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Grenzen in Fluss

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21.04.2014
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Grenzen in Fluss

Etienne trat aus dem Gebäude, das ich einmal schön gefunden hatte. Ich hob den Arm, um seine Aufmerksamkeit zu wecken. Er schirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne ab, nickte und kam näher.
»Hat ziemlich lang gedauert!«, sagte ich. Die Glut der Zigarette schnippte ich ab, prüfte mit Daumen und Zeigefinger, ob was nachglomm, und warf den Stummel in den Mülleimer.
»Ich musste was mit der Haberer klären. Kennst sie ja.« Etienne sah mich mit einem Lächeln an. »Gehen wir?«
»Jepp.« Ich schulterte den Rucksack, dann schlenderten wir vom Schulhof zur Hauptstraße hinüber.
Etienne war einen halben Kopf größer als ich, hatte fein geschliffene Gesichtszüge und dichtes, schwarzes Haar, das er nach hinten gekämmt trug. Er war mit dem schönsten Mädchen der Oberstufe zusammen gewesen. Niemand konnte verstehen, weshalb er sie hatte sausen lassen. Mann, ich hätte gerne mit ihm getauscht. Selbst der Haberer wäre ich gefährlich geworden!
»Kommst du mit rein?«, fragte Etienne. Er stand vorm EDEKA, wo seine Mutter arbeitete. »Muss nur kurz Brot kaufen.«
»Nee, lass mal«, sagte ich und setzte mich neben das Einkaufswagenhäuschen auf den Boden.
»Okay. Bis gleich.«
Schweiß sammelte sich klebrig unterm Rucksack. Klara, meine Ex, kam mir in den Sinn. Sie habe es nicht mehr ausgehalten mit mir, ein Psycho sei ich, hatte sie gesagt. Keine Ahnung, was sie meinte. Endlich stand der Sommer in den Startlöchern, man konnte bald am Fluss übernachten, mit Zelt und Schlafsack. Vielleicht wäre dort mal was gelaufen. Stattdessen war sie fortgegangen. Und jetzt verbrachte ich Zeit mit dem Oberstreber schlechthin, um von der zweiten Fünf runterzukommen.
»Auf geht’s!« Zwei Baguettes ragten wie riesige Essstäbchen aus der Tüte.
»Wow, ging ja ratzfatz!«, sagte ich.
Er grinste. »Meine Mutter geht morgen sowieso arbeiten.« Das Grinsen erstarb. »Hoffe ich.«
»Wieso hoffst du das?«
»Ach, weiß nicht. So halt.«

Etienne zögerte einen Moment, bevor er die Wohnungstür aufschloss. Er schob den Kopf durch den Türspalt. »Mama?« Keine Antwort. »Komm rein«, sagte er zu mir.
Ich folgte ihm und er rief erneut nach Manou, seiner Mutter, die mit einem gedämpften Grunzlaut antwortete. Sie war mir früher bereits aufgefallen. Im Laden. Ich fand sie ziemlich scharf für ihr Alter. Herrliche, rotblonde Haare, die sie manchmal zu Zöpfen flocht.
»Geh schon mal in mein Zimmer, ja? Da, vorne links.« Er stellte die Einkaufstüte auf den Tisch neben einen Aschenbecher voller halb aufgerauchter Zigarettenstummel. Kaffeeflecken verzierten die Oberfläche. »Meine Mutter hat sich wohl hingelegt.«
Etiennes Zimmer war genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Akkurat. Gemachtes Bett. Sortierte Bücherregale. Immerhin fand sich »The Stand« und »Es« im Regal, was Etienne einen Pluspunkt einbrachte. Das Paolo-Maldini-Poster überraschte mich. Etienne war ein Bücherwurm, soweit ich wusste, für einen Fußballfan hätte ich ihn nicht gehalten.

Wir hatten uns am Vortag bis sechs, halb sieben abends abgemüht – also ich, Etienne hatte es sichtlich genossen, mit mir über Laplace und Brenouillie zu quatschen. Man musste wohl einen französischen Namen tragen, um gefallen an dem Mist zu finden. Immerhin wollte er sich heute am Fluss mit mir treffen. Bei einem antiken Zirkuswagen aus Holz, unmittelbar am Wasser. Lebensbäume umsäumten das Gärtchen und ein Kieselstrand führte zum grün schimmernden Strom. »Das Coolste, was mein Vater zurückgelassen hat«, sagte Etienne. Und es stimmte, ein saucooler Ort war das! Ich fragte nach seinem Vater, erfuhr allerdings nur, dass er in Heidelberg wohne; bei einer neuen Familie. Ich beließ es dabei.
Wir paukten etwa eine Stunde, dann verblüffte mich Etienne, indem er sich bis auf die Shorts auszog und mir die Schulter knuffte. »Na, was ist? Kommst du?« Er rannte zum Wasserlauf und sprang in die Fluten.
»Was ist denn?«, schrie er, nachdem er prustend aufgetaucht war. Er rieb sich die Haare wie ein nasser Affe.
»Alles klar«, rief ich, streifte das T-Shirt ab und jagte hinterher. »Eiskalt!«, protestierte ich, bevor er mich untertauchte. Das Wasser schmeckte brackig, ich spuckte ihm eine Ladung auf die Stirn.
»Hey Mann, wie eklig!«
Wir lachten, rauften, hatten Spaß. Zurück am Ufer legten wir uns keuchend auf die Wiese. Etienne drehte sich auf die Seite. Er grinste mich an, wirbelte den Kopf wie ein verrückt gewordener Headbanger. Ein feiner Flussregenschauer prasselte auf mich herab.
»Schön?«
»Fantastisch«, nuschelte ich und winkte ab.
Die Sonne wärmte uns die Gänsehaut. Ich schloss die Augen und versuchte, weiße Pünktchen hinter den Lidern einzufangen. »Wusste gar nicht, dass du dich für Fußball interessierst.«
»Wegen Maldini?«, fragte er.
»Hast nie über Fußball geredet. Bist du Mailand-Fan?«
»Nein, kein Mailand-Fan, aber Maldini gefällt mir.«
»Okay«. Ich wischte mir irgendein Krabbelvieh vom Bauch. »Ich hab‘s nicht so mit Abwehrspielern.«
»Sondern?«
»Baggio finde ich ganz cool«, sagte ich.
Etienne nickte, dann tätschelte er mir die Hand. Ich blickte auf. »Machen wir uns noch ein bisschen an Mathe?«
»Forget it! Scheiß auf Schule!«
»Hast recht, scheiß auf Schule!«, sagte er und lachte.

»Schreibst du nicht die Arbeit nächste Woche?« Vater legte die Welt am Sonntag beiseite und trank einen Schluck Kaffee.
»Dienstag«, nuschelte ich mit vollem Mund.
»Meinst du nicht, du müsstest dich vorbereiten? Wenn du erneut ...«
»Mach ich ja!«
»So, machst du. Wie die letzten Male, ja?
»Glaub’s oder nicht, ist mir egal.« Ich schob den Teller nach vorne.
»Bist du schon satt? Es ist noch mehr da!« Mutter biss von ihrem Marmeladentoast ab. Ein glänzender roter Streifen zierte ihre Oberlippe.
»Hab‘ keinen Hunger«, sagte ich. »Kann ich aufstehen?«
»Wenn du es versaust, bleibst du wieder sitzen. Das weißt du.« Vater fixierte mich, als wäre ich zehn.
»Ich weiß gar nichts.«
»Genau das scheint mir das Problem zu sein!«
»Ist ja gut, ich hab’s kapiert. Kann ich jetzt?«
»Ich finde, du solltest deinem Vater zuhören«, mischte sich Mutter ein und wischte sich den Mund mit einer Stoffserviette.
»Ich hab‘ all meinen Kumpels fürs Wochenende abgesagt und treffe mich nachher mit Etienne. Wir lernen zusammen.«
Mutter sagte: »Gut. Du verstehst hoffentlich, dass du das nicht für uns, sondern für dich machst.«
»Klar. Wir sehen uns in«, ich sah auf die Küchenuhr, »schon in einer Stunde! Darf ich aufstehen ... bitte?«
»Wenn du mich anlügst!« Vater schob seinen Teller ebenfalls vor und verschränkte die Arme vor der Brust. »Deine Mutter und ich möchten dich ohnehin an der Angell anmelden.«
Ich sah auf meine zu Fäusten geballten Hände. »Ich geh‘ nicht auf diese Scheiß-Schule! Vergiss es! Und wieso glaubst du mir eigentlich nie, hm?«
»Wir dachten auch, dass du vielleicht von Frau Sommer ...«
»Auf keinen Fall! Nie mehr zu der Psychotante!«, unterbrach ich Mutter.
»Liegt ganz bei dir.« Vater nickte erneut. »Ganz bei dir«, wiederholte er gedehnt und räusperte sich. »Du weißt, wir müssen Montag auf die Messe. Wenn wir Freitag zurück sind ...«
»Okay«, sagte ich.
»Ich sag’s nur.«
»Ja, ist gut, wirklich.«
»Dann kannst du von mir aus aufstehen.«
In meinem Zimmer ignorierte ich das Gebrüll im Anschluss – ein beschissener Choleriker war er. Und Mutter bekam es wieder mal ab. Wie üblich. Neben Collegeblock und Schulbuch packte ich ein Handtuch in den Rucksack. Am liebsten wäre ich für immer verschwunden.

Die Vespa stellte ich direkt am Weidenzaun ab. Etienne schien noch nicht da zu sein.
»Hallo?«
Ich erschrak und ließ die Rollerschlüssel ins Gras fallen. Manou lag in einem Liegestuhl. Sie trug einen schwarzen Bikini und eine Pilotenbrille.
»Äh ... hallo«, erwiderte ich und griff nach dem Schlüsselbund. »Ist Etienne da?«
»Nein.« Sie schob die Sonnenbrille ein Stück die Nase runter und blitzte mich mit grünen, glänzenden Augen an. »Und wer bist du?«
Mir fiel auf, dass ich die tiefe Spalte zwischen ihren Brüsten anstarrte. Ich zwang mich, ihren Blick zu erwidern. »Josh. Also ... äh, Joshua, entschuldigen Sie bitte.«
»Ein Freund von Etienne?«
»Wir gehen beide in die 10b ... wollten gemeinsam lernen.«
Sie lachte. »Etienne, ja, Etienne lernt gerne.« Manou erhob sich. »Was natürlich gut ist.« Sie zupfte sich den Slip zurecht – ich sah krause Haare an den Bündchen. »Ich heiße Manou.« Sie streckte mir die Hand entgegen, mit der sie sich ans Höschen gefasst hatte.
»Hallo, freut mich.« Schweißgeruch und schaler Nikotinatem umwölkten mich. Ich unterdrückte den Impuls, meinen Schwanz zurechtzulegen. »Tut mir leid, ich komme einfach später wieder.«
Manou lächelte, sie hielt mich fest. »Auf keinen Fall! Etienne taucht bestimmt jeden Moment auf. Setz dich!« Sie zeigte auf Gartenmöbel aus Kunststoff. »Willst du was trinken?«
»Ich ...«
»Keine Widerrede! Ich bin froh, mal einen Freund von Etienne kennenzulernen. Viele lädt er ja nicht gerade ein.« Sie zog einen Stuhl zurück. »Du kommst mir bekannt vor.«
»Echt?« Ich nahm Platz, faltete meine Hände, wusste nicht, wohin mit ihnen, und legte sie auf den Tisch. Ein feuchter Vorhof bildete sich auf ihm.
Manou verschwand im Wagen und kam mit einer Coladose und einem Weinglas wieder. »Ja«, sagte sie. »So einen feschen jungen Mann ...«
Ich stierte auf meine Finger, mein Kopf glühte.
»Warte mal, ich ziehe mir lieber was über.« Ihr Lachen gefiel mir, ich wollte trotzdem weg, hoffte, Etienne käme gleich.
Sie trug jetzt ein weißes T-Shirt, die Sonnenbrille hatte sie abgenommen, die rötlichen Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie sah müde aus, Krähenfüße, ein paar Fältchen am Hals. Sie durfte so um die vierzig sein. Monou steckte sich eine Zigarette an, nahm einen Zug und trank Rotwein aus ihrem Glas. Dem verschmierten Rand nach zu urteilen, becherte sie schon eine Weile daraus.
»Vielleicht aus dem Laden«, sagte ich.
»Hm?« Rauch ließ sie die Augen zukneifen.
»Vielleicht kennen sie mich vom EDEKA.«
»Das kann natürlich sein.« Sie strahlte mich an. »Sag‘ doch bitte Manou zu mir, ja?«
»Äh ... ja, klar, okay.«
Sie trank wieder. »Und wie läuft es in der Schule, Joshua?«
Manou hatte garantiert einen im Tee, so wie sie Schule und Joshua aus dem Takt warfen.
»Na ja, ehrlich gesagt, nicht so gut. Deshalb will mir ja Etienne helfen.«
»Etienne«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Das hat er eindeutig von seinem Vater. Den Lerneifer, meine ich. Und das Aussehen ... Es kommt vor, dass ich ihn Hendrik nenne.«
Sie starrte aufs Wasser hinaus. Ich folgte ihrem Blick und sah einen Schwan vorbeischwimmen, der uns interessiert zu beobachten schien.
»Ansonsten gibt es null Gemeinsamkeiten«, sie lachte auf. »Nicht die geringsten.« Erneut der Griff zum Glas, dann sah sie mich an. »Das Flittchen, das Hendrik jetzt hat, dürfte nicht viel älter sein als du.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem Schlitz. »Kannst du dir das vorstellen?« Die Zigarette drückte sie halb aufgeraucht in den Aschenbecher. »Egal, entschuldige bitte ...«, sagte sie.
Ich nippte an der Cola. Manou schüttete den letzten Rest Wein runter und sprang unerwartet auf. Sie musste sich am Tisch abstützen, fing sich aber und stieg hastig die Stufen zum Wagen hoch. Ihr Höschen war wieder verrutscht, das Flechtmuster des Gartenstuhls hatte sich rot in ihren Hintern gestanzt. Ich erhob mich.
»Frau Klein?« Keine Antwort, nur ein Rumpeln war zu hören. »Vielleicht gehe ich ...«
»Ja, verpiss dich!«, rief sie durch die geschlossene Tür hindurch.
Ich zuckte zusammen. Ein Schluchzen drang nach draußen. Irgendwas krachte zu Boden. »Scheiße«, hörte ich. »Immer noch da?« Sie riss die Tür auf.
»Meine Freundin hat mich auch verlassen. Vor drei Monaten«, sagte ich.
Sie starrte einige Sekunden zu mir rüber, bevor sie hysterisch auflachte. Ich presste die Lippen so fest aufeinander, wie ich nur konnte. Sie bemerkte es wohl und ihre Körperspannung ging verloren, als wenn man ein Ventil an ihr abgeschlagen hätte.
»Entschuldige bitte!« Sie rieb sich eine Hand über die Stirn. »Du kannst ja nichts dafür, ich ...« Sie kam langsam zu mir runter. Ich stand da wie erstarrt. Da war etwas in ihrem Blick, ich weiß nicht. Sie streichelte mir den Nacken.
»Du bist süß«, sagte sie und küsste mich. Ganz kurz nur und feucht vor Tränen. Sie roch nach Alkohol und Tabak. Manou schreckte zurück. »Entschuldige, keine Ahnung, was ...« Ihre grünen Augen schienen in mich hineinsehen zu können. »Ich sage Etienne, dass du da warst, ja?« Ihr Gesicht war gerötet. Wir sahen uns eine Weile stumm an. »Joshua ... Vergiss, was da eben passiert ist, ja? Bitte.«
Ich nickte.

Verwirrt raufte ich mir die Haare. Ich musste Etienne wenigstens absagen, packte es jedoch nicht. Da war etwas an Manou, ich weiß auch nicht. Sie hatte mir irgendwie leid getan. »Bullshit!«, sagte ich. Ich legte Pearl Jam in den Discman ein und drehte auf. Scheiß auf Schule, scheiß auf alles, dachte ich und schloss die Lider.
Meine Mutter fasste mir ungestüm an die Schultern. Ich riss mir die Ohrstöpsel raus und starrte sie erschrocken an.
»Dieser Etienne will dich sprechen!«
»Ist er hier?«
»Am Telefon«, sagte sie.
»Er fragt, warum du nicht gekommen bist!«, brüllte mein Vater aus dem Hintergrund.
»Fuck!« Ich richtete mich auf. »Sag ihm, ich bin nicht da.«
»Das weiß er aber schon.«
»Dann geht’s mir halt nicht gut. Ich schlafe.«
»Er hat bestimmt deinen Vater gehört«, sagte sie und legte den Kopf schief.
»Ist mir egal.«
»Joshua ...«
»Ist mir scheißegal, okay. Ich will einfach nicht!«
»Na gut, wie du meinst.« Mutter schloss die Tür hinter sich, bevor sie Vater erneut aufstieß und mit dem Finger auf mich zielte. »Das wird Konsequenzen haben, Freundchen. Ich lass mich nicht länger von dir verarschen!« Dann schlug er sie so heftig zu, dass ein Bild zu Boden krachte.
»Ich hau hier ab!«, schrie ich ihm hinterher.

Das Frühstück verlief zum Glück nahezu wortlos. Vor allem, da ich so gut wie kein Auge zugemacht hatte. Ich schlief schon einige Zeit nie mehr als drei, vier Stunden. Mutter hatte früher ähnliche Probleme. Jetzt, da sie Medikamente nahm, pennte sie die ganze Nacht.
Meine Eltern zogen Trolleys zum Auto. Vater hob die Hand. Es sah eher wie eine Drohung aus, denn ein Abschiedsgruß. »Bis Freitag, rufe im Hotel an, wenn was ist, ja?«, ergänzte Mutter und küsste mir die Stirn. Als sie um die nächste Kurve bogen, blies ich in die Backen. Schleppend ging ich zurück ins Bett. Für mich würde es heute weder Deutsch noch Englisch geben. Eine Entschuldigung ließ sich fälschen. Ich dachte an Manou, an Etienne, an den Fluss, an Klara, an die Fünf in Mathe, an tausend Dinge; an Schlaf war nicht zu denken. So etwas wie Bewusstsein kehrte erst wieder, als ich mich vorm EDEKA wiederfand. Ich zögerte, betrat aber den Laden. Ich schlenderte durch die Gänge, las Zubereitungsempfehlungen, studierte die Inhaltsstoffe und hoffte, Manou nicht zu begegnen. Nein, ich hoffte, ihr zu begegnen. Beides irgendwie. Ich weiß auch nicht. Sie war auf jeden Fall nirgends auszumachen. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand ich an der Kasse. Es gab Probleme vor mir, weshalb in ein Mikrofon: »Storno bitte«, gerufen wurde. Manou flog in blauer Bluse, Jeans und mit Pferdeschwanz heran; einen Schlüssel in der Hand. Sie steckte ihn irgendwo ein und blickte auf die Anzeige. Ich wollte mich bücken – den Schuhtrick anwenden. Zu spät, sie runzelte die Stirn. »Hallo!«
»Hi«, sagte ich.
»Ihr habt doch Schule heute?«
»Mir geht’s nicht gut.«
Manou taxierte mich, dann sagte sie zur Kassiererin, die etwas eingetippt hatte: »Alles klar, ja, kein Problem.« An mich gewandt: »Was Schlimmes?«
»Nein, nein.« Ich legte zehn Mark zur Cola und den Chips aufs Band und nahm all meinen Mut zusammen. »Frau Klein, können wir kurz mal reden?«
»Ähm ... ich hab‘ noch zu tun, weißt du?«
»Nur kurz«, setzte ich nach.
»Jetzt?«
»Wenn‘s geht?« Ich steckte das Rausgeld ein.
»Na gut.« Sie ging zur geschlossenen Nachbarkasse und wartete, bis ich die Einkäufe im Rucksack verstaut hatte und zu ihr schritt..
»Wenn es wegen gestern ist ...« Manou verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich kann nur wiederholen, dass es mir leidtut.«
»Nein, muss es nicht.«
»Mir geht es im Moment nicht so gut, weißt du? Ich hab‘ am Fluss zu viel getrunken und ... Ich hätte dich nicht so anschreien dürfen. Ist mir wahnsinnig peinlich alles.«
»Du hast mich geküsst«, erwiderte ich.
»Was? Nein. Ich ...«
»Nein? Doch, Manou, hast du!«
Nur ihr Mund lächelte, während sie den Kopf schüttelte. »Das ist ... Blödsinn, Joshua! Ich hab‘ dich angeschnauzt ... also, ich wollte mich nur entschuldigen. Verstehst du? Ich wollte ... Du darfst das nicht missverstehen, ja?« Sie klatschte in die Hände und hielt sie gefaltet. »Und ... du solltest mich besser wieder bei meinem Nachnamen ansprechen, denke ich.«
»Ich würde ... Sie gerne zu einem Kaffee einladen.«
»Was?«
»Einen Kaffee.«
»Ich halte das für keine so gute Idee, Joshua.« Sie lachte kurz auf.
»Okay! Bin ich so abartig, dass du nicht mal einen Kaffee mit mir trinken möchtest!«
Die Kassiererin von eben blickte über die Schulter zu uns herüber. Manou lächelte maskenhaft und zeigte eine beschwichtigende Geste. »So, Joshua«, zischte sie, »als Erstes will ich, dass du dir einen anderen Ton zulegst, verstanden? Wie redest du denn mit mir? Und wir sind nicht mehr per du. Ist das jetzt klar?«
Ich trat einen Schritt näher. Sie wich zurück.
»Weißt du was? Fick dich!«, sagte ich, jeden Buchstaben betonend. Ich nahm meinen Kram und ließ sie stehen.

Am Nachmittag klingelte das Telefon. Ich hob zögernd ab. Es war Etienne, ausgerechnet! Mir wurde flau im Magen. Er erkundigte sich, wie es mir ginge und was los wäre. Er wollte wissen, ob ich morgen in die Schule käme.
»Wahrscheinlich, ja.«
Ob wir zusammen lernen sollten.
»Hey, ich bin voll fertig. Gehe selbst noch mal alles durch, okay? Aber danke fürs Angebot!«
»Ja, mach das unbedingt!«, erwiderte er. »Schau dir Seite 68 bis 72 an! Wäre sauschade, wenn du das Jahr nicht schaffen würdest, ehrlich.«
»Gut, aber wieso juckt dich das überhaupt?« Mein Ton war schärfer als gewollt.
Ich hörte ein, zwei tiefe Atemzüge, dann sagte er: »Ich mag dich einfach, Josh.« Eine Pause entstand. »Lange schon.«
Ich musste an das Poster in seinem Zimmer denken. Einem Gefühl nachgebend, fragte ich: »Wie du Maldini magst?«
»Ja, Josh. Irgendwie schon.« Er räusperte sich. »Vielleicht können wir mal reden?«
Ein albernes Kichern ergriff mich und schwoll zu einem Lachorchester an. Tränen stiegen mir in die Augen.
»Josh?«, hörte ich.
»Hey!, vergiss es, Etienne. Vergiss es!«
»Verstehe, das kommt komisch rüber jetzt, aber ...«
Ich unterbrach ihn und schüttelte ungläubig den Kopf. »Such dir einen anderen, okay!« Ich lachte jetzt nicht mehr. »Kein Interesse, Etienne. Ich hab‘ absolut kein Interesse.«
Es machte Klick am entgegengesetzten Ende der Leitung.

In der Küche öffnete ich den Kühlschrank und starrte eine Weile in dessen Innenleben. Ich fingerte nach einem verschrumpelten Würstchen, biss ab und ging ins Wohnzimmer, wo ich mir die Fernbedienung griff. Mein Daumen hüpfte auf und ab, als betätige er einen dieser Handzähler, wie ihn Leute benutzten, die das Verkehrsaufkommen stark befahrener Straßen erfassten. Die Titelmusik: The Unknown Stuntman katapultierte mich unmittelbar in die Kindheit zurück. Eine Wiederholung meiner Lieblingsserie von früher. Colt Seavers preschte mit seinem GMC Sierra Grande durchs Bild und ich sank tiefer in den Fernsehsessel.
Ich schrak auf, »Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau«, hörte ich. Eingepennt! Mathe! Was für ein Montag! Wie gerädert schaltete ich die Glotze ab, holte das Schulbuch – Seite 68 bis wohin? –, warf es auf mein Bett und watete ins Bad. Im Alibert fand ich Mutters Ersatzpackung Schlafmittel. Ich drückte mir eine Tablette in die Hand, zögerte kurz und pulte den ganzen Blister aus der Schachtel, den ich mir hinten in die Jeans steckte. Wenigstens die Scheiß-Stochastik nochmals angucken, dann wollte ich herausfinden, warum meine Mutter derart begeistert von den Pillen war, dass sie immer mindestens zwei Packungen von dem Zeug auf Vorrat hatte.

Das Telefon riss mich aus dem Koma. Ich eilte in den Flur und nahm benommen ab.
»Hallo?«
»Wieso bist du daheim?«, fragte Mutter.
Die Uhr zeigte 10:28 Uhr. »Ich ...«
»Wieso bist du nicht in der Schule, Joshua!«
»Siehst du, ich hab’s gewusst! Ein Versager und Lügner!«, hörte ich Vater im Hintergrund brüllen.
»Keine Ahnung ... ich hab‘ wohl verpennt.«
»Du hast ... Und was ist mit Mathe?«
»Ja, weiß nicht, ich ...«
Es raschelte, dann schrie mich Vater an: »Wart’s nur ab, Bürschchen, bis wir wieder zu Hause ...«
Ich knallte den Hörer auf die Gabel. Kaum geschehen, begann es erneut zu klingeln. Zurück im Zimmer legte ich Kurt Cobain ein. Take your time, hurry up, the choice is yours – ich drehte voll auf. Bei No, I don’t have a Gun hielt ich es nicht mehr aus und zog endgültig den Telefonstecker.

Der Seesack lag oben auf dem Schrank. Ich fackelte nicht lange, stopfte ihn mit Klamotten aus und öffnete die Haushaltskasse mit einem Zweitschlüssel, den die Eltern hinterm Bett bestens versteckt glaubten. Ich entnahm ihr ein paar Hunderter – das Kleingeld ließ ich drin. Mit der Kohle auf dem Sparbuch, das ich plündern wollte, kämen um die 1000 Kröten zusammen. Nicht schlecht, dachte ich.
Wenig später schulterte ich meinen Kram, eilte zur Bank, kaufte ein Nachtzugticket – Amsterdam schien mir eine gute Wahl zu sein – und hatte anschließend zehn Stunden bis zur Abfahrt Zeit.

Am Fluss nervte keine Menschenseele. Sonnenreflexionen tanzten wie grelle Irrlichter auf der grün schimmernden Wasseroberfläche hin und her. Ich schirmte die Augen ab, kaute auf einem Landjäger herum – den Seesack aus schwerem Canvas unter dem Kopf – und fühlte mich wie Sal Paradise. Das erste, was mir in den Sinn kam, als mich ein Insekt aus dem Schlummer krabbelte, war Manou. Idiotisch! Um die zwanzig Jahre trennten uns. Vielleicht war ich echt ein Psycho, wie Klara mir gesagt hatte. Da war etwas in Manou, ich glaubte, es zu erkennen. Sie wollte vermutlich nur ..., ja, geliebt werden und ich, verdammt, wollte das auch. Sie hatte mich geküsst ... Blödsinn! Nein, für sie war ich wohl nur ein Kind!
Ich beschloss, zum Zirkuswagen zu gehen. Möglicherweise war sie dort, dann würde ich ihr sagen, dass ich kein Kind mehr wäre! Dann würde ich ihr geigen, dass ich Gefühle hätte! Dass man das nicht einfach so mit mir machen könne! Und dann: Adieu!

Sie lag auf dem Liegestuhl, ich bäuchlings im Gras. Eine Lücke in der Hecke bot den idealen Ausguck. Ein warmer Windhauch trug den Geruch nach Kokos zu mir rüber – von der Sonnenmilch, mit der sie sich eingerieben hatte. Wie sie so dalag, die Beine angewinkelt und leicht geöffnet ... Das machte mich scharf. Ich fragte mich, ob sie geil stöhnen würde, wenn ich es ihr besorgte. Direkt auf der Liege oder von hinten oder am Strand, egal. Ich grinste. Mein Schwanz begann unruhig zu pochen, weshalb ich die Stellung wechselte, um ihn in eine angenehmere Position zu bringen. Was mir dabei aus der Gesäßtasche rutschte, war der Blister mit Schlaftabletten. Sie trank wieder. Ich drückte zwei Rohypnol aus – ohne nachzudenken – und versuchte, eine davon zwischen den Nägeln kleinzudrücken. Ging nicht. Manou rappelte sich auf, sah in meine Richtung – das Herz stand mir still! – und verschwand im Wagen. Ich fand einen flachen Kiesel, auf den ich die Tabletten platzierte. Mit einem anderen Stein zerrieb ich sie zu Mehl. Das Pflöpp vom Entkorken einer Flasche war zu hören. Manou kehrte zu meiner Enttäuschung angezogen zurück – weite Batikhose und T-Shirt, mit völlig ausgewaschener Aufschrift.
Ich weiß nicht, warum. Ich hatte keinen Plan oder so. Ich wollte es ihr einfach heimzahlen, ich fühlte mich von ihr gekränkt, irgendwie. Sie stellte ihr rot gefülltes Trinkgefäß auf den Tisch, legte Schreibzeug daneben und nahm erneut die Stufen zum Wagen hinauf. Ich wischte das Pulver in die hohle Hand, schloss sie halb zur Faust und kroch damit in den Garten. Mein Herzschlag dröhnte mir wie Technobässe in den Ohren. Ich duckte mich unter einem der Fenster hindurch, lauschte, sah zur Eingangstür – freie Bahn! – und schüttete das Schlafpulver ins Glas. Ein schmieriger Rest klebte in der Handfläche, ich rieb ihn mit dem Finger ab, den ich anschließend in den Rotwein tauchte. Die Klospülung rauschte, ich rührte hastig um, bemerkte weiße Flöckchen an der Oberfläche – keine Zeit mehr! – und rannte los. Eine Tür sprang auf und ich jagte durchs Heckenloch wie ein Schlagmann zur rettenden Base.
Einen Stift in der Hand, hob sie den Schierlingsbecher an. Manou zögerte, sah hinein und schwenkte den Inhalt. Sie wiederholte die Prozedur, nahm einen Schluck, beäugte erneut die Flüssigkeit darin und trank. Daraufhin schrieb sie etwas auf. Ich fühlte mich mit einem Mal sauelend. Einerseits hatte ich gehofft, sie würde das Zeug ausschütten, andererseits war ich neugierig. Und was, außer zu pennen, konnte schon passieren?
Es geschah nichts, obwohl die Sonne bereits tief stand und Manou inzwischen nachgeschenkt hatte. Meine Aufregung löste sich zunehmend. Ich sah auf die Armbanduhr und beschloss, mich aus dem Staub zu machen. Das Mittel schien wirkungslos zu bleiben. Warum auch immer. Alles schmerzte mir vom Liegen, ich hatte einen steifen Hals und als ich eben wegrobben wollte, gähnte sie ausgiebig. Sie legte den Kugelschreiber ab, bettete den Kopf auf die Arme und schlief – halb über den Tisch gebeugt – bald ein. Ich starrte gebannt zu ihr hinüber, keinen Schimmer, wie lange.

»Frau Klein?« Ich ging auf sie zu. »Frau K-l-e-i-n?« Nichts. Ich musste lachen, aber mein Inneres zog sich zusammen. Bei ihr angekommen, sprach ich sie erneut an, griff an ihre Schulter und war erleichtert, sie atmen zu hören. Ich nahm neben ihr Platz. »Manou, Manou, Manou ....«, sagte ich und strich ihr dabei die Wange. Dann ergriff ich den Block vor ihr – es standen irgendwelche Rechnungen darauf –, schlug die Seite um und schrieb: Sie sollten mit ihrem Sohn ... Das Blatt riss ich aus, steckte es in die Hosentasche und brachte stattdessen: Etienne ist schwul, wussten Sie das?, zu Papier. Ich kicherte und setzte ein Ausrufezeichen dahinter. Jetzt wollte ich den Standwagen erkunden. Miniküche, Dusche, WC und einen Schlafraum gab es zu sehen – zweckmäßig eingerichtet. Ich fand ein paar zerfledderte Taschenbücher, einen Kapuzenpulli, leere Flaschen und weiteren Kram. Einzig das Holzbett weckte Interesse – ein wild gemusterter, bunter Quilt lag obenauf. Gemalte Zirkusmotive zierten die Bettvertäfelungen am Kopf- und Fußende: Tiger, die durch brennende Reifen sprangen, Jongleure und hässliche Clowns. Ich ging mit dem angebrochenen Chianti zurück nach draußen und nahm mir eine von Manous Zigaretten, die auf dem Tisch lagen. Ich rauchte, trank aus der Buddel und stellte mir vor, was der Wagen wohl alles erlebt haben mochte. Dabei behielt ich Manou die ganze Zeit im Auge.

Abendrot ließ ihr Haar flammend leuchten. Es roch nach Zitronen. Ich stand hinter ihr und schmiegte mich an sie. Sie stöhnte auf, oder murmelte etwas. »Frau Klein?!« Sie antwortete nicht, schnarchte nur leise.
Unmöglich, sie einfach so hier zu lassen! Wenigstens eine Decke wollte ich ihr umlegen. Dann fiel mir das Bett ein. Ich schlang die Arme um sie, packte Elle und Speiche – unter den Achseln hindurch – und richtete ihren Oberkörper auf. »Komm schon!«, rief ich. »Du musst aufstehen!« Sie drängte zurück nach vorn, ich hielt sie davon ab und zog sie stattdessen vom Stuhl wie eine Bewusstlose. Manou brabbelte Unverständliches, während ich sie zur Treppe schleppte. Die Stufen hoch ging es am schwersten. Ich keuchte.
Endlich angekommen, schmiss ich mich – Manou fest umklammert – rückwärts aufs Bett. Wir lagen eine Weile nur da. Sie bewegte sich über mir. »Alles gut«, flüsterte ich. Mein Herz raste. Ich berührte sie an den Flanken und streichelte ihr den Bauch, die Brüste, das Gesicht. »Alles gut«, wiederholte ich und küsste ihr die Schläfe, saugte an ihrem Ohrläppchen. Ich bekam kaum Luft, aber das störte mich nicht. Der Schwanz platzte mir fast. Meine Hände wanderten unter ihr Shirt – ihre Haut war so weich wie Klaras. Ich knetete sanft ihre Titten, spielte mit ihren hart werdenden Nippeln und packte zu. Das Stöhnen machte mich noch geiler. Ich griff ihr ins Höschen, strich durch widerspenstiges Haar ihren Schamhügel hinab, ertastete die Spalte darunter. Ein geheimnisvoller, derber Geruch nach Urin und etwas anderem, verlockendem, stieg mir in die Nase. Ich lutschte mir den Mittelfinger ab, fasste ihr erneut in den Schritt, tauchte tief in das warme, feuchte Innenleben Manous, roch an meiner Hand und schmierte mir ihre Duftmarke auf die Lippen. Ich leckte sie ab. Es schmeckte säuerlich. Ich begehrte mehr davon, doch sie spannte sich auf ein Mal unerwartet an, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen. Manou rollte von mir hinunter. »Komm her«, fauchte ich und drehte sie auf den Rücken. Sie nuschelte irgendetwas, die Lider hielt sie verschlossen. Mein Daumen wischte über ihren ungeschminkten Mund. Sie schlug unbeholfen auf meinen Arm ein. So, als wolle sie Mücken verscheuchen. Einer ihrer Nägel kratzte mich an der Wange. »Schlampe!«, fauchte ich und tastete nach Blut, fand jedoch keines. Ich riss Manous Hose runter und drückte ihre Beine mit den Knien auseinander, während ich an meinem Gürtel fummelte. »Du verarschst mich nicht!«, zischte ich. Sie wollte sich zur Seite drehen, aber ich packte ihre Handgelenke mit der Linken und presste sie in die Matratze. Mein Gesicht war ihrem ganz nah. Sie verzog es, bekam die Augen nicht geöffnet, obwohl sie es zu versuchen schien. Hitze stieg zu mir auf. Ich hatte den prallen Schwanz in der Rechten und versuchte – am Slip vorbei –, endlich ihre Möse zu treffen.
»Ich fick‘ dich, verstehst du? Jetzt fick ich dich, Manou!«, spie ich ihr entgegen.
Sie nuschelte etwas. Der Scheiß-Slip versperrte das begehrte Loch. Tränen quollen ihr aus den Augenwinkeln. Sie hinterließen glänzende Bahnen, bevor sie aufs Bett ploppten. Komisch, die leisen Geräusche nahm ich glasklar wahr. Es hörte sich an, als falle einsetzender Sommerregen auf ein Segeltuch. Wie hypnotisiert betrachtete ich Tropfen um Tropfen. Graue Muster zeichneten sich auf dem Laken ab und wuchsen. »Fuck«, sagte ich. Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Alles schnürte sich mir zusammen. Die Kraft meiner Knie verebbte und Manou schloss die Beine wieder. »Tut mir leid«, hauchte ich. Die Hose zog ich ihr hoch, so gut es eben ging. Manou rollte sich wie ein Embryo zur Seite. Ich schnappte den Quilt, der neben ihr lag und bedeckte sie damit bis über den Kopf. Mein Blick fiel auf Tiger, die durch brennende Reifen sprangen, Jongleure und hässliche Clowns. Dann schlich ich verwirrt nach draußen. Schmiss mich auf einen Stuhl, trank den letzten Schluck Chianti aus und stierte in den wolkenlosen, dunkel werdenden Himmel.

Der Wein roch sauer, die Sterne funkelten und ich hatte einen Harten. Mir war elend zumute. Ein Scheiß-Eisberg schwamm in meinem Magen. Ich formte die Lippen zu einem Kussmund und hatte den Duft von Möse in der Nase. Er ließ das Eis ein wenig schmelzen. Dennoch, alles hier war falsch! Ich hatte eine Scheiß-Angst. Die Armbanduhr versprach, bald führe der Zug nach Holland ab. Meine Gedanken häuften sich auf und stoben wieder auseinander wie die Blätter eines Laubhaufens, der von eine Böe erfasst wird. Ich sah Richtung Zirkuswagen und lauschte. Leise Atemgeräusche, das Gluckern vom Fluss und zirpende Grillen. Ich hatte mal gelesen, dass Opfer von Sexualdelikten ... oft vergaßen, wenn sie ... Oh Mann! Immerhin war ich nicht weiter gegangen, dachte ich. Aber beinahe. Eine grausige Erkenntnis. Psycho, hatte Klara gesagt. Sie hatte ja keine Ahnung, wie sehr ich Psycho war. Die Kerze, die ich angezündet hatte, flackerte und warf unruhige Lichtbilder auf den Tisch. Da lag der Brief, diese kindischen Zeilen über Etienne. Ich schnaubte und zerknüllte ihn, steckte ihn mir in die Tasche. Das Kerzenlicht blies ich aus.
Als ich aufstand, um mich davon zu stehlen, hörte ich Bremsen quietschen. Polizei!, dachte ich. Es klang nach Fahrradbremsen, weshalb ich den Gedanken gleich wieder verwarf. Es musste Etienne sein. Ich rannte geduckt Richtung Hecke – sinnlose Haltung, es war ohnehin stockfinster – und kroch durchs Loch.
»Mama?« Das Gras raschelte, Schritte näherten sich. »Mama!«, rief Etienne erneut. Er nahm die Stufen zum Wageninneren; sprach Manou an – ich verstand nicht, was er sagte. Licht ging an.
»Scheiße!«, schrie er. Ich zuckte zusammen. Etienne stürmte heraus. »Scheiße!« Es folgten dumpfe Aufschläge von Flaschen, die geworfen wurden. Ich erkannte, dass er auch die Chiantiflasche packte und wegschleuderte. Sie zerbrach klirrend in der Dunkelheit. »Scheiß-Abgesoffene-Kuh!« Er drehte sich zum Wagen hin. »Du Scheiß-Kuh! Ich mache das nicht mehr mit, hörst du!« Etienne kickte einen Stuhl um und setzte sich auf den daneben. Ich schmeckte etwas Metallenes im Mund – die Lippe hatte ich mir aufgebissen. Etienne raufte sich die Haare. Er schluchzte und schlug heftig auf den Tisch. Dann erhob er sich, schlurfte gesenkten Hauptes nach innen und schloss die Tür hinter sich.
Ich schulterte den Seesack, den ich hier deponiert hatte und schlich auf Zehenspitzen davon. Auf der Straße angekommen, rannte ich so schnell ich konnte. Meine Lungen ächzten, ein Stechen bohrte sich mir in der Flanken. Ich erhöhte das Tempo noch, rannte und rannte und hoffte beinahe, das Herz setze mir aus.

Am Bahnhof suchte ich die gelbe Infotafel – Gleis drei. Ich kaufte mir Zigaretten und schlenderte zum Bahnsteig. Der Zug stand schon da, eine Gruppe Jugendlicher soff Bier in Dosen. On-The-Road-Rucksäcke wie meiner türmten sich vor ihnen auf. Ich setzte mich auf einen Stuhl aus angenehm kalten Metall. Meine Rechte führte zitternd eine Kippe zum Mund, links hielt ich das Ticket, das versprach, von der ganzen Scheiße wegzukommen. Ich leerte den Kopf, so gut es ging, Manou ließ sich jedoch nicht vertreiben. Sie krallte sich in meine Gedanken wie Katzenklauen. Ich sah, wie sie sich unter mir wandte, hörte ihr Stöhnen, folgte den Tränen, die sie vergoss. Nie zuvor im Leben hatte ich mich so gefühlt.
Die Backpacker tranken aus und stiegen ein. Ich blieb sitzen.

Ich hatte solche Angst davor, am nächsten Tag zur Schule zu gehen. Aber ich verdammte mich dazu. Die Bullen kämen oder Etienne brüllte vor versammelter Mannschaft, was für ein abgebrühter Vergewaltiger ich sei. Doch Etienne kam nicht. Was die Sache vielleicht nur aufschob. Auch die Bullen kamen nicht. Und ich ging zur Haberer, bat um Verzeihung, legte die gefälschte Entschuldigung aufs Pult und fragte, ob ich nachschreiben könne. Ich sah ihr ins Dekolleté. Der Gedanke, wie es wohl wäre, ihr ein oder zwei der Pillen zu geben, versetzte mir einen Stich.
»Kannst du, Joshua, und zwar gleich. Okay?«
»Äh ... ja«, antwortete ich.

Etienne saß am darauffolgenden Schultag sichtlich teilnahmslos die Unterrichtsstunden ab. Auf dem Heimweg nahm ich allen Mut zusammen. »Wie geht’s, Mann?«, fragte ich ihn.
»Pfff...« Etienne hob abwehrend die Hand.
»Ist was?«
»Ach vergiss es«, sagte er.
»Du siehst aber ...«
»Vergiss es einfach, ja!«
»Hat es was mit mir zu tun?«
Etienne lachte. »Hör mal, Josh, nein, hat nichts mit dir zu tun.« Er rieb sich die Stirn. »Hat was mit meiner Mutter zu tun.«
»Okay.« Die Beine wurden mir schwer.
Er sah mir in die Augen, seine Halsschlagader trat deutlich hervor. »Die abgesoffene Kuh!«, platzte er heraus.
Ich fuhr zusammen.
»Weißt du, sie säuft sich irgendwann tot. Aber nicht mit mir!«
Ich nickte nur, Etienne ging weiter.
»Vorgestern war sie am Fluss. Ich hab nie ein gutes Gefühl, wenn sie dort hingeht, weil sie sich ständig volllaufen lässt.« Etienne stierte auf den Gehweg. »Um acht war sie immer noch nicht zu Hause, ich bin hingefahren, um nachzusehen. Und wo fand ich sie?« Er sah mich an.
»Keine Ahnung.«
»Im Wagen, in der Kiste«, sagte er und starrte erneut zu den Füßen. Er legte einen Zahn zu, ich hielt schritt. »Hat gestunken wie sonst was, Fusel und so. Die hat sich total abgeballert, war gar nicht mehr ansprechbar. Scheiße!« Etienne trat nach einem Steinchen, traf es jedoch nicht. »Ich war stinksauer, bin zu ihr rein und hab gewartet, bis mit ihr wieder was anzufangen ist. Das hat Stunden gedauert, Mann! Ich bin selbst eingeschlummert, auf nem beschissenen Stuhl, alles hat mir wehgetan danach. Und weißt du, was die blöde ... Weißt du, was sie sagt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Sie weicht vor mir zurück und fragt, wieso ich das gemacht hätte. Kein Plan, was sie meint. Ich setze mich zu ihr aufs Bett, da schreit sie hysterisch rum und scheuert mir eine. Die hat sich echt das Hirn abgesoffen! Ich hätte sie ... berührt. Begrapscht!« Etienne blieb stehen. »Ich war sprachlos, hab erst gar nicht kapiert, was sie sagt. Und sie fragt ernsthaft, ob ich mich an ihr ... vergangen hätte.«
Etienne griff mir an beide Schultern und ich glaubte, in den Boden gedrückt zu werden. »Das ist meine Mutter! Meine Mutter! Geht’s noch!«
»Ja«, sagte ich.
»Und du ahnst es, oder? Ich bin schwul, ja, bin ich, na und! Ich mache da keinen Hehl mehr draus! Und das brülle ich ihr ins Gesicht! Ich hab sie nie so angeschrien. Und sie fängt an zu heulen. Und steht auf. Und fällt auf die Fresse. Und rappelt sich hoch. Und geht ins Bad. Um zu kotzen, Mann! Dann bin ich gegangen.«
»Oh je.«
»Ja, oh je. Sie wollte gestern mit mir reden, aber die kann mich mal. Ich ziehe zu meinem Vater nach Heidelberg! Du kannst dir nicht vorstellen, was ich alles mitgemacht hab‘, seit er weggegangen ist. Entgiftung, Therapie, volles Programm. Das kann sich niemand vorstellen! Am schlimmsten ist die Enttäuschung, weißt du? Und mittlerweile hat sie sich völlig runtergewirtschaftet.«
»Ich find’s gut, dass du ihr gesagt hast ... na, dass du homosexuell bist«, sagte ich.
»Was sich ihr kaputter Kopf da ausgedacht hat ... Das macht mir echt Angst, verstehst du!«
»Klar.«
»Ich bin kein Idiot.« Er lacht auf. »Bin ihr eigentlich sogar dankbar. Hab’s ihr endlich sagen können! Jeder sollte zu seiner Sexualität stehen, oder?«
Ich dachte einen Moment lang nach. »Stimmt, ja.«
»Sorry«, sagte er, »dass ich dich mit dieser Scheiße zumülle, Josh. Weiß auch nicht, das musste einfach raus jetzt.«
»Ist okay«, erwiderte ich.

Meine Eltern kamen Freitag zurück.
Ich öffnete ihnen die Tür, Vater ging wortlos an mir vorbei, zwei Trolleys im Schlepptau. In dem lächerlich dunkelroten Anzug, den er trug, sah er wie ein Hotelboy aus. Mutter sah mich mit ernster Miene an, die sie allerdings nicht aufrecht erhalten konnte.
»Joshua ...«
»Hi«, unterbrach ich sie. »Komm doch erst mal rein. Ich will mit euch reden.«
Vater brüllte, er habe schon genug gehört. Als ich mich entschuldigte, erzählte, dass ich bereits nachgeschrieben hatte und beschloss, so oder so auf die Angell zu wechseln, bröckelte seine feindselige Fassade. Mutters Plan sah zudem vor, dass ich wieder Psychostunden nehmen sollte. Ich wehrte mich anfangs, dann gab ich nach. Ein paar Stunden Selbstreflexion und soziales Lernen sollten folgen.
Immerhin der Umgang mit den Eltern fiel mir später leichter, auch wenn es Momente gab, an denen ich hätte abkotzen können. Klar.

Italien verlor das Finale gegen Brasilien – ich musste an Etienne denken –, die Sommerferien verbrachte ich an der Costa Brava und eine neue Ära brach an, als ich auf diese beschissene Privatschule wechselte, die gar nicht so beschissen war. Die Mädels waren scharf, die Lehrer ganz okay und ich lernte bald so was wie Freunde kennen. Selbst die Noten besserten sich merklich – später sollte ich problemlos das Abi machen.
Ich hätte eigentlich zufrieden sein können, aber die Erinnerung an die Manoukiste trieb mich um, was nicht immer einfach war.
Ich hatte Scheiße gebaut und wurde noch belohnt dafür. Verrückte Welt, dachte ich.

***

Mein Kumpel sah mich mit glasigen Augen an, dann kippte er sich das restliche Bier in den Rachen. Die Chili Peppers dröhnten Give it away, ich zündete mir eine Gauloises an. Hier hinten saß kaum jemand, die letzten Gäste tummelten sich auf der Tanzfläche oder hockten an der Bar, auch Klara.
»Krasse Geschichte«, sagte mein Kumpel. Eine Pause entstand, wir redeten kein Wort. »Krasse Geschichte«, wiederholte er, meinem Blick wich er aus. »Hast mir nie davon erzählt, all die Jahre.«
»Ja, ich weiß.«
»Und wieso heute?«, fragte er.
»Möglicherweise will ich, dass du mich einlochst.« Ich knuffte ihm die Schulter. »Wo du ja jetzt studierst und so.«
Der Kumpel grinste sichtlich gequält. »Da musst du noch ein paar Semester warten und hey!, was, wenn ich Anwalt werde?«
»Du wirst mir zu teuer sein.«
»Klar, Josh.« Er lachte kurz auf und beäugte das leere Trinkgefäß vor sich. »Nein, ist echt ne krasse Geschichte.« Das Glas kippte er hin und her. »Sie hat nie was gesagt, oder?«
»Manou?«
»Wer sonst?«, fragte er.
»Mir ist das nie aus dem Kopf. Ich sehe sie manchmal auf der Straße. Sie nickt mir zu. Würde sie wohl nicht, wenn sie ... na ja.«
»Wahrscheinlich.« Er hörte auf, das Trinkglas zu schwenken. »Von Etienne was gehört?«
»Ich weiß nur, dass er nach Heidelberg gezogen ist.«
»Hm.« Dem Kumpel war anzusehen, dass er zu viel gesoffen hatte und ihm das Gespräch langsam schwerfiel. »Josh, nimm’s mir nicht krumm, ich muss jetzt, okay?«
»Kein Ding.«
»Kommst du mit?«
Mein Blick wanderte zur Bar hinüber. »Ich bleib‘ noch etwas, mache aber auch nicht mehr lange.«
Der Kumpel sah zum Tresen. »Klara hat sich toll entwickelt, oder?«
Ich lachte. »Ja.«
»Tja, Josh, Chance verpasst. Vielleicht erzählst du bei Gelegenheit mal, was bei ihr schiefgelaufen ist, hm?«
Ich winkte ab.
Er grinste, stand auf und reichte mir die Hand. »Bei ihr wirst du nicht mehr landen, sie hat einen Freund.«
»Gibt noch andere.« Ich klatschte ein, er schüttelte den Kopf.
»Wir reden weiter, ja?! Sobald ich wieder klar denken kann«, sagte er.
»Ja, gut.«
»Okay. Josh, wird mir fehlen mit dir!«
Ich erhob mich, wir umarmen uns. »Mir auch. Ich komme zu Besuch, versprochen.«
»Will ich hoffen, Alter!«, sagte er. »Ruf an, ja?«
Ich hob den Daumen zur Antwort und schaute, wie er davontaumelte. Er war ein Arschloch.

Sie roch anders. Früher waren mir Blumen und frisch Gewaschenes in den Sinn gekommen, wenn wir uns umarmt hatten. Heute lag eher der Duft nach orientalischem Tabak im Raum. Sie sah verloren aus, ihr Freund war nirgends zu sehen. Klara stützte das Kinn auf und knabberte am kleinen Finger. Sie blickte zur Tanzfläche, wo die Tussi, die sie begleitet hatte, sich von irgendeinem Typen antanzen ließ.
»Klara.«
Sie hob den Kopf in meine Richtung. »Ich hab‘ dich schon gesehen. Alles klar?«
Ich rückte den Barhocker näher zum Tresen, näher zu ihr. »Geht so.« Ich winkte den Barkeeper herbei. »Willst du auch was?«
»Nee, danke.« Klara wendete sich wieder den Tanzenden zu.
»Sicher?«,
»Keine Ahnung.«
»Zwei Wodka-Red-Bull«, sagte ich zum Mann hinter der Theke.
»Nee«, meldete sich Klara.
Ich grinste. »Ramazotti?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Zwei Gin Tonic«, sagte ich und blickte dabei auf Klaras kurz geschorenen Hinterkopf. »Den hast du immer gerne getrunken.«
Klara zuckte mit den Schultern.
»Wer ist das, da, auf der Tanzfläche?«, fragte ich.
»Nur ne Arbeitskollegin.« Klara drehte sich zu mir um. »Hör mal, Josh-u-a, was soll das? Ist das hier ne Anmache?«
Ihre Wimpern faszinierten mich genauso wie damals. Die Kurzhaarfrisur verstärkte den Effekt noch. Keck nach oben gewölbt, umrahmten sie ihre blauen Augen wie schwarzgemalte Sonnenstrahlen.
»Konversation?« Ich grinste erneut.
»Und du glaubst, ich hab‘ Lust mit dir Konversation zu treiben?«
»Ach komm, Klara, wir haben so lange nicht mehr miteinander geredet.«
»Ich wollte nie mehr mit dir reden. Vergessen?«
»Nein.« Ich hob mein Glas an. »Aber wir hatten nicht nur miese Zeiten, oder?« Klara zog die Brauen hoch. »Auf die schönen Momente, an die ich mich übrigens gerne erinnere.« Ich prostete ihr zu.
»Zum Beispiel?«
»Hm ... Wahrheit oder Pflicht?«
Klara runzelte die Stirn, kurz darauf glättete sie sich wieder. »Im Stadtgarten?«, fragte sie.
Ich prustete los und nickte. »Zum Beispiel!«
»Ja, war lustig«, sagte sie. »Okay, pass auf, Josh, ich gehe für freche Mädels, danach trinke ich genau einen Gin mit dir. Das war‘s dann für die nächsten ... ähm ...«
»Drei Jahre«, ergänzte ich.
»Genau.« Klara ließ sich vom Barhocker gleiten und legte mir für eine Sekunde die Hand auf die Schulter. Sie mogelte sich geschickt an den Tänzern vorbei. Ihre Begleiterin war nicht mehr zu sehen. Klaras schwarze Bluse leuchtete im UV-Licht blau auf, als sie die Schwingtür zu den Toiletten aufstieß.
Niemand außer mir saß noch an der Theke. Der Barmann feixte mit einer Blonden, die jedes Wort von ihm mit einem behäbigen Blinzeln quittierte. Der Rest sprang die Tanzfläche auf Jump Around hoch und runter. Mir brach der Schweiß aus. Das Glas vor mir war angenehm kühl und beschlagen. Mein Daumen malte auf der Oberfläche herum. Ich hörte das eigene Herz schlagen, trotz der Bassgewalt von House of Pain ringsum. Den Finger tauchte ich ins Trinkgefäß und rührte um, bis sich die Flüssigkeit darin wieder aufklarte. Er schmeckte nach Zitronen, als ich ihn ableckte.
Klara drängelte sich durch den hüpfenden Mob. Ich zögerte einen Augenblick, dann schob ich den Gin Tonic wieder zu ihrem Platz. Nachdem sie es zu mir geschafft hatte, verdrehte sie die Augen. Ich grinste und hob das Glas.

 
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Hallo hell

Ich habe deinen Text ein paar Mal angelesen und bin irgendwie nicht reingekommen. Zum Glück habe ich ihm aber heute morgen nochmal eine Chance gegeben. Das hat sich gelohnt, ich bin beeindruckt.

Also, dass du schreiben und erzählen kannst, brauche ich nicht zu betonen (tu es aber trotzdem). Da kann man eintauchen. Ich fand die Beschreibungen auch nicht ausufernd, ich finde es gut, dass du dir hier viel Raum genommen hast, um die Geschichte zu erzählen.

Zur Kritik:

Weshalb bin ich nicht reingekommen? Mir war der Fokus im Einstieg zu unscharf, da ist zunächst Etienne, du beginnst da auch mit einer Charakterisierung und ich dachte, da kommt jetzt noch mehr, eine gemeinsame Episode, etwas dazu, wie die beiden zueinander stehen. Du wechselst aber zu Manou, dann kommt Klara ins Spiel und die Charakterisierung des Erzählers als Psycho. Das sind alles Elemente, die du brauchst, aber mir war das zu viel der Auslegeordnung. Vielleicht denkst du darüber nach, dir hier mehr Zeit zu lassen, Manou und ihre Zöpfe z.B. erst später ins Spiel zu bringen.
Später dann hatte ich dieses Problem nicht mehr, das ist alles in perfektem Tempo und Timing erzählt.

Ja. Und jetzt schreibe ich einfach ein paar Gedanken und Hypothesen zum Erzählton, zum Erzähler hin. Vielleicht hilft dir was davon.

Ich bin hin- und hergerissen. Ich finde es unplausibel. Ich finde es überraschend und spannend. Das kannst du so nicht machen. Es ist toll, dass du es so gemacht hast. Also, du gibst dem Erzähler diese typische Coming-of-Age-Stimme, zunächst mal, weil das alles als Erinnerung präsentiert wird. Und diese Stimme ist sensibel, was die Beobachtungsgabe betrifft, auch, was die Zurückhaltung betrifft. Wenn er mit Etienne lernt, dann tätschelt dieser ihm die Hand, das bleibt zwischen den Zeilen, das ist im typisch subtilen Ton gehalten. Das gilt auch für die Schwierigkeiten, die Joshua zu Hause hat und die Begegnung mit Manou. Wer so erzählt, ist ein feinfühliger Mensch.

Demgegenüber bleibt die (re)aktive, aggressive Seite, das Grobe und Verachtende zunächst völlig im Hintergrund - wird bloss in der Behauptung, er sei "Psycho" gesetzt, was aber für den Leser nicht spürbar wird. Nur beim Telefongespräch mit Etienne wird das verdeutlicht. Doch schon hier war meine Reaktion: "Ui, das passt aber gar nicht zum Erzähler." Diese Härte, die Abgeklärtheit, die hast du vorher nicht drin (oder ich habe sie überlesen). An dieser Stelle konnte ich aber gut damit leben, das ist eine neue Facette, dachte ich, fand das spannend.

Beim Übergriff auf Manou - hervorragend geschrieben - hatte ich schon mehr Mühe. Du hast sehr viel investiert, um den vorzubereiten, die verschissene Familiensituation, das ungestillte Begehren. Aber dieser Impuls, diese Bereitschaft, sich zu nehmen, was man will, die fand ich im Charakter von Joshua nicht angelegt. Vielleicht kann man sagen, die Figuren zeigen ihren wahren Charakter in ihrem Handeln in entscheidenden Momenten. Und Figuren sollen ja auch überraschen.
Aber das war der einzige Moment, in dem ich deine Geschichte als Konstrukt wahrgenommen habe.

Falsch. Nicht der einzige Moment: Mit dem Schluss komme ich überhaupt nicht zurande. Während Joshua bisher Reue zeigt, zerrissen ist, auch Verständnis wecken kann, ist er jetzt zynischer Wiederholungstäter? Warum? Was liegt dazwischen? Ich finde, dieser Schluss ist im Text nicht angelegt, hat nichts Zwingendes, ja für mich nicht mal was Plausibles. Der hat mir einiges an Lesespass verdorben.

Eigentlich sollte ich grad arbeiten, mir fehlt etwas die Zeit für Details. Aber das wollte ich noch erwähnt haben:

Die Glut der Zigarette schnippte ich ab // Die Vespa stellte ich direkt am Weidenzaun ab.

Bei diesen unnatürlichen Satzstellungen hatte ich jeweils den Eindruck, dass der Autor Monotonoie in der Satzstellung um jeden Preis vermeiden wollte.

Manou hatte garantiert einen im Tee, so wie sie Schule und Joshua aus den Takt warfen.

dem. Und Schule und Joshua in Anführugszeichen (oder kursiv), denn es sind die Wörter, die sie aus dem Takt werfen, nicht die Dinge.


Sehr gern gelesen!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo Peeperkorn,


schön, dass du Zeit für meine Geschichte gefunden hast.


Mir war der Fokus im Einstieg zu unscharf ...
...
Das sind alles Elemente, die du brauchst, aber mir war das zu viel der Auslegeordnung. Vielleicht denkst du darüber nach, dir hier mehr Zeit zu lassen, Manou und ihre Zöpfe z.B. erst später ins Spiel zu bringen.
Da denke ich auf jeden Fall darüber nach, danke für den Hinweis!
Ist blöd, wenn man nicht gleich reinfindet, gerade bei dem Umfang des Textes. Dann möchte man sich nicht unbedingt weitere 14 Seiten antun - verstehe ich.

Später dann hatte ich dieses Problem nicht mehr, das ist alles in perfektem Tempo und Timing erzählt.
Freut mich, dass das später wohl besser funktioniert hat.

Ich bin hin- und hergerissen. Ich finde es unplausibel. Ich finde es überraschend und spannend. Das kannst du so nicht machen. Es ist toll, dass du es so gemacht hast.
Da musste ich echt schmunzeln.
Mir ging es beim Schreiben ganz ähnlich - aber das Hin und Her schien mir für den Prot/Erzähler einfach treffend zu sein.

Wer so erzählt, ist ein feinfühliger Mensch.
...
Demgegenüber bleibt die (re)aktive, aggressive Seite, das Grobe und Verachtende zunächst völlig im Hintergrund ...
...
Aber dieser Impuls, diese Bereitschaft, sich zu nehmen, was man will, die fand ich im Charakter von Joshua nicht angelegt.
...
Ich finde, dieser Schluss ist im Text nicht angelegt, hat nichts Zwingendes, ja für mich nicht mal was Plausibles.
Ja, verstehe ich. Natürlich probiere ich mich da auch aus, taste ab, wie weit ich gehen kann.
Meine Überlegungen dazu:
Joshua befindet sich ja in der Adoleszenz. Sucht nach seiner Identität, was für mich das Hin und Her erklärt.
Ich glaube, es ist vieles in uns angelegt. Die Frage ist, wann und wie und ob etwas zu Tage tritt. Wie man was sortiert. Das Innen und Außen sortiert.
Joshua macht seine Erfahrungen, auch Selbsterfahrungen. Er lernt Dinge über sich selbst kennen, die ihn vermutlich selbst überraschen dürften. In seinem Fall entwickelt sich das alles eben gegen Ende nicht gut. Ich habe da die Rollendiffusion im Blick.
Und dazu die Ich-Perspektive. Wie sieht Joshua das alles selbst? Sieht er das überhaupt? Wie gewichtet er das Erzählte? Was will er überhaupt sehen?
Hätte ich personal geschrieben, hätte ich das wohl besser vorbereitet. Die gewählte Perspektive machte mir das schwerer - vielleicht bin ich daran auch gescheitert. Aber spannend (und hoffentlich lehrreich) war das für mich allemal.
Da fällt mir spontan was zu Prämissen ein. Dass Texte die Thesen beweisen müssen, die sie aufstellen. Ich glaube aber, dass man schon ein paar Hinweise (wohlgemerkt vom Ich-Erzähler) bekommt, die einen zum Grübeln bringen können.
Ich denke weiter darüber nach, Peeperkorn, ist ein wichtiger Punkt. Vielleicht der entscheidende für den Text als Ganzen. Danke für deine Überlegungen!

An dieser Stelle konnte ich aber gut damit leben, das ist eine neue Facette, dachte ich, fand das spannend.
...
Vielleicht kann man sagen, die Figuren zeigen ihren wahren Charakter in ihrem Handeln in entscheidenden Momenten. Und Figuren sollen ja auch überraschen.
Das unterschreibe ich gerne, zu weit darf man es aber sicher nicht damit treiben, klar.

Die Glut der Zigarette schnippte ich ab // Die Vespa stellte ich direkt am Weidenzaun ab.
Bei diesen unnatürlichen Satzstellungen hatte ich jeweils den Eindruck, dass der Autor Monotonoie in der Satzstellung um jeden Preis vermeiden wollte.
Ja, aber nicht um jeden Preis. Ich finde jedoch, das geht schon so. Gerade bei der Länge das Texts darf auch mal was Unnatürliches auftauchen - als Satzstellungswachmacher, oder so :).

Manou hatte garantiert einen im Tee, so wie sie Schule und Joshua aus den Takt warfen.
dem. Und Schule und Joshua in Anführugszeichen (oder kursiv), denn es sind die Wörter, die sie aus dem Takt werfen, nicht die Dinge.
Danke.

Sehr gern gelesen!
Habe ich auch sehr gerne gelesen, danke!


Obwohl du eigentlich keine hattest, hast du trotzdem Zeit gefunden, einen sehr klugen Kommentar zu schreiben. Der wird weiter in mir nachhallen und mich bestimmt positiv beeinflussen.
Tausend Dank!


Gruß


hell

 

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