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Giftpilze

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06.12.2017
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Giftpilze

Dichte Nebelschwaden ziehen, nachdem es vormittags noch geregnet hatte, über den Berg, der sich mitten in einer idyllischen Wald- und Seenlandschaft befindet. Wie Wanderer einer Infotafel am Fuße des Bergs entnehmen können, lagerte während des 30-jährigen Kriegs am Nordhang einmal ein berühmter General mitsamt seinen Soldaten. Ich erinnere mich. Daran, dass ich mir, als ich mit meinen Eltern meine Sommerferien hier verbrachte, vorstellte, selbst dieser berühmte General zu sein und blutige Schlachten zu schlagen, die ich in meiner Vorstellung natürlich immer alle gewann. Ich stellte mir auch vor, Winnetou zu sein. Der große Häuptling. Oder Flash Gordon. Der Weltraumheld. Ich hatte wirklich eine blühende Phantasie. Damals. Bevor sich meine Träume verdunkelten und schließlich schwarz wurden und nur noch eine bilderlose Unruhe übrigblieb, die mir nicht selten nächtelang den Schlaf raubte. Ich schließe meine Augen. Ich lege meine Fingerspitzen an die Schläfen. Ich erinnere mich. Ich erinnere mich wieder an alles. Jetzt. In diesem Augenblick. Und jetzt. Und jetzt. Daran, dass uns in jenem Sommer, in dem wir hier in der Gegend Urlaub machten, ein Kollege meines Vaters besuchte, der, bevor er sesshaft und der Kollege meines Vaters geworden war, lange im Ausland gelebt hatte, in Indien, China, und auch in Lateinamerika, und von sich behauptete, ein großer Wanderer und noch größerer Pilzexperte zu sein, tatsächlich habe er, so er, als wir dann, Mutter hatte mal wieder, ich erinnere mich, Migräne und Vater wollte sich um sie kümmern, ich erinnere mich, ich erinnere mich, zusammen in die Pilze gingen und mich in den Arm nehmend, ich erinnere mich, in Argentinien einen zuvor noch unbekannten Pilz entdeckt, der, ich erinnere mich, dann sogar nach ihm benannt worden war. Es lachte dabei und es war natürlich klar, dass es nur ein Scherz war, aber ganz sicher war ich mir nicht. Tatsächlich wusste er alles über Pilze. Ich erinnere mich. Daran, dass er nicht zögerte und mich mit den verschiedenen Pilzarten bekannt machte, dem Steinpilz, der Marone, dem Pfifferling, der Rotkappe, dem Birkenpilz, dem Sandröhrling auch, und mir dann auch, ich erinnere mich, die Giftpilze zeigte, den Fliegenpilz, den Pantherpilz, den Kahlen Krempling, den Speitäubling, und natürlich auch den Knollenblätterpilz, den König aller Giftpilze, den weißen Knollenblätterpilz, den gelben, und den tödlich giftigen grünen. Er verband Pilz- mit Lebenskunde. Er erklärte mir, ich erinnere mich, ich erinnere mich, ich erinnere mich, den kleinen, aber feinen Unterschied zwischen dem überaus wohlschmeckenden, auch als Herrenpilz bezeichneten Steinpilz und dem Gallenröhrling, der mit seinem galligen Geschack jedes Pilzgericht verderbe, und meinte schließlich, während er, ich erinnere mich plötzlich wieder so genau daran als wäre es erst gestern gewesen, einen netzstieligen Hexenröhrling, der, wie er mir augenzwinkernd, als würde er mir ein großes Geheimnis verraten, erklärte, trotz seines abstossenden Namens ein äußerst schmackhafter Speisepilz sei, aus der Erde schnitt, dass das Gesunde und das Giftige oft nah beisammen lägen, kaum voneinander zu unterscheiden seien - und schenkte mir dann, nachdem er den Röhrling in den Pilzkorb gelegt hatte, sein Original Schweizer Taschenmesser, auf das ich, wie ihm nicht entgangen war, schon die ganze Zeit geschielt hatte. Auf einer kleinen Lichtung machten wir dann Rast. An das Summen von Waldbienen kann ich mich noch erinnern. Und daran, dass ich, als er plötzlich über mich herfiel und mich missbrauchte, auf einen einzelnen Pfifferling starrte, der aus dem Korb neben mir ins Gras gefallenen war, und, während ich erstarrte, dachte, dass, wenn ich die Augen schlösse und der Pfifferling verschwände, auch ich verschwände. Ich verschwand. Ich verschwand nicht. Ich erinnere mich. Ich erinnere mich nicht. Ich erinnere mich. Daran, dass ich dann schweigsam, einzelgängerisch und eigenbrötlerisch wurde. Die Zeit, von der behauptet wird, sie heile alle Wunden, heilte nichts. Die Wunden blieben. Ich tat alles, um sie zu übertünchen, baute eine makellose Fassade auf, spielte perfekt meine Rolle darin, und tatsächlich gab es eine Zeit, in der ich schon dachte, ich hätte es geschafft und könnte endlich das Leben führen, das ich mir als ein normales vorstellte. Aber natürlich machte ich mir etwas vor. Die Wunde war immer noch da. Sie war nie weg gewesen. Die Wunde. Die Wunde. Die Wunde. Als die Frau, von der ich dachte, ich würde sie lieben und die ich, nachdem sie lange um mich geworben hatte, schließlich geheiratet hatte, mich eines Tages verließ, überraschte es mich nicht. Ich hatte im Grunde immer damit gerechnet, wusste von Anfang an, dass ich nicht gut genug für sie war, dass sie etwas besseres verdient hatte, und war, als das, was ich lange erwartet hatte, schließlich eintrat, beinahe erleichtert. Ich erinnere mich. Daran, dass sie mich in unserer letzten Auseinandersetzung als emotionalen Krüppel bezeichnete, und daran, dass ich, als ich dann endlich allein mit mir war und mich im Spiegel betrachtete, wusste, dass sie recht damit hatte, und dass ich, wollte ich nicht verrückt werden, endlich etwas tun musste. Vorgestern war das. Als ich dann gestern morgen, nachdem ich seinen Wohnort recherchiert hatte, vor seiner Tür stand, war ich, zu meiner eigenen Überraschung, vollkommen ruhig. Meine innere Unruhe, sonst mein ständiger Begleiter, war plötzlich wie weggeblasen. Plötzlich. Plötzlich. Plötzlich. Endlich schlurfende Schritte hinter der Tür vernehmend, setzte ich, ich erinnere mich, mein jungenhaftestes Lächeln auf, und lächelte noch, als er, wie ich sah: über sein wahres Alter hinaus gealtert, greisenhaft fast, in einem lapprigen Bademantel vor mir stand, und heuchelte Wiedersehensfreude und zuckte nicht mit der Wimper, als ich ihm dann, noch immer lächelnd, lächelnd, lächelnd, mitteilte, dass ich mich noch gut und gerne an unser gemeinsames Pilzsuchen erinnern könne, und ihn dazu einlud, noch einmal mit mir in die Pilze zu gehen, an denselben Orten wie damals. Wie damals. Wie damals. Wie damals. Ich erinnere mich. Daran, dass ich mich plötzlich fragte ich mich, ob er mich überhaupt erkannte, oder nicht schon völlig dement geworden war, aber dann zeigte sich plötzlich doch noch ein Ausdruck in seinem Gesicht: die Aussicht auf einen Waldspaziergang mit Pilzsuche verjüngte ihn sichtlich. Ich erinnere mich. Daran, dass, als wir dann, nachdem wir nach einer langen Autofahrt, während der ich, während er, den Kopf ans Fenster gelehnt, zu dösen schien, über das unglaublich glückliche, unglaublich erfüllte und wahnsinnig erfolgreiche Leben plauderte, das ich, wie ich vorgab, in der Zwischenzeit geführt hatte, nach Einbruch der Dunkelheit angekommen waren und in getrennten Fremdenzimmern übernachtet hatten, von denen eines, wie es mein Plan erforderte, über eine Küchenzeile verfügte, endlich loszogen, mit Pilzkörben bewaffnet, die ich unterwegs noch in einem Baumarkt besorgt hatte, der Tau noch auf den Zweigen der Bäume lag und der Waldboden dampfte, eine surreale Stimmung, fast wie in einem Traum. Aber es war kein Traum. Es war alles andere als ein Traum. Ich war in der Wirklichkeit angekommen. Endlich. Ich erinnere mich. Daran, dass ich, zurück in unserer Unterkunft und nachdem er, den unser Waldspaziergang, ich erinnere mich, sichtlich erschöpft hatte, sich, wie von mir vorgeschlagen, hingelegt hatte, die Pilze putzte, die Steinpilze, die Maronen, die Pfifferlinge, die Rotkappen, die Birkenpilze, die Sandröhrlinge, und auch den grünen Knollenblätterpilz, den ich hinter serinem Rücken aus der Erde geschnitten und unter den anderen Pilzen im Korb versteckt hatte, und der, wie er es mir damals, als ich noch ein Kind war, erklärt hatte, leicht mit dem Wiesenchampignon verwechselt werden könne, das Gesunde und das Giftige liegen nahe beieinander, das Gute und das Böse, ich erinnere mich, ich erinnere mich, ich erinnere mich, und dann in schmale, dünne Scheiben schnitt, bevor ich die Pilze dann mit zerlassener Butter und einer gehackten Zwiebel in einer großen Pfanne schmorte. Ich erinnere mich.Daran, dass ich mich, als er, nachdem er, nachdem ich, ich erinnere mich, zuerst meinen eigenen Teller mit einem gesondert zubereiteten Pilzgericht gefüllt hatte, ein paar Bissen von seinem Teil des Pilzgerichts, in dem der Knollenblätterpilz enthalten war, gegessen hatte, plötzlich blau anlief und zu Röcheln begann, dazu zwang, meine Augen offen zu halten. Meine Augen sind offen. Meine Augen sind zu. Meine Augen sind offen. Und dann, jetzt und als wäre mein Augenöffnen ein Stichwort gewesen, kommt plötzlich die Sonne durch. Ich nehme meine Fingerspitzen von den Schlafen. Ich atme tief durch und die würzige Waldluft ein. Ich bin endlich frei. Und ich werde frei bleiben. Möglicherweise wird man sich, nachdem man den Toten in der Pension finden wird, darüber wundern, dass nur er, den ich der Polizei gegenüber als väterlichen Freund bezeichnen werde, nicht aber ich selbst von dem tödlichen Pilzgericht aß, aber dieser Verdacht wird sich schnell in Luft auflösen. Es gibt schließlich eine einfache und einleuchtende Erklärung dafür, dass ich die Pilze zwar mit ihm suchte, aber dann nicht aß: Ich kann, was meine Ex-Frau bestätigen können wird, Pilzgerichte auf den Tod nicht ausstehen. Und zwar: von Kindesbeinen an. Ich atme. Ich atme. Ich atme. Jetzt. Und jetzt. Und jetzt. Und dann, jetzt, putze ich mir noch einmal die Nase und dann, jetzt, langsam, mache ich mich an den Abstieg.

 
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Hallo Sheriff

Willkommen bei den Wortkriegern!

Ich finde das einen stilistisch interessanten Text. Inhaltlich bin ich wenig warm mit ihm geworden, da er keine Überraschung bereithielt. Erinnerung, Sommer, Onkel, da habe ich bereits an Missbrauch gedacht. Wohnort recherchiert, da habe ich bereits an Rache gedacht, also auf dieser Ebene konnte mich der Text nicht erreichen.
Ich finde die Geschichte auch uneinheitlich erzählt. Die Beschreibung des Pilzesammelns fand ich klasse, das hat mir wirklich sehr gefallen. Die anschliessenden zusammenfassenden Passagen, Frau, Trennung, emotionaler Krüppel etc. fand ich demgegenüber dann wieder sehr oberflächlich gestaltet, die Wunden blieben, Fassade aufgebaut, Rolle gespielt. Diese Formeln lösen nichts in mir aus. Fast hätte man stattdessen schreiben können: «Das Übliche halt».
Dann die kleinen Witzchen am Anfang, billiger Horrorfilm, wenn du die Vogelperspektive einnimmst. Die passen nicht zum Text, du gibst danach ja auch die Anrede des Lesers (zum Glück) wieder auf. Ich würde da noch mal nachschauen gehen, welche Einfälle und Formulierungen dem Text wirklich guttun.

Aber dann, wie gesagt, die Pilzszene. Da entwickelt der Text eine bestimmte Sogkraft, das ist auch rhythmisch, sprachlich gut gestaltet, da finde ich rein, trotz, oder sogar wegen der Aufzählung verschiedener Pilze, das ist meines Erachtens gut gemacht und da blitzt was auf, was mich dazu gebracht hat, dir diesen Kommentar zu schreiben. Ich rate dir, diese Art des Erzählens weiterzuentwickeln.

Das «ich erinnere mich». 23 Vorkommnisse im Text. Ich anerkenne das als Stilmittel, aber für meinen Geschmack übertreibst du. Das war eine interessante Leseerfahrung, im Rahmen der Pilzszene hat das für mich gepasst (obwohl ich auch hier das jeweils zweite «ich erinnere mich» streichen würde). Danach aber, später im Text, hat es mich schlichtweg genervt. Man kann mit Hilfe eines Stilmittels auch das zum Ziel haben: Nerven und damit anregen. Aber ob das dein Ziel in diesem Text war, ich weiss nicht. (Übrigens finde ich das in deinem zweiten Text «Der Chef sagt, und der Chef sagt» noch schlimmer, hier habe ich die Lektüre abgebrochen.)

Ich hoffe, du kannst mit dieser Rückmeldung etwas anfangen, ich seh da einiges schlummern, daher hatte ich Lust, etwas zum Text zu sagen. Ah ja, ich würde "Ende" am Ende weglassen, ich denke, der geneigte Leser kapiert das auch so. ;)

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Danke für das sehr hilfreiche Feedback, ich werde weiter daran feilen, damit, dass mir die richtige Dosierung mit den Stilmitteln noch nicht gelungen ist, hast Du bestimmt recht; und die Anrede an den Leser werde ich auf Deinen Hinweis hin auch nochmal stark überdenken; dass Formelhafte mitunter war aber durchaus Absicht, mein Gedanke war, dass der Ich-Erzähler an diesen Stellen das Zu-Unaussprechliche, Zu-Intime, Zu-Peinliche hinter dem Formelhaften, Abstrakten (Rolle, Wunde etc), verbirgt, aber natürlich hat Wittgenstein immer Recht, der Sinn des Wortes ist sein Zweck, wenn das also noch nicht gut rüberkommt, stimmt was im Text noch nicht. Nochmals Danke für die wertvollen Fingerzeige und beste Grüsse.

 
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mein Gedanke war, dass der Ich-Erzähler an diesen Stellen das Zu-Unaussprechliche, Zu-Intime, Zu-Peinliche hinter dem Formelhaften, Abstrakten (Rolle, Wunde etc), verbirgt,

Ja, das ist natürlich eine sehr spannende und anspruchsvolle Aufgabe und ich denke, es lohnt sich, an dieser Stelle sehr genau darüber nachzudenken, wie das funktionieren könnte. Zwei, drei Überlegungen noch dazu. Das Verbergen steht im offenkundigen Gegensatz zum dauernden "ich erinnere mich" und es widerspricht auch der Tatsache, dass sich der Erzähler durchaus offenbart und das Geschehen beim Namen nennt. Daher habe ich die Oberflächlichkeit der Darstellung dem Autor angelastet und nicht dem Erzähler.
Eine Idee wäre, das Unaussprechliche wirklich unausgesprochen zu lassen, dem Leser zu verstehen geben, was geschehen ist, ohne es zu benennen. Oder dann müsste das Formelhafte vielleicht in eine andere Richtung gehen, vom Brennpunkt, vom Schrecken weg und nicht zu ihm hin, um dann auf halber Strecke stehen zu bleiben und in der Abstraktion zu verharren. Also, vielleicht positive Beschwörungsformeln oder ähnlich. Eine dritte Idee wäre, die Menge des Formelhaften zu reduzieren, das, was übrig bleibt, aber zu wiederholen. "Die Wunde" zum Beispiel. Ist auf alle Fälle nicht einfach zu lösen, diese Aufgabe.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Merci nochmal für deine kontruktive, ehrliche, kluge Kritik, ich muss das vielleicht noch bisschen sacken lassen, bevor ich mich wieder dransetzte, würde mich freuen, wenn Du irgendwann nach einer Überarbeitung nochmal draufguckst. herzliche Grüsse.

 

So, schon mal eine erste Überarbeitung (aber bestimmt nicht die letzte...)

 

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