milieu, Rocker. Den habe ich selbst nie gesehen … gab ja auch noch den Stan, der Richard hatte noch einen jüngeren Bruder, den nannten alle Stan obwohl er eigentlich Stefan hieß - von dem wusste man aber halt nie genau, wer da nun der Vater ist … da gab es dann Gerüchte, der und der oder doch der, in so einem Viertel geht das schnell, da zerreißen sich alle ihre Mäuler, wenn sie können. Seine Mutter hatte oft Besuch, mal von dem, mal von dem, und sie sah auch noch ziemlich gut aus, besser als die meisten anderen Mütter. Jeder hat Vorurteile, und grad Frauen, wie die hinter vorgehaltener Hand übereinander herziehen, das ist schon Wahnsinn, ich habs selbst mitbekommen, meine Mutter ja genau in die gleiche Kerbe: Wie so ne läufige Hündin. Ich meine, ich konnte den Richard schon verstehen: wenn sich dein Vater nicht blicken lässt, aber dafür dreimal die Woche irgendwelche Typen bei dir rumhängen, dann … das waren ja Fremde irgendwie, und ich will mir das gar nicht vorstellen, wie das für den gewesen sein muss, das kann man auch gar nicht.

Ich war zwar nie ein Schwächling, ich hab mich auch geprügelt, aber nur wenn es wirklich sein musste, wenn es gar nicht anders ging. Richard war da anders, der war schnell auf Hundertachtzig. Und man hat das so richtig gespürt, wie die anderen ihm aus dem Weg gegangen sind, die hatten richtig Schiss vor ihm, und das hat mir gefallen. Am Anfang hat er mich gar nicht beachtet. Der hat oft draußen an den Mülltonnen gesessen und geraucht, ich konnte das von meinem Fenster aus sehen, das lag direkt da drüber, und dann bin ich auch immer raus und stand da rum wie Falschgeld; ich wollte ihn nicht einfach so anquatschen, weil ich wusste, mit wem er sonst so rumhängt, den Wieländer-Brüdern von der Winterberger und dem Jaques, n Belgier aus der Militärsiedlung, der war schon fast zwanzig. Die waren alle in der Gegend berüchtigt … da hatte ich nichts zu melden, das war einfach so.

Irgendwann hab ich dann aus dem Zigarettenautomaten an der KEPEC ne Packung Peter Stuyvesant gezogen, weil ich wusste, das war die Marke vom Richard. Und dann hab ich abgewartet, bis er wieder draußen stand und hab mich daneben gestellt und so getan, als würd ich auch rauchen. Der hat direkt mitbekommen, dass ich eigentlich nur paffe. Wenn dich einer ernst nehmen soll, musste auf Lunge rauchen!, und dann hatter mir gezeigt, wie das geht. Beim ersten Mal bin ich ja beinah umgefallen, gehustet wie sonst was, aber da musste jetzt durch, dachte ich, also … und so ging das weiter, haben wir da zwischen den Mülltonnen gesessen und geraucht. Ich bin danach immer gleich in den Keller runter, in der Waschküche gabs n kleines Becken, da hab mir die Hände gewaschen und den Mund ausgespült. Ich hatte mir extra so Mentholzeug aus der Drogerie besorgt, das hab ich in nem Putzeimer versteckt, unterm alten Lappen; brachte natürlich nix, das Ganze. Mein Alter hat ja nicht geraucht, meine Mutter auch nicht, die haben das also schon aus zehn Metern gerochen. Gab Terz ohne Ende, ich und rauchen, das geht doch nicht, wie sieht das denn aus!, und was sollen die Leute da denken!, und dann musste ich die Schachtel abgeben und hoch und heilig versprechen, das bloß nie wieder zu tun, ja nie wieder rauchen. Ich habs halt nicht mehr unten an den Mülltonnen gemacht, wo die mich hätten jederzeit sehen können.

Der Richard wollte nicht mit mir gesehen werden, das wär ihm wahrscheinlich peinlich gewesen, weil ich einfach nur n kleiner Spinner aus der Nachbarschaft war. Was hätte ich machen sollen? Mein Maul aufreißen? Die waren ja alle älter, größer, die machten andere Sachen, da konnten die einen wie mich nicht gebrauchen. Aber dann meinte der Richard zu mir, wenn du rauchen willst, komm mit annen Rothenbach, da geht uns keiner auf den Sack. Wir sind das erste Mal zusammen hin, einmal zeig ich dir den Weg, danach mussten selber finden! Der hatte sich schon ein gutes Plätzchen ausgesucht, beim Rothenbach rein in den Wald, dem Verlauf folgen, hoch Richtung Lohmar, und von da dann ab ins Gebüsch … das hat man nicht einfach so gefunden, du musstest schon genau wissen, wo das ist.

Ich dachte zuerst, du bist da jetzt mit dem Richard ganz allein, und keiner weiß wo du bist, findest du wieder nach Hause? Und was, wenn der dich einfach verprügelt, weiler da grad Bock drauf hat? Der brauchte ja gar keinen Grund. Wenn der sich abreagieren wollte, hat der sich einfach wen vom Spielplatz geholt und verdroschen. Und ja … ich hatte Angst vor ihm, auf jeden Fall hatte ich die, ich hab immer gedacht, irgendwann bist auch du mal dran, damit hab ich eigentlich immer gerechnet. Aber irgendwas war da, was mich immer wieder zu ihm gezogen hat, so ein Gefühl, keine Ahnung - ich hab mich unbesiegbar gefühlt, wenn ich mit mitm Richard zusammen war, größer, besser, obwohl ich ja wusste, an mir hat sich nichts verändert, und da dacht ich einfach, dass ist der Richard, der macht dir das Gefühl, also sich dann so zu fühlen, und das war stärker, das war auch stärker als die Angst, deswegen bin ich immer wieder zu ihm hin.

Die Bude - das war eigentlich nicht mehr als ein feuchtes Loch in der Erde, paar alte Paneele drüber von ner Euro-Palette, alles mit Laub und Ästen abgedeckt, hätte sowieso keiner gesehen, das lag so versteckt … Gab ein paar Kisten, wo du dich draufgesetzt hast und ein Baumstumpf in der Mitte, abers hat gereicht. Wir hatten unsere Ruhe, mehr wollten wir nicht. Da hab ich dann auch das erste Mal in meinem Leben Alkohol getrunken - warmes Dosenbier, Hansa Pils, gabs damals überall, und billig. Was soll ich sagen? Das Bier hat mir anfangs gar nicht geschmeckt, überhaupt nicht, aber das hab ich mir nicht anmerken lassen: und nach ein paar Mal hatte ich auch das mit auf Lunge raus.

Ich hab mich gut gefühlt, ernst genommen. Meine Eltern haben das mit ziemlicher Sicherheit gewusst, was ich da gemacht hab, nur gesagt habense nichts, ich weiß nicht, warum. Vielleicht war es ihnen wirklich egal. Mir wars ja auch egal. Ich habs einfach drauf ankommen lassen. Wenn die was rauskriegen, dann solls eben krachen. Ich hab drauf gewartet, dass ich nach Hause komm und mein Alter da auf mich wartet und mir ne Ohrfeige verpasst. Wir sind ziemlich oft da draußen gewesen, an der Bude am Rothenbach, haben geraucht und Bier getrunken … ist seltsam, weil wir eigentlich nie viel geredet haben, Richard und ich, soweit ich mich erinnerń kann, mal über dies und das, aber jetzt nicht wirklich groß, immer nur so unwichtiges Zeug… und irgendwann gabs dann halt die Tittenhefte. Ich weiß nicht, wo der Richard die her hatte, ich hatte so was auf jeden Fall noch nie gesehen. Das waren ja nicht nur Titten, also so was wie die Neue Revue oder so, was man vielleicht schon mal beim Kiosk in der Auslage gesehen hatte. Das waren schon richtige Pornos, hardcore.

Ich hab erstmal gelacht, ja, keine Ahnung warum. Weil das sah einfach alles so … ich weiß nicht, die Haare, die Haut und dann auch die Farbe, so richtig wie an der Fleischtheke beim Metzger, und alles in Nahaufnahme, voll draufgehalten. Mit Mädchen oder so, da lief zu der Zeit nichts, gar nichts. Klar, da gabs ein paar in der Klasse, auch Parallelklasse, die waren nett und haben mir irgendwie schon gut gefallen, aber nicht so - so hab ich nicht an die gedacht, dass ich mit denen machen will, was die da in den Heftchen miteinander machen, eher ganz harmlos.

Dass da Jäger waren, wussten wir natürlich. Die hatten wir schon mal gesehen, oder auch mal n Schuss gehört - die kamen aber meistens erst abends, wenn es dämmerte. Uns hat nie einer von denen angesprochen oder so, die dachten wahrscheinlich, wir sind einfach irgendwelche Bengel, die da spielen oder keine Ahnung. Einer von den Ansitzen oder Hochsitzen oder wie das heißt, der stand ja direkt vor einer Wiese an nem Hang, so drei, vierhundert Meter hinter der Bude. Wir hatten beim Vorbeigehen auch schon mal einen da drin sitzen sehen, der war ja halb offen, der Ansitz. Und an dem Tag, ich weiß gar nicht mehr genau, warum wir ausgerechnet da jetzt vorbei sind - vielleicht weil man auf dem Weg kurz vor der Bushaltestelle am EDEKA wieder ausm Wald rauskam und wir uns noch was zu trinken kaufen wollten?, kann sein, aber wie gesagt, ich weiß es nicht mehr genau. Richard hat sofort gesehen, dass da was nicht stimmt - der blieb stehen und sagte, hier, Moment!, da is doch was … War dann der Arm, der hing so über der Leiter, ganz quer - weiß ich noch wie heute, ich seh den richtig vor mir, den Arm - und na ja, dann sind wir da eben hin, unds war gleich klar, der ist um, der ist tot.

Die Sache war, ich hatte noch nie n Toten gesehen, aber als der Richard mich fragte, Haste schon mal einen gesehen, da hab ich gesagt, ja, hab ich. Ich weiß nicht, warum. Wahrscheinlich wollt ich angeben vorm Richard, auch weils irgendwie klar war, dass der noch keinen gesehen hatte, der hatte noch keinen Toten gesehen. War die Art, wie der mich das gefragt hat, da wusste ichs einfach, und dann … hab ichs einfach gesagt, obwohls natürlich gelogen war, und mir war klar, wie das weitergeht, aber da musste ich jetzt eben durch. Tja, wie sah der aus? Wie sieht n Toter aus? Ich glaub, gar nicht so viel anders wie einer der noch lebt, also klar, nur wenn der nicht schon paar Wochen tot ist, ansonsten … der saß da so ganz verdreht auf der Bank in dem Hochsitz, so n Filzhut hatte der an, halb im Gesicht, und dann der Arm … hell, weiß, ganz weiß, und man konnte die Haare erkennen, die schwarzen Haare bis zur Hand, und die Adern, blau, wie Striche, das weiß ich noch … das sah so seltsam aus, so als würde der gar nicht mehr zu dem gehören, der Arm, und irgendwann sagte der Richard, Mensch, was da los?

Aber anfassen konnt ich den nicht, nein, auf keinen Fall. Mir is sowieso schon ganz anders geworden, richtig schlecht, ich bin dann erstmal wieder runter und hab gesagt, guck ihn dir doch selbst an, das hat der Richard dann auch gemacht, der ist die Leiter hoch und hat sich als allererstes das Gewehr von dem geschnappt, das hat der mir runter gereicht - ich hatte noch nie zuvor sowas in der Hand gehalten, ne echte Waffe, die war ganz kalt und schwer, und ich hielt sie da so fest und dann kam der Richard auf einmal wieder runter und hatte Munition und n paar Scheine in der Hand, Hunderter - braucht der jetzt auch nicht mehr, und stimmte ja auch, brauchte der beides nicht mehr.

In dem Moment denkt man nicht so drüber nach, also ich auf jeden Fall nicht, ob das richtig oder falsch ist, was man da tut, man macht es einfach. Und ich fragte auch noch: Und jetzt? Na, wir hauen ab, meinte der Richard. Denkste, ich geh freiwillig zur Schmier und sag denen, wir haben nen Toten gefunden? Was meinste, was dann passiert? Was hasten da gemacht? Mit den anderen da im Wald? Geraucht? Gesoffen? Und wie war das genau mit dem Toten? Biste dir auch sicher, dass der richtig tot war und nich noch gelebt hat, als ihr den gefunden habt? Weil wenn der noch gelebt hat, dann … Junge, die fragen dich solange, bist du irgendwas zugibst, egal. Und da dachte ich, wird schon richtig sein, klang ja auch vollkommen logisch.

Die Frage war ja, was machen wir jetzt mit dem Gewehr? Wohin damit? Wir konnten ja schlecht damit einfach so durch die Gegend laufen, wo uns jeder sehen kann, oder sogar damit rumschießen, dann wärs ja nur ne Frage der Zeit gewesen, bis die Grünen bei uns auftauchen. Ich weiß nicht, ich denke, ums Geld gings nicht, aber das Gewehr, die Waffe, die war ihm wichtig. Hinten in dem Industriegebiet, wo wir immer durchgelaufen sind, da gab es ja diese Depots, wo manchmal Penner drin hausten, die standen offen und verrotteten da vor sich hin, niemand wusste so genau, wem die eigentlich gehören. Da hat der Richard das Gewehr erstmal versteckt, unter ner losen Holzdiele im Boden. Wart draußen, ich mach das, und dann ist der da rein. Natürlich, war klar, dass ich mit niemandem drüber rede … das Geld haben wir aufgeteilt, ich glaub, das waren zweihundert Mark für jeden, die Munition hat der Richard mitgenommen. Das ist alles so schnell passiert - eben waren wir noch im Wald, in der Bude da, haben uns nackte Frauen angesehen und so, und dann das … verstanden habe ich das nicht, ich hab erst abends im Bett so richtig drüber nachgedacht, was mit da eigentlich genau passiert ist? Wie kann man einfach so sterben? Ich nehm mal an, irgendwas mit dem Herz, n Anfall, so was geht ja fix, und wenn du dann alleine bist - gab ja noch keine Handys oder sonstwas - dann ists das eben gewesen, dann krepierst du ganz alleine im Wald, auf deinem beschissenen Hochsitz. Das sind meine Gedanken gewesen. Ich weiß nicht, ob sie es jemals herausgefunden haben, es spielt im Grunde auch keine Rolle. Der war eben tot, das wars, wie und warum, das war ja egal.

Ich hab lange an den denken müssen, an den Toten, an den Arm vor allem, wie der einfach so da lag, so starr und weiß und alles, und dann das Gesicht … aber eigentlich erinner ich mich nur an den Arm so richtig gut, der Rest ist irgendwie verschwommen mittlerweile, oder verschwimmt immer mehr, wie morgens, wenn du aufwachst und dich an den Traum von letzter Nacht erinnern willst, aber das funktioniert ja auch immer nur so halb.

Drei, vier Wochen waren wir danach erstmal nicht mehr da, an der Bude. Richard meinte, erstmal Kopf unten halten, und vor allem die Kohle nicht raushauen, das fällt auf. Ich hab jeden Tag damit gerechnet, dass die Grünen anklopfen, dass die schon unten vor der Tür stehen, wenn ich von der Schule komm und im Grunde über alles Bescheid wissen: auf der anderen Seite, ich meine, was hätten wir tun können? Der war sowieso schon tot, oder? Da hätten wir nichts dran ändern können, wir hätten dem nicht helfen können oder so, also … klar, man kann jetzt hingehen und sagen, das Geld, das Geld, das hätten wir nicht nehmen müssen, und das Gewehr auch nicht … warum wir es überhaupt genommen haben? Ich weiß es nicht. Ich denke, das lag einfach daran, dass wir dachten, wir würden da selbst niemals rankommen - ich meine, wer kommt schon an Waffen, wer hat Waffen?, keiner den ich kannte, keiner den wir kannten. Und, es war auch so, also mit diesem Gewehr, das war wie … das war wie so eine Art Schatz, ein großes Geheimnis. Wir haben uns auch erstmal gar nicht gefragt, was wir damit tun sollen, darum ging es irgendwie gar nicht, das lag da einfach in dem Depot unter der Diele und ab und zu ist Richard hin und hat nachgeguckt, ob es noch da liegt … mehr war da erstmal nicht, mehr haben wir damit nicht gemacht. Und die Grünen sind nie gekommen. Uns hat auch nie einer gefragt, ob wir da was wüssten oder was gesehen haben oder sonstwas mitbekommen haben … einfach gar nichts. Das Geld, die Hunderter, die hab ich in meinem Schrank versteckt, unter alten Pullovern - hab ich dann auch nie ausgegeben, glaub ich, weiß gar nicht, was damit passiert ist. Also, nach nem Monat oder so sind wir wieder hin, in die Bude, und war alles genau wie vorher, hatte sich nichts verändert. Ich hab gar nicht nach dem Gewehr gefragt, wir haben da gar nicht weiter drüber gesprochen, Richard meinte dann nur, ob bei mir was gewesen wär, ob da einer blöde Fragen gestellt hätte, die Grünen oder Eltern oder sonstwer. Hatte keiner, und wir hatten es ja auch so abgemacht, dass erstmal alles still liegt, wir haben auch nicht an den Mülltonnen draußen geraucht oder so, wir haben uns einfach paar Wochen lang nicht zusammen blicken lassen, damit erstmal Gras über die Sache wachsen konnte …

Ehrlich gesagt hab ich dann gar nicht mehr an das Gewehr gedacht, das hatte ich schon fast wieder vergessen. Richard hatte neue Hefte gekauft von seinem Anteil, gute Hefte, bessere Qualität, da kann man mehr drauf sehen, sagte er, die hat er mir dann auch gezeigt … und ab da hat sich was verändert, an dem Ganzen, da ging das los, denk ich. Diese Hefte, diese Magazine, das war noch mal ne Spur härter, da waren so richtig krasse Sachen bei, und dann fing das auch an mit dem … ich weiß gar nicht, ich hab das schon mal erzählt, mir fällt das nicht leicht, da so drüber zu sprechen, aber … na ja, da fing das eben an, das wir - ich sag mal - an uns rumgespielt haben. Klar, ich meine, ich war dreizehn, da kannte man das, da hatte man das schon mal gemacht, aber ich war damals irgendwie noch nicht so weit, die anderen Jungs, jetzt in der Schule oder so, die redeten ja ständig über Mädchen und Titten und alles, eigentlich über nichts anderes mehr, und … nee, so war ich nicht, ich dachte da irgendwie gar nicht dran. Ich hab das eher aus Neugierde gemacht, um zu wissen, wie das ist, wie sich das anfühlt, ob sich das gut anfühlt, aber ich hab natürlich auch Schiss gehabt, dass meine Eltern mich dabei erwischen, ich hab mir das so richtig vorgestellt, wenn da jetzt alles in die Unterhose geht oder ins T-Shirt - ich mein, meine Mutter hat ja die Wäsche gemacht, und die kriegt das dann mit und weiß, was ich da so alles mache, das … so weit war ich einfach noch nicht. Der Richard, der hatte viel mehr Erfahrung, klar, der war auch älter, und dann die Mädchen auf der Hauptschule, die waren schon anders drauf, sag ich mal, so hat er das jedenfalls immer erzählt, denen machts nichts aus, wenn du denen mal in die Hose gehts, die wollen das, die sind sowieso immer feucht.

Als der dann einfach so die Hose aufgemacht und angefangen hat zu … also, das war schon n echter Schock für mich, muss ich sagen, damit hatte ich ja nie im Leben gerechnet. Dem hat das aber überhaupt nichts ausgemacht, der hat da losgelegt und dann alles schön über die Seiten … und, naja, ich glaub, das wäre mir noch alles egal gewesen, irgendwie, abers war dann so, dasser wollte, dass ich das auch mache - also vor ihm, quasi zusammen. Das war das erste Mal, wo ich mir nicht mehr sicher war: Soll ich das machen, und warum soll ich das machen? Aber irgendwie wollte ich das dann auch, ich wollt das schon machen, war ja aufregend und alles. Ich weiß noch, dass meine Hände richtig gezittert haben, und meine Finger auch … das war, als würd ich unter Strom stehen. So ungefähr hat sichs angefühlt, ich kanns nicht besser beschreiben.

Ich weiß nicht, ich hab da nie drüber nachgedacht, ob andere das auch machen, also voreinander oder so, das hab ich mich eigentlich nie gefragt … als wir fertig waren, da, tja, keine Ahnung … danach, danach wars schon so, dass ich erstmal dachte, vielleicht gehst du da erstmal nicht mehr hin. Weil ich dachte ja zuerst, dass da was passiert ist, weswegen ich mich mies fühlen muss. Als hätte mich da einer zu was gezwungen, aber so wars ja einfach nicht. Ich hab mich nicht mies gefühlt und gezwungen hatte mich auch keiner. Nein, ganz im Gegenteil. Gut hab ich mich gefühlt. Richard hat da einfach gar nichts mehr drüber gesagt, als wär da nix Großes passiert. Für mich war das aber schon was Großes. Das war mir damals natürlich noch nicht so klar und ich hab das auch keinem gesagt, wem hätte ich das sagen sollen?, das hab ich nur so bei mir gedacht. Manchmal dachte ich, war nur n Traum, das ist nur n Traum gewesen, aber du weißts ja doch, dass das nicht stimmt, du weißt, das is wirklich passiert. Ich hab mich nicht schmutzig gefühlt oder so, aber irgendwie dachte ich trotzdem, dass es falsch ist, das gut zu finden, das war ganz seltsam. Ständig hin und hergerissen, so hab ich mich gefühlt, kein schönes Gefühl. Und das war ja nicht das Ende, es ging ja noch weiter. Tja, warum bin ich nicht einfach weggeblieben? Das sagt sich so einfach.

Ich hab den Richard dann irgendwann später gefragt, was jetzt eigentlich mit dem Gewehr is, obs das überhaupt noch gibt, und da sagter, klar gibts das noch, warum? Und dann sind wir ins Depot, da hat er mich das erste Mal mitgenommen. Keiner von uns hat vorher jemals irgendwas mit Waffen zu tun gehabt, ich jedenfalls nicht, und der Richard, der hat zwar immer so getan als ob, aber ich habs ihm nicht geglaubt … ja, heute weiß ich das, heute wäre das auch was anderes, da hätt ich gesagt, komm, leg die weg, oder wir geben die anonym bei der Polizei ab, wir sagen denen einfach, wir haben die irgendwo gefunden, denn was soll da schon Gutes bei rauskommen? Nichts, oder? Heute, ja, heute weiß man das natürlich, da lässt sich das leicht sagen, aber damals … da sah die Welt noch anders aus. Im Grunde weiß ich bis heute nicht, was wir mit dem Gewehr überhaupt wollten. Ich hab gesagt, Mann, jetzt lass uns damit doch endlich mal schießen, ich mein, dafür isses doch da, oder nicht? Aber Richard meinte, das kannste nicht einfach so machen!, kriegt ja jeder mit, auch im Wald, der Förster weiß doch, wann da welcher Jäger draußen is, das fällt sofort auf und dann sind wir dran. Wir habens dann so gehalten - wir sind immer mal wieder hin, haben die aus dem Versteck rausgeholt, jeder hat sie mal gehalten, hat mal durchs Zielrohr geguckt, aber richtig anfangen konnten wir damit ja nichts.

So um dieselbe Zeit hat der Richard das erste Mal Schnaps mit zur Bude gebracht - klaren Weinbrand. Wird Zeit, dass du das auch mal kennenlernst … ich habs gemocht, hat zwar gebrannt wie Sau, klar, aber danach, wenn sich der Magen zusammenzieht unds dann ganz warm wird … das konnte ich ja gar nicht kontrollieren, ich kam stockbesoffen nach Hause, hab das ganze Klo vollgekotzt, und da hat mein Vater dann auch was gesagt. Was eigentlich mit mir los ist und so weiter, diese ganze Leier. Ich weiß nur noch, dass ich zurückgeschnauzt hab, Halt dochs Maul!, und dasser sich sowieso nicht für mich interessieren würde. Na ja, und dann fing die Mutter noch an rumzuheulen, der Klassiker. Mein Vater stand da nur rum und hat gar nichts mehr gesagt, der hat einfach blöde aus der Wäsche geguckt. Und da hab ich verstanden, wie das läuft: ich hab geschrien, Lass mich ja in Ruh, fass mich nich an, sonst erlebst du dein blaues Wunder! Mein Alter war ja sanft wie n Lamm, der hätt mir nie eine mitgegeben, so einer war der einfach nicht, der war weich, zu weich vielleicht, aber in dem Moment, da hab ich gespürt - dasser richtig Schiß hatte. Der wusste nicht mehr, wo vorne und hinten ist, der konnte damit gar nicht umgehen, und ich glaub, da hab ich mich das erste Mal in meinem Leben stark gefühlt, ganz allein für mich stark, und das war n verdammt gutes Gefühl.


Ich weiß gar nicht mehr genau warum, aber ich denk, weils draußen kälter wurd, deswegen haben wir uns dann beim Richard zu Hause getroffen … die Mutter hab ich da kein einziges Mal gesehen, die war immer weg. Richard sagte dann, die is auf Hausbesuch, den Stan hat sie ihm auch dagelassen, der war damals vielleicht fünf, nicht älter. In der Wohnung, hab ich meinen allerersten Porno gesehen. Ich kann mich da noch genau dran erinnern, das weiß ich noch wie heute: so ein altes, deutsches Teil, ich sag mal - ne Menge Haare!, da fand ich nichts dran, da sah einfach nur albern aus. Aber Richard fand das geil, der sagte, er mags, wenn die Mädchen behaart sind, Urwald. Das ging dann ne ganze Zeit lang so weiter. Manchmal war auch einer von den Wieländer-Brüdern dabei oder der Jaques. Wir haben geraucht, Bier getrunken und Pornos geguckt. Ich weiß nicht, wieviele Filme der hatte, auf jeden Fall n ganzen Stapel VHS Kassetten, die lagen einfach so rum. Und dann turnte der Stan durch die Wohnung, wenn wir am gucken waren - der arme Junge hat gar nicht so richtig geschnallt, was eigentlich abgeht. Ich weiß aber, dass Richard ihm immer Frühstück gemacht hat, wenn die Mutter wieder über Nacht weg war, und ihn auch am Kindergarten auf der Winterberger abgegeben hat. Du durftest auch nie ein Wort gegen den Stan sagen!, der hat selbst dem Jaques mal ne ordentliche Schelle gegeben, weil der ihn bei einem Videospiel nicht hat gewinnen lassen.

Die Wieländers und der Jaques, die haben mich am Anfang ja gar nicht beachtet, das kam erst so ganz langsam. Zuerst wussten die nicht, was ich da überhaupt zu suchen hab, warum der Richard mich da duldete, und das haben die mich auch spüren lassen. Spruch hier, Spruch da, kurz mal bisschen in die Mangel genommen, Kopfnuss und so - die habens natürlich drauf angelegt, weil ich denen körperlich gnadenlos unterlegen war. Aber da wusste ich halt schon, wie das läuft und dass ich mir nichts gefallen lassen darf, sonst hätten die mich nur weiter ausgelacht. Ich hab alles weggesteckt, was kam, und auch mal ausgeteilt, und irgendwann wars dann gut, da war ich sowas wie akzeptiert.

Das war immer ne seltsame Stimmung, wenn wir da in der Bude waren. Alle aufgeladen und total aggressiv, dann die Pornos - da haben alle gebrüllt, wenn im Film wieder einer abgespritzt hat, ich hab zwar mitgebrüllt, aber mich hats jetzt nicht angemacht oder so, gar nicht. Heute frag ich mich schon, klar, wo war eigentlich die Mutter? Die ist bei nem Typen gewesen, hat mit dem rumgevögelt oder wasweißichnicht, auf jeden Fall war sie nicht da, und vielleicht wär das alles nicht passiert, wenn sie da gewesen wär, weiß nicht. Ich glaub schon, dass es anders gekommen wär. Aber ist dann doch so passiert, das lässt sich jetzt auch nicht mehr ändern. Ich hatte das schon im Gefühl, dass irgendwann irgendwas passiert, weil ewig hätte das nicht so weitergehen können, das war vorprogrammiert … das Erste war, dass ich meinen Vater eine runtergehauen hab … das war so, ich bin vom Richard nach Hause, war ja nur zur Tür raus, und da stand mein Vater an den Mülltonnen. Ich weiß, dass er es so aussehen lassen wollte, als wäre er nur zufällig da, aber ich habs natürlich sofort durchschaut. Mir war klar, dass er da auf mich wartet, und dann hat er angefangen, ich, sein Sohn, und was denn nur los sei? wie ich das nur könnte, schlechter Umgang, die Schule lässte flöten, das ganze bla bla bla, und auf einmal, da fiel das wie ein Stein in mir runter; der Mann war mir einfach vollkommen egal, der war mir gleichgültig geworden, mir war das alles egal geworden, Familie, Mutter, Schule, gute Noten, einfach alles.

Ich habe das richtig gespürt, im ganzen Körper, tief drin, fast als müsste ich kotzen, so kurz davor, bevor du kotzen musst, so ungefähr hat sich das angefühlt. Ich wollte nicht so werden wie der, wie meine Eltern. Die ganze Art, bei der Post arbeiten, Bücher lesen, Serien gucken, nie selbst was erleben wollen, das war doch n Scheißleben, und dann hatter den Fehler gemacht, mich auch noch anzufassen, an der Schulter hatter mich gepackt, hier so - komm Junge, komm doch nach Hause!, nach dem Motto, und da bin ich ausgerastet und hab ihm eine verpasst. Voll aufs Kinn. Er ist gestolpert und irgendwo zwischen den Mülltonnen gelandet, und ich hab drauf gewartet, dass er jetzt aufsteht und mich ordentlich vertrimmt oder wir uns richtig prügeln, das Adrenalin stand mir jedenfalls bis unters Kinn - ich mein, er hätts machen sollen, denk ich heute, aber das hat er nicht, nein, das hat er nicht. Der ist feige im Dreck liegen geblieben. Und dann bin ich einfach wieder zum Richard hoch.

Wir haben ne Dose Bier getrunken, ne Zigarette geraucht und dann hab ich mich ganz langsam wieder beruhigt und ihm alles erzählt. Sso ist das eben jetzt, hat er gesagt, kannste sowieso nix mehr dran ändern, und ich soll mir ja nichts gefallen lassen, von keinem. Ich hab schon gemerkt, dass er da aus eigener Erfahrung spricht, aber man muss wissen, wann es gut ist, wann der richtige Zeitpunkt ist, und deswegen habe ich nicht weiter nachgebohrt. Irgendwann bin ich auf der Couch eingepennt. Nachts bin ich dann aufgewacht, weil ich pissen musste, erstmal halb durch die dunkle Wohnung gefallen auf der Suche nachm Klo, noch ewig den Lichtschalter gesucht, endlich gefunden, danns Bier rauslassen … und auf dem Waschbecken neben der Toilette lag n Slip, der war von der Mutter - ich hatte noch nie n Slip in der Hand gehabt; der war schwarz, Spitze, fast durchsichtig und mit nem Loch unten drin. Und ich wusste natürlich, wofür das is, warum das da is, aber erstmal hab ich an dem Slip gerochen - so riecht also die Muschi von Richards Mutter dacht ich, und dann hab ich drauf gewartet, dass da jetzt irgendwas passiert bei mir, dass ich n Steifen krieg und den dann ins Loch da im Slip steck und abspritz wie die Typen in den Pornos, aber da ist einfach gar nichts passiert, null, da hat sich nichts gerührt. Das roch einfach nur nach billigem Parfüm und bisschen Schweiß, sonst war da nichts. Da hab ich glaub ich das erste Mal mitgekriegt, dass ich vielleicht anders bin als die anderen.
Es war danach so, dass wieder ein paar Penner in die Depots gezogen sind, die haben die besetzt, weil der Winter vor der Tür stand, die hast du da nicht wegbekommen, die ließen sich nicht vertreiben, und deswegen wurds dem Richard zu heiß mit dem Gewehr, dass die das nachher noch zufällig finden, und da hatters dann schließlich rausgeholt in so einer Nacht und Nebel Aktion. War auch so, dass ich immer öfters geschwänzt hab - meine schulischen Leistungen, sagen wir mal, das war einfach nix mehr, ich hatte null Motivation mehr, mir das alles anzutun, die anderen da, in meiner Klasse, die Lehrer, mit denen konnte ich einfach nichts mehr anfangen, so hab ich das damals jedenfalls gesehen. Das kam ganz plötzlich. Ich sollte ja in die neunte Klasse versetzt werden, ich hatte immer kurz vor den Ferien Geburtstag und bin auch ein Jahr früher eingeschult worden, und eigentlich war ich immer ein guter Schüler, das sage ich jetzt nicht nur so, das ist die Wahrheit … aber dann hagelte es blaue Briefe noch und nöcher, da wars dann klar, ich muss das Schuljahr wiederholen. Und war ja fast noch ein halbes Jahr bis zum Sommer, da hatte ich dann endgültig keinen Bock mehr. Für mich stand fest, das schaffst du sowieso nie im Leben, also scheiß der Hund drauf.

Der Richard hat das Gewehr einfach mit in sein Zimmer genommen, und dann hatters unterm Bett versteckt. Na ja, versteckt sag ich, im Grunde lags da offen rum die meiste Zeit, da hat sich ja keine Sau drum gekümmert. So um den Dreh hatte die Mutter vom Richard dann auf einmal n festen Freund, den Udo. Der kam oft vorbei, hing mit ihr rum, der rauchte nicht und trank auch nix … abgerissener Typ, hatte wohl auch mal gesessen, aber eigentlich ganz nett, der kümmerte sich auch was um den Stan, brachte Spielsachen und Lebensmittel vorbei, der war nicht verkehrt. Ziemlicher Schrank, und der hat auchs Maul aufgemacht, wenn ihm was nicht gepasst hat, vor allem gegenüber dem Richard. Mach dies, mach das, red mal anständig mit deiner Mutter! Ich glaub, der meinte das wirklich ernst mit der, und das hat dem Richard natürlich gar nicht gepasst, dass da jetzt einer ihm sagen wollte, wos langgeht. Und irgendwann wars soweit, ein Wort gab das andere, und dann lag der Richard aufm Küchenboden, so schnell konnte der gar nicht gucken, so schnell, wie das ging. Ich habs selber nicht mitbekommen, aber einer von den Wieländer-Brüdern, und der sagte, meine Fresse, der Udo weiß auf jeden Fall wies geht, mit dem legste dich besser nich an. Ab da hat der Richard das Gewehr in seinem Zimmer versteckt, wenn der Udo kam.

Seine Mutter meinte dann, dass das mit dem Udo was anderes ist und sie keinen Bock mehr drauf hätte, alleine zu bleiben, das hat Richard mir später erzählt, dass sie ja schließlich auch älter wird und außerdem muss sie an den Jungen denken, den Stan … ich meine, klar, das hat sie zwar alles gesagt, aber ich jedenfalls habs ihr nicht geglaubt, weil warum? Warum sollte die ausgerechnet jetzt damit anfangen, sich um den zu kümmern? Der war ihr doch vorher die ganze Zeit scheißegal. Und so hat sich das entwickelt, dass die Stimmung da immer mieser wurde. Ständig Rumgebrülle, Udo, Richard, dicke Luft, ich bin immer seltener hin, weils mir einfach zu viel war. Ich bin dann wieder in die Bude im Wald, wurd ja auch langsam wieder wärmer, da war ich dann zwar alleine, aber das war gut so.

Dass ders wirklich ernst damit meint, das wurde mir erst so richtig klar, als der Richard mir erzählte, dass der oben bei Röders im Steinbruch paar Schüsse abgegeben hat. Da isser wohl einfach an nem Samstagabend hin, als keiner mehr da war. Ist ganz einfach, so und so halten und dann abdrücken, Treffen ist nicht das Problem, nur verdammt laut isses. Ich habs ihm zuerst nicht geglaubt, ich hab gedacht, der redet sich halt n bisschen heiß und das wars dann, der beruhigt sich wieder, weil … ich hätt besser sagen sollen: mach doch keinen Blödsinn, der verpisst sich irgendwann wieder, der Udo, und dann ist gut, dann ist wieder wie vorher, aber nein, nee, das ging für ihn nicht. War der Stolz, denk ich, sein Stolz war verletzt.

Ich habs nicht mitbekommen, nein. Obwohl - ne ganze Zeit lang, also danach, da hab ich erzählt, ich wär dabei gewesen, ich hätt sogar den Schuß gehört, aber das stimmt nicht, das war ne Lüge. Keine Ahnung, warum ich gelogen hab. Wahrscheinlich um mich interessanter zu machen, denk ich, ja, so wars wohl. Wie ich das mitbekommen hab, hat der Richard in der Küche auf den Udo gewartet - morgens, noch alles dunkel, und dann … aber irgendwas ist schief gegangen, ich denk mal, wenn du das noch nie gemacht hast, ich meine, aufn Menschen schießen, da wirste schon richtig Schiss haben, da zittern dir wahrscheinlich die Hände und alles. Ging an der Schulter vorbei, und keine Ahnung, dann wars das gewesen. Irgendwas war dann mit dem Gewehr, hat geklemmt oder wasweißichnicht, gab jedenfalls keinen zweiten Schuß, aber ich kenn mich da auch nicht so aus. Vom Rest hab ich nichts mitgekriegt. Die Grünen kamen ja und alles, Krankenwagen, ich wusste bis zum Abend von nichts. Einer von den Wieländern hats mir dann erzählt.

Hätt ich nicht gedacht, dass es mal so weit kommt. Weil, warum? Natürlich, wenn ich da jetzt drüber nachdenk, dreißig Jahre später, dann hätte man das schon kommen sehen können. Ich glaub, dass mit dem Udo, das war einfach nur der letzte Funk. Das hat alles zum Überlaufen gebracht. Ich gebe zu, ich hatte mich da innerlich schon von denen verabschiedet, Richard, Wieländer, Jaques. Mir ist im Wald, als ich da alleine in der Bude war, da ist mir so langsam klar geworden, dass ich nicht so bin wie die, und dass ich auch nie so sein werde wie die. Da hab ich ne Zeitlang für gebraucht, um das zu merken. Dass ich meinen Weg alleine gehen muss. Als ich das dann für mich klar hatte, da wusste ich, ich kann nicht da bleiben, wenn ich hier bleib, dann geh ich vor die Hunde, das wär auf jeden Fall so gewesen, garantiert, da wette ich drauf.

Gab dann so ne Art Burgfrieden bei uns zuhause - mein Alter ließ mich in Ruhe und ich ihn, und nach den Ferien hab ich dann die neunte Klasse wiederholt, ist mir vieles leichter gefallen, ich hatte den besten Notenschnitt, den ich jemals hatte. Aber es ging einfach nicht mehr. Ich bin ohne Abschluss runter, noch ein weiteres Jahr hätte ich nicht ausgehalten. Mir wurde das zu eng, zu klein. Da hat sich mir immer mehr die Kehle zugezogen. Den Richard habense natürlich abgeholt und weggesteckt, ich weiß gar nicht, wie lang. Ich hab den danach aus den Augen verloren, nur den Udo hab ich noch ein paar mal gesehen, der hatte n dicken Verband und den Arm inner Schlinge. Hat dann aber nicht gehalten mit Richards Mutter, ich meine, klar, wie sollte das auch funktionieren? Wäre ja unmöglich gewesen, oder? Was ich tun wollte, wie oder wohin, keine Ahnung - ich wusste nur, ich muss da weg, raus aus der Straße, aus der Stadt. Dass mit dem Richard hat mir die Augen geöffnet, das würd ich schon sagen. Ich meine, dass ich nicht auf Mädchen steh war mir dann auch irgendwann klar, aber ich wollte das allen ersparen, dass das jetzt jeder weiß. Vor allem mir selbst, glaub ich. Und so hätt ich da einfach nicht weiterleben können, das hätte mich kaputtgemacht.

Was mich am Richard angezogen hat … ich glaub, weil ihm alles scheißegal war. Weil er auf keinen Rücksicht genommen hat, und weil die Leute ihn respektiert haben … das hab ich wenigstens gedacht. Dass er macht, was er will und damit durchkommt, dass er sein eigenes Ding macht und sich von niemandem was sagen lässt. Aber das stimmte natürlich auch nicht so ganz. Jeder hat vor irgendwas Schiss, auch der Richard. Gibt immer einen Stärkeren, einen Besseren, einen Schnelleren.

Zuerst bin ich nach Köln, hab da in nem Restaurant gearbeitet, in der Küche als Hilfskraft, aber war auch in Ordnung, wir haben viel gelacht, viel gefeiert, später weiter nach Berlin, da hab ich in Clubs gearbeitet, 90er Jahre, Techno war gerade groß im Kommen, Raves undsoweiter, auch ne Menge Drogen. Hab dann ein paar Jahre inner Bauwagensiedlung gelebt, ohne Strom und alles, ging aber auch. Später hab ich mit Freunden in nem Club aufgelegt, im In vitro, das lief bombig, wurde richtig Kult, der Laden. Jetzt arbeite ich wieder in der Küche, gutes Restaurant, die Kurtisane in Friedrichshain. Glaubt mir immer keiner, wenn ich sag, eigentlich hab ich keinen richtigen Schulabschluss. Ich sag, ich hab Straßenabitur, das muss reichen, und hats ja auch, mir gehts gut.

Zu meinen Eltern hab ich keinen Kontakt mehr, nein, die würden meine Welt auch gar nicht verstehen, das hat einfach keinen Sinn, ist besser so für alle. Die wissen nichts von mir und ich nichts von denen. Zu sonst auch keinem, nein… was aber seltsam ist, und da bin ich auch nie hintergekommen: als die Grünen den Richard eingesackt und in der Box hatten, da müssen sie den ja ausgequetscht haben, wo er das Gewehr her hat und alles, und da hätte er jederzeit sagen können, dass ich mit dabei gewesen bin - hätt vielleicht nichts geändert an der ganzen Sache, denn er hat ja schließlich abgedrückt, nicht ich, aber ich glaub trotzdem, das wäre nochmal was anderes gewesen, die Schuld hätte sich doch irgendwie verteilt, oder? So sehe ich das jedenfalls, ich meine, irgendwie haben wir sie ja beide gefunden - mitgehangen, mitgefangen. Aber kam nie was. Ich hab wirklich drauf gewartet, dass die jetzt kommen und mich abholen, doch ist nichts passiert, nie.

Klar, würd mich schon interessieren, was aus denen allen geworden ist, besonders ausm Stan. Ich weiß noch, dass im Raum stand, dass das Jugendamt kommt und den mitnimmt, weil das dann alles rausgekommen ist, dass die ständig alleine in der Bude waren … ob’s dann auch passiert ist, weiß ich aber nicht. Die Mutter ist ziemlich schnell weggezogen nach der Sache, und was ausm Richard geworden ist, wie gesagt, keine Ahnung. Man denkt da nicht mehr so drüber nach, weils auch so lange her ist, und heute lebe ich eben ein anderes Leben. Ich habs mir schon oft überlegt, einfach mal in den ICE setzen und hinfahren, mir das nochmal angucken, die alte Gegend, sieht sicher alles ganz anders aus heute, wahrscheinlich würd ichs kaum wiedererkennen. Aber ich sag mir dann immer: wofür? Wofür? Nein, das ist endgültig vorbei, endgültig. Ich leb heute einfach ein anderes Leben.

 

Den Peter würde er vermutlich weglassen, oder?
Moin,

nee, ich hab die selber geraucht, ich hab nie nur Stuyvesant gesagt. Was rauchste da? Peter Stuyvesant. Kommt schon hin, ist aber wahrscheinlich auch echt regional anders.

Rest wird umgehend berichtigt. Danke dafür.

Gruss, Jimmy

 

und keiner weiß wo du bist, und findest du wieder nach Hause, und was, wenn der dich da einfach verprügelt, weil der da grade Bock drauf hat? Wenn der dich richtig quält? Weil du ein falsches Wort gesagt hast zum Beispiel - ja, so war das, das ist nicht zum lachen,
keiner weiß,
zum Lachen
aber ich hab einfahc gar nichts mehr gesagt, und dann wussten wirs, ja, der ist tot, der is wirklich tot.
einfach

Hatte wieder ein paar Minuten Zeit. Nimmt allmählich Fahrt auf, ist aber auf Dauer anstrenged zu lesen. Ein paar Zeilenumbrüche oder Absätze täten den Augen gut.

 

Von daher sind die Sujets nicht neu bei dir und ich werde mal darüber nachdenken, welche speziellen Aspekte und Themen dieser Text beleuchtet.

Moin,

na ja, klar. Ich denke, jeder Autor hat seine Themen, die er immer wieder verwendet. Robert Olmstead sagt sogar, man erzähle im Grunde immer die gleiche Geschichte, nur in Variationen. Da ist was dran, finde ich. Der Tod, das Düstere, das Manipulative, die provinzielle Enge, das kleinstädtisch-brutaleske, das sind irgendwie meine Themen.

Man denkt lange, es läuft auf eine Missbrauchsgeschichte hinaus. Jedenfalls habe ich das gedacht. Dann wird irgendwann klar, das Gewehr muss noch zum Einsatz kommen.
Das finde ich interessant: heißt doch, der red herring funktioniert, wenn du auf einen Mißbrauch tippst. Das Gewehr ist natürlich ein Klassiker: einmal eingeführt, MUSS sie verwendet werden. Deswegen auch der Titel: Gewehrnovelle.

Danke für Zeit und Kommentar erstmal!

Gruss, Jimmy

Hatte wieder ein paar Minuten Zeit. Nimmt allmählich Fahrt auf, ist aber auf Dauer anstrenged zu lesen. Ein paar Zeilenumbrüche oder Absätze täten den Augen gut.
Danke dir sehr. Ich pfleg das nach und nach ein.

Gruss, Jimmy

 

Aber mein Gefühl ist, du könntest das Tempo etwas anziehen, also Sätze/Passagen kürzen. Ich glaube, dem Text würde dadurch nichts fehlen.

Nochmal drüber nachgedacht. Der ist mir schon sehr explodiert, das stimmt. Es ist nun so, dass ich denke, all das, was geschrieben wird, gehört zur Bildung des Charakters; Leine lassen, nicht direkt auf den Punkt kommen. Kann natürlich verfänglich sein und genau in die andere Richtung umschlagen, dass muss ich wohl riskieren, bei so einem Text. Ich wüsste jetzt auch spontan nicht, wo ich umfangreich kürzen kann, ohne etwas preiszugeben. Ein wichtiger Punkt, zumindest ist es mir wichtig, ist, nicht sofort auf einen Kilmax hinzuschreiben; das ist vielleicht eine Eigenart von mir, mag sein, aber ich lese so etwas auch einfach selber gerne. Ich denke also nochmal nach, wo und wie ich was kürzen könnte und ob ich was dann will!

Gruss, Jimmy

 

Hallo @jimmysalaryman!

Ein schönes Stück Nostalgie, das du in deiner Novelle rüberbringst (wo liegt eigentlich die Grenze zwischen Novelle und Kurzgeschichte? :hmm:). Nicht, dass es in meiner Biografie eine ähnliche Situation gab, aber man spürt den Wehmut des Erzählers über vergangene Zeiten richtig gut, mag ich. Der Prot erzählt zwar alles sehr langatmig mit vielen Wiederholungen, woran ich mich aber schnell gewöhnen konnte. Du benutzt das ja als Erzählmittel. Nur an einer Stelle ging's mir dann doch zu lange, und zwar in der Passage, wo zum ersten Mal über Richards Mutter berichtet wird. Da weiß man schon nach der Hälfte, wie das bei denen zu Hause läuft, das kannst du m.E. deutlich kürzen.
Ein Problem mit dem Erzählstil habe ich dann nur damit, dass sich der Prot anhört wie der Jugendliche, dem das damals passiert ist. Er erzählt das aber aus heutiger Sicht, als Erwachsener. Am Ende erzählt er dann noch, dass er ein Restaurant aufmacht etc. Mir einen seriösen Lokalbesitzer vorzustellen, der redet wie ein Halbstarker fällt mir schwer, selbst, wenn das Lokal in Friedrichshain steht... Aber vielleicht habe ich eine falsche Vorstellung davon.
Etwas ratlos hat mich das Ende zurückgelassen, da ich bis zum Schluss auf einen großen Twist oder ein Reveal gewartet habe, so in der Art dass er erfährt, was aus Richard und seinem Bruder geworden ist und das mit einer Überraschung daherkommt. Andererseits wolltest du anscheinend trotz des reißerischen Titels eher ein subtiles Ende, und dann ist der "kleine" Twist, das Richard den Prot nicht bei der Polizei verpetzt hat, ganz okay. Auch, wenn mich das jetzt nicht aus den Socken gehauen hat.

Hier noch ein paar Schnitzer, die mir aufgefallen sind:

Wir sind eben einfach in derselben Straße jaufgewachsen
J weg

und da dacht ich einfach, dass ist der Richard, der macht dir das Gefühl
das

was man vielleicht schon mal beim Kiosk in der Auslage gesehen hattem

wie an der Fleischtheke beim Metzger
Kein Fehler, finde nur den Vergleich super 🤣

aber ich hab einfahc gar nichts mehr gesagt, und dann wussten wirs, ja, der ist tot, der is wirklich tot.

denen machts nichts aus, wenn du denen mal in die Hose gehts
Buchstaben vertauscht.

dann fing die Mutter noch an rumzuheulen, Klassikerer
Auch offensichtlich.

die ließen sich nicht vertreiben, und deswegen wurds dem Richard zu heiß mit dem Gewehr, dass die das nachher noch zufällig finden
Nur ein Detail, aber das zufällig kann meines Erachtens weg, es erklärt sich von selbst, dass die nicht gezielt danach suchen würden.

in dem Augenblick, da hab ich das gespürt - dasser richtig Schiß hatte
Das Wort kommt ja sehr oft vor, und immer schreibst du es gemäß aktueller Rechtschreibung korrekt "Schiss", nur hier nicht.

Alles in Allem eine schöne Geschichte mit Tiefgang.

VG
MD

 

Nicht, dass es in meiner Biografie eine ähnliche Situation gab, aber man spürt den Wehmut des Erzählers über vergangene Zeiten richtig gut, mag ich.

Hallo und danke für deine Zeit und deinen Kommentar, @MorningDew

Wehmut, ich weiß nicht. Im Grunde ist es doch, oder soll es sein, eine Abrechnung mit der engen Umgebung, mit der Provinzialiät; ist natürlich deswegen wertvolles Feedback, weil ich das dann noch besser motivieren muss. Mir fehlt in dem Text selbst auch noch etwas die Auseinandersetzung mit den Eltern, die sind mir noch zu blass irgendwie. Ich denke, am Ende schaut er auf diese Episode zurück, als eine Zeit der Entscheidung: es liest sich vielleicht vom Feel her nostalgisch, sollte aber nicht wehmütig klingen.

Nur an einer Stelle ging's mir dann doch zu lange, und zwar in der Passage, wo zum ersten Mal über Richards Mutter berichtet wird.
Gucke ich nach, was ich tun kann.

Ein Problem mit dem Erzählstil habe ich dann nur damit, dass sich der Prot anhört wie der Jugendliche, dem das damals passiert ist. Er erzählt das aber aus heutiger Sicht, als Erwachsener. Am Ende erzählt er dann noch, dass er ein Restaurant aufmacht etc. Mir einen seriösen Lokalbesitzer vorzustellen, der redet wie ein Halbstarker fällt mir schwer, selbst, wenn das Lokal in Friedrichshain steht... Aber vielleicht habe ich eine falsche Vorstellung davon
Das ist in der Tat immer so eine Sache: Vielleicht sollte ich den eher clean sprechen lassen, ich weiß nicht. Der spricht ja nun keinen Jugendslang oder so, aber du meinst, der klingt insgesamt zu jung? Dann mal andersherum: mich würde interessieren, wo genau du das dran festmachst? Das wäre insofern hilfreich, dann könnte ich da gezielt drangehen. Man muss ja immer bedenken, dass hier ist eine recht intime Erzählsituation, da wird ausgeholt, vertieft, wiederholt, und da sollte auch der Ton vertrauter, näher wirken. Na ja, vielleicht liege ich da auch total falsch, kann auch sein.
Etwas ratlos hat mich das Ende zurückgelassen, da ich bis zum Schluss auf einen großen Twist oder ein Reveal gewartet habe, so in der Art dass er erfährt, was aus Richard und seinem Bruder geworden ist und das mit einer Überraschung daherkommt. Andererseits wolltest du anscheinend trotz des reißerischen Titels eher ein subtiles Ende, und dann ist der "kleine" Twist, das Richard den Prot nicht bei der Polizei verpetzt hat, ganz okay.
Ja, das ist kein Knallerende. Ich finde, das muss hier auch nicht hin, das Geheimnis um Richard und seinen Bruder kann und sollte bleiben - das ist auch eventuell etwas, das der Erzähler im Grunde nicht wissen will, er ist ja mehr oder weniger geflohen aus dieser Gegend, und zweifelt ja auch selbst, ob und was ihm eine Rückreise oder Nachforschungen bringen würden, denn er lebt ja jetzt, wie er betont, ein anderes Leben.

Gruss, Jimmy

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey @jimmysalaryman,

ist ein interessanter Text mit einem coolen Titel. Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass jemand irgendwo an einer Bar sitzt, sich schon ein paar Bier reingezimmert hat und dann seine Lebensgeschichte erzählt. Diese häufigen Einwürfe, in denen er sich rechtfertigt oder versucht die Situationen im Nachhinein zu bewerten, gaben mir sehr diesen Eindruck. Für mich hört sich die Geschichte also nicht wirklich nostalgisch an, sondern eher wie eine Auseinandersetzung mit Dingen, die ihm auf der Seele liegen, die er bisher aber nicht wirklich verbalisiert hat.

Für mich ist es schwer, da jetzt einzelne Aspekte rauszunehmen und zu kritisieren. Zum Beispiel sind einige Tippfehler im Text und es werden auch häufig Phrasen benutzt, aber es scheint mir, dass das alles zum Gesamtkonstrukt dazu gehört. Was ich besonders interessant finde ist, dass sich der Fokus beim Schreiben verschiebt, wenn man versucht die Sprache der Figur zu benutzen.

bekannt wie n bunter Hund
Normalerweise würde man solche Phrasen ja möglichst im eigenen Text vermeiden, aber da die Figur selbst erzählt, zeichnet man damit ihr Sprachbild, bzw. man personifiziert den Erzähler selbst.

Die Handlung ist auf jeden Fall interessant genug, um das Interesse beim Lesen aufrecht zu erhalten. Auf der anderen Seite sehr realistisch. Könnte genau so in irgendeiner Stadt an einem Wald passiert sein. Vielleicht geht es mir dabei einen Ticken zu weit in Richtung Glaubwürdigkeit. Also meiner Meinung nach würde der Text davon profitieren, einen ausgeprägteren Höhepunkt zu haben oder tatsächlich einen Twist am Ende.
Vielleicht könnte man tiefer darauf eingehen, dass mit dem Abfeuern des Gewehrs im letzten Akt nicht nur Udo getroffen wurde, sondern alle Beteiligten metaphorisch. Also Stan kommt ins Heim, vielleicht wird der Erzähler auch von der Polizei verhört, etc. Nur so eine Idee, die mir kam.

Grüße
Klamm

 

ist ein interessanter Text mit einem coolen Titel.

Liebe/lieber @Klamm, danke dir für deinen Kommentar und deine Zeit.

Interessant und cool kaufe ich natürlich beides. Ja, der Titel ist etwas verfänglich, denn wie wir seit den alten Russen wissen, muss die Pistole bzw das Gewehr, welches erwähnt wird, schließlich auch benutzt werden. Insofern ganz klassisch alles.

Diese häufigen Einwürfe, in denen er sich rechtfertigt oder versucht die Situationen im Nachhinein zu bewerten, gaben mir sehr diesen Eindruck.
Dieses Rekapitulieren finde ich wichtig für diese Sorte Text, denn bei aller vermuteter Glaubwürdigkeit - wissen tun wir das nicht, vielleicht lügt der Erzähler auch. Das vermögen wir nie mit Sicherheit zu sagen; das macht diese narrative Form auch so spannend, man darf damit nicht so offensichtlich spielen, sonst sagt der Leser: Ah, ich erkenne den Trick. Vielmehr ist die gesamte Anlage der Erzählung bereits fragil und fragementiert: oft lese ich in sogenannter Autofiktion dann Analysen bestimmter Geschehnisse und denke mir - aha, wie kann sich ein 8 Jähriger dermaßen präzise und bestimmt daran erinnern? Das stimmt doch nicht! Das ist also auch ein wenig die Inszenierung nicht nur der Mündlichkeit, sondern auch der Erinnerungswahrscheinlichkeit an sich.
Für mich hört sich die Geschichte also nicht wirklich nostalgisch an, sondern eher wie eine Auseinandersetzung mit Dingen, die ihm auf der Seele liegen, die er bisher aber nicht wirklich verbalisiert hat.
Nostalgisch, das kommt (oder kann) einem so vorkommen, weil es um die typischen Coming of Age Topoi geht: Bier, Rauchen, Mädchen, nur kommt es dann etwas anders. Ist ja auch ein wenig vergleichbar von der Anlage mit The Body von King, nur finden die hier eben keine Leiche, sondern ein Gewehr. Na ja, ich will das gar nicht vergleichen, weil King natürlich eine andere Hausnummer ist als ich Laie, aber von der Grundanlage, als Folie sag ich mal, liest man solche Texte mit einer ähnlichen emotionalen Ausrichtung; da liegen ein paar Trigger drin, der ältere Freund, der Wald, die Eltern, der erste Rausch, das sind ja so Versatzstücke, die einem bekannt vorkommen und hier zusammengesetzt werden: ich hoffe, auf halbwegs goutierbare Weise.

Was ich besonders interessant finde ist, dass sich der Fokus beim Schreiben verschiebt, wenn man versucht die Sprache der Figur zu benutzen.
Das ist ja der Sinn der Sache, mit diesem Idiom so nah wie möglich ranzukommen; manchmal gelingt es besser, manchmal nicht so. Das hängt vom Sujet ab und kommt auch auf Kleinigkeiten an, denke ich. Diese alltägliche Umgangssprache, die wird ja von den Literaten geschmäht, und deswegen klingen dann ihre Protagonisten oft auch so papiern, erfunden, konstruiert. Um kluge Dinge denken und sagen zu können, müssen die dann mindestens selbst Autor sein oder aber Intellektueller: sonst würde das nicht hinhauen. Für mich funktioniert das aber nicht, denn für mich werden Charaktere dann echt und glaubwürdig, wenn sie echt sprechen. Und dazu gehört eben auch die typische Umgangssprache.
Auf der anderen Seite sehr realistisch. Könnte genau so in irgendeiner Stadt an einem Wald passiert sein. Vielleicht geht es mir dabei einen Ticken zu weit in Richtung Glaubwürdigkeit. Also meiner Meinung nach würde der Text davon profitieren, einen ausgeprägteren Höhepunkt zu haben oder tatsächlich einen Twist am Ende.
Ich verstehe, was du meinst, dieser Text folgt nicht den Regeln der Kurzgeschichte in dem Sinne, dass sie eine inhärente Dramaturgie hat; auf den Klimax wird verzichtet, im Grunde verbleibt der Text kurz vor der Amplitude. Stimmt auch nicht ganz, denn das Gewehr wird benutzt, nur werden die Folgen nicht so genau beleuchtet. Hier muss ich aber einhaken; das isr auch ein wenig der Position des Erzählers geschuldet. Der wichtet natürlich seine eigene Erinnerung an seinen eigenen Weg, den er danach, nach diesen Ereignissen, eingeschlagen hatten, anders als ein Erzähler, der die Schicksale der anderen Protagonisten miterzählt.
Vielleicht könnte man tiefer darauf eingehen, dass mit dem Abfeuern des Gewehrs im letzten Akt nicht nur Udo getroffen wurde, sondern alle Beteiligten metaphorisch. Also Stan kommt ins Heim, vielleicht wird der Erzähler auch von der Polizei verhört, etc. Nur so eine Idee, die mir kam.
Das wäre eine Möglichkeit. Das ist ja theoretisch alles möglich, es wird nur nicht aus der Sicht des Erzählers berichtet. Ist natürlich auch ein Teil der Strategie, das einfach auslaufen zu lassen, weil, wie im echten Leben, man nicht immer genau weiß oder wissen will, wie es tatsächlich weitergegangen ist; es wird nur vermutet. Ich finde, das passt hier ganz gut irgendwie. Auflösungen finde ich immer tricky, weil sie oft konstruiert klingen; dann muss das so sein damit X passend wird für Y. Manchmal ist es auch gut, einfach vor dem letzten Akt rauszugehen, das vage zu lassen.

Gruss, Jimmy

 

In deinem ersten Satz sehe ich eine Ungereimtheit, die der einmalige Leser allerdings nicht wahrnehmen wird. Die Stelle ist auch nicht zwingend ungereimt, aber doch sehr wahrscheinlich, wenn man dann den Schluss der Geschichte liest:

Moin,

interessant, dass dir das aufgefallen ist. Das steht im Widerspruch zu den letzten Abschnitten, und es wird auch aus der Erzählersicht nicht klar, weiß er es, stimmt das, was er sagt? Ist natürlich etwas verfänglich, hast du Recht, müsste man vielleicht noch einen Satz einbauen, dass er noch Kontakt zu jemandem vor Ort hat oder hatte.

Hat das einen Grund, warum nur das im Präsens ist, zumal er ja vorher explizit sagt, dass es da heute nicht mehr so aussieht?
Ich glaube, da stehen noch mehr Halbsätze im Präsens, weil man ja auch so spricht, man taucht dann sozusagen in die direkte Szene, die man erzählt, ein - ich nehme mal an, grammatikalisch ist das vollkommen falsch, aber ich finde, es hört sich richtig an.

Über die Stelle muss man sogar als halber jecken Doll stolpern: "Jeck im Sunnesching" ist doch dieses Karnevalsfestival mitten im Sommer. Warum pickst du das hier als Name heraus und verortest das zur Zeit des normalen Strassenkarnevals? Und ausserdem gibt es dieses Festival doch erst seit ein paar Jahren - damals war das noch gar nicht geprägt als Begriff.
Das stimmt, das kommt raus, ich weiß nicht, warum das da reingekommen ist, ist natürlich vollkommener Blödsinn.
Die einzigen Menschen, die ich kenne, die jemals "Schmier" gesagt haben, waren Leute wie ein Handwerker und Zollstocker Urgewächs, für den ich mal gearbeitet habe. Das ist wirklich so ein Begriff aus der kölschen Halbwelt für mich. Aber sagt man das noch nach Jahrzehnten in der Techno- und Schwulenszene in Berlin? Bleibt man da so ruppig-derb? Oder würde man da nicht eher von "Polente" oder "Polypen" reden?
Mag sein, ich kenne viele, die Schmier sagen. Aber es stimmt schon, es klingt ein wenig nach Klein-Chicago. Hänge ich nicht dran, könnte auch einfach Polizei schreiben, oder? Anderenorts sagt er: die Grünen.

Auch, und das klingt jetzt vielleicht ein bisschen chauvinistisch, fehlt mir etwas der schwule Einschlag. Ich meine, wenn ich zum Beispiel an Sven Marquardt denke, den zutätowierten und vollgehängten Berghain-Türsteher, der jetzt nun wirklich nicht Typ "Tunte" ist, dann merkt man selbst dem in Interviews und Dokus an, dass sein Slang von der Club-, Gastro- und Schwulenszene geprägt ist. Klar, da ist viel Betonung und Optisches im Spiel. Aber ich finde, dein Erzähler klingt nicht so ganz nach Berliner Club- und Schwulenszene, sondern eben eher nach rheinischer Arbeiterklasse.
Das stimmt. Zuerst ist er nur, in einer früheren Fassung, in Köln geblieben. Da Berlin aber Köln in Sachen Gay-Szene wohl den Rang abgelaufen hat, wollte ich das irgendwie unterbringen. Wahrscheinlich ein Fehler. Zuerst sollte er im Odonien arbeiten, was vielleicht jetzt, rückblickend mit dem Feedback, die bessere Wahl wäre.

Tja, wie klingt ein Schwuler? Ich weiß nicht, ich hab zwei schwule Freunde, der eine klingt wirklich wie eine Tunte, der andere null, der klingt wie ich, würde ich mal behaupten. Das ist auch wieder so ein Minenfeld im Grunde, wie man so eine Person erzählen soll, wenn man selbst nicht schwul ist? Schwierig. Müsste ich eventuell das Berlinding rausnehmen, um es noch lokaler zu machen. Habe ich spontan jedenfalls keine andere Lösung für.

Das ist doch die Schule, um zum Menschenkenner und Entertainer zu werden. Würde so jemand nicht viel pointierter und direkter und auch selbstreflektierter erzählen, den Zuhörer oft direkt ansprechen, ihn ein wenig foppen usw.? So wertende Sätze einer gereiften Szenepersönlichkeit sagen wie "Ach Gottchen, waren wir jung!" :-)
Ja, ich verstehe, was du meinst. Würde das ein Text mit einer Pointe sein oder tatschlich nostalgisch, würde ich das sofort unterschreiben. Hier soll aber doch etwas anderes ausgedrückt werden, der Kampf aus der Enge heraus, und da finde ich Ironie oder Humor irgendwie die falschen Mittel. Ich tue mich allgemein schwer mit Humor.
Dazwischen liegen 2000 (!) Wörter Beschreibung der Figuren und Lebensumstände. Ich finde, das unterbricht den Flow schon extrem lange und krass. Klar, du setzt am Anfang den Anker und dann wird der Wald auch immer mal kurz generell erwähnt, um ihn den Lesern wieder in Erinnerung zu rufen. Aber so richtig packend ist das nicht.
Ja, auch hier; kürzen werde ich den auf jeden Fall. Ich muss da nur in die Stimmung zu kommen ... wenn ich so Sachen schreiben, bleibe ich erstmal möglichst nah am Mündlichen, weil ich den auch so beim Schreiben mitspreche, dann kann man sich nach und nach davon entfernen. Das braucht aber mentalen Abstand, damit man stabil bleibt, kill your darlings is never easy! Aber: I hear you.

Danke für die nochmalige Beschäftigung mit dem Text, ist ein guter Kommentar.

Gruss, Jimmy

 

Hi nochmal @jimmysalaryman ,

Wehmut, ich weiß nicht.
Da hab ich mich im Wort vergriffen, Verklärtheit trifft meinen Eindruck besser. Aber vielleicht habe ich was Verkehrtes reininterpretiert. Ich unterstelle halt oft, dass man sich später an das Meiste aus der Jugend "geschönt" zurückerinnert, selbst wenn es damals gar nicht so prickelnd war. Dass du den Prot am Ende alle Leinen durchschneiden lässt, spricht schon gegen Nostalgie.

Der spricht ja nun keinen Jugendslang oder so, aber du meinst, der klingt insgesamt zu jung?
Bei dem saloppen Erzählstil mit den vielen Wiederholungen und dem Rummäandern hatte ich das Gefühl, als könne ich diese Person nicht ganz für voll nehmen. Darum hab ich an einen unreifen Jugendlichen gedacht oder an einen leicht Zurückgebliebenen. @Klamm sieht in ihm einen Betrunkenen, der sein Herz ausschüttet. Gefällt mir tatsächlich besser und würde auch den Rest erklären.

VG
MD

 

So, an alle, die den Text gelesen haben; einmal überarbeitet. Gekürzt, verdicht, ergänzt. Wer immer es sich noch einmal antun will ...

 

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