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Großvater Schwarzbart

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14.05.2002
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Großvater Schwarzbart

Von dem Kind in dem Bauch meiner Tante Eva hörte ich das erste Mal auf dem dreiundsiebzigsten Geburtstag meines Großvaters. Zu diesem Anlass kaufte mir Mutter meinen ersten Anzug. Er war mir noch ein bisschen zu weit. Doch ich fühlte mich schon fast erwachsen und konnte es gar nicht erwarten, Großvater mein neues Prachtgewand vorzuführen.
Als ich an seinen Rollstuhl herantrat zog er die Augenbrauen zusammen. Leider konnte ich sein Nuscheln nicht mehr verstehen, denn er war bereits sehr krank. Während ich mit klackenden Hacken salutierte, wie er es mir beigebracht hatte, hellte Großvaters Miene sich auf. Dann drehte ich ihm eine Nase und er zwinkerte mir zu.
Nachdem der Kuchen auf den Tisch gekommen war, stand Tante Eva auf und verkündete der versammelten Familie, sie würde ein Kind erwarten. Ich stellte mir vor, wie das Baby mit einem Spielzeugtelefon bei ihr anrief um mitzuteilen, es käme nächste Woche.
Meine Mutter fragte erstaunt, wer denn der Vater sei. Tante Eva antwortete, es kämen mehrere Männer in Frage, aber sie hätte zu keinem mehr Kontakt, das sei aber auch gut so und sie würde das Kind trotzdem großziehen. Wenn der Mischpoke das nicht passen würde, dann auch ohne ihre Unterstützung, sagte sie und blickte mit vorgestrecktem Kinn in die Runde.
Mutter versuchte noch wochenlang, sie umzustimmen, aber irgendwann war es dann zu spät und sie und Tante Eva hörten auf miteinander zu sprechen.
Als Großvater sein Bett kaum noch verlassen konnte, zog Mutter zu ihm in die Heinrich-Heine-Strasse. Vater war mal wieder auf Geschäftsreise, allerdings kam er diesmal gar nicht mehr zurück. Deshalb wurde ich bei Bekannten untergebracht. Nach einiger Zeit sagte Mutter jedoch, sie wollte mich diesen nicht mehr zumuten und nahm mich mit zu Großvater. Zuerst freute ich mich darauf, nun jeden Tag mit ihm zu verbringen, aber dann erfuhr ich, dass er in seinem Zimmer nicht gestört werden wollte. Mutter sagte, er brauchte jetzt viel Ruhe.
Dabei hat er sich sonst immer gefreut, wenn ich ihn besuchte. Wir spazierten dann immer über die Felder und spielten Seefahrer. Manchmal waren wir der Schrecken der Sieben Meere, oder wir waren reiche Kaufleute aus den Niederlanden, die schwer beladen mit Gewürzen aus Indien kamen und immer niesen mussten wegen des vielen Pfeffers.
Oder wir kämpften miteinander! Zuerst warfen wir uns fürchterliche Beleidigungen an den Kopf und zogen anschließend unsere Waffen. Er mit seinem Spazierstock war Großvater Schwarzbart und ich mit meiner Weidenrute war der berüchtigte Kapitän Kidd. Ich hatte allerdings einen Trick, mit dem ich immer gewann. Ich musste einfach nur den Säbel fallen lassen, auf Großvater zu rennen und ihn mit beiden Händen durchkitzeln. Dann brach er in Gelächter aus und ergab sich.
Weil Mutter sich ein Klappbett in seinem Zimmer aufgebaut hatte, war ich nachts im Gästezimmer allein. Im Muster der Tapete und in den Schatten, die die Bäume durch das kleine Fenster in der schrägen Wand warfen, verbargen sich langfingrige Scheusale, die nur darauf warteten, dass ich endlich einschlief. Ich kroch unter die Decke und hielt mit den Fingern nur einen winzigen Spalt zum Atmen auf. Ich erinnere mich daran, dass sie viel dicker war, als meine daheim, aber sie war immer kühl. Wenn ich nachts aufgewachte, war mein ganzer Körper voller Schweiß.
Zunächst kümmerte Mutter sich alleine um Großvater. Einmal sah ich beim Waschen zu. In der Badewanne war ein weißes Gitter eingebaut, auf dem Großvater ins Wasser abgesenkt wurde, wie ein Krapfen ins Fett. Selber essen konnte er schon lange nicht mehr, deshalb hat Mutter ihm das Essen reingespachteln. Vor allem wenn es darum ging, die Medikamente zu nehmen, schien Großvater kaum noch die Kraft zum Schlucken aufzubringen. Der Brei lief ihm einfach wieder aus dem Mund heraus und über seinen Lockenbart, sodass Mutter ihm die Nase zuhalten musste, um ihm die Tabletten rein zu zwingen.
Abends weinte Mutter mehr als sonst. Ich deckte den Tisch, aber das tröstete sie nicht.
Eines Tages klingelte es an der Haustür. Ich lief hinunter und durchs Fenster konnte ich Tante Eva erkennen. Mutter entriegelte die Tür und öffnete sie. Sie ließ Tante Eva mit Koffer, dickem Bauch und ohne ein Wort im Hauseingang stehen. Jetzt hatte Mutter zwar eine bessere Hilfe als mich, aber ihre Stimmung hob sich dadurch nicht.
Ein paar Tage später fuhr ich abends mit meinen Autos auf dem Marmorfußboden im Flur Rennen. Durch die Facettenglastür im Wohnzimmer konnte ich Mutter und Tante Eva hören. Mutter forderte Tante Eva auf, an den Ruf der Familie zu denken. Tante Eva erwiderte etwas von kleinen Geistern und Engstirnigkeit und ich musste an das Gästezimmer und die Baumschattenteufel denken. Ich parkte ein Auto neben dem anderen unter dem Sideboard, erhob mich und schlenderte ein paar Schritte über den Flur. Ich konnte ganz deutlich meinen Herzschlag spüren. Ich fühlte mich ungewohnt frei, aber gleichzeitig hatte ich Angst, dass sich die Wohnzimmertür öffnen konnte und ich unverzüglich unter meiner schweren Bettdecke enden würde.
Ich steuerte auf die Tür von Großvaters Zimmer zu. Sie war angelehnt und ich konnte ihn leise atmen hören. Während ich überlegte, ob er wohl schlief und ob ich ihn wecken würde, wenn ich ihn besuchte, hörte er auf zu atmen. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was passiert war. Großvater war alleine gestorben, während Mutter und Tante Eva nur ein paar Türen weit entfernt stritten.
Ich linste durch den Türspalt und sah Großvater auf seinem Bett liegen, den Blick starr an die Zimmerdecke geheftet. Dann lebt er ja doch noch, dachte ich. Doch mir fiel ein, dass Tote manchmal auch die Augen geöffnet haben. Zumindest hatte ich davon gehört, dass man sie ihnen manchmal schließen muss.
Um endgültig Klarheit zu bekommen schritt ich auf das Bett zu. Er sah aus, als dächte er nach. Ich stupste ihn, er rührte sich nicht. Ich legte meine Hand auf seine Stirn und strich über seine Augen, aber sie blieben geöffnet. Ich versuchte es erneut, nur langsamer und mit mehr Druck. Ich hatte Erfolg. Ein Auge schloss sich zur Hälfte. Ich kletterte auf das Bett um mit beiden Händen die Augen zu bedecken, wobei ich Großvaters Kopf ein wenig in sein Kissen drückte. Er schnappte nach Luft und ich fiel beinahe vom Bett.
Als er mich sah, strahlte er mich an.
„Samuel“, sagte er. „Wie schön, dass du mich besuchst. Was es wohl zu Essen gibt?“
„Semmelauflauf.“ sagte ich.
„Natürlich. Und danach gehen wir über die Felder.“
„Klasse! Und du erzählst mir eine neue Geschichte von Long John Silver.“ Ich strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht.
„Getrommelt sei’s und gepfiffen, du galliger Spross eines Quallenegels!“ lächelte Großvater.
„Na warte, du parasitärer Schellfischschleimer!“ lautete meine Antwort. Ich riss die Hände nach oben und ließ sie in Großvaters Rippen fahren. Er begann zu kichern und zu keuchen. Ich ließ ihn kurz zu Atem kommen, um ihn durch einen erneuten Überfall zur Aufgabe zu zwingen. Er lachte und bäumte sich auf. Dann sank er mit geschlossenen Augen zurück in die Federn. Ich versuchte ihn weiter zu kitzeln, aber diesmal rührte er sich gar nicht mehr.
Ich stieg vom Bett und ging zurück zum Wohnzimmer. Mutter und Tante Eva diskutierten immer noch. Ich öffnete die Tür und streckte den Kopf durch den Spalt. Mutter sah mich, blickte auf die Uhr, stand auf, kam auf mich zu und nahm mich bei der Hand.
„Es ist schon spät, Samuel. Ab in die Falle!“
Auf Großvaters Beerdigung trug ich meinen Anzug zum zweiten Mal. Jetzt passte er mir schon viel besser. Am Hals war er sogar fast ein bisschen eng. Tante Eva erschein nur zu der Beisetzung. Danach habe ich sie nie wieder gesehen.

 

hi futz (du hattest keine glücklich wahl für deinen nick - futz erinnert mich immer an ...)

also, deine geschichte ist gut. mir gefällt sie ausgezeichnet. die sterbebegleitung miterlebt von einem vorschulkind. die auseinandersetzung des buben vergangenheit mit stabilen opa und dem zerbrechlichen, den er nicht stören darf.
die darstellung der szenen mit opa, an die er sich erinnert, sind dir wirklich gut gelungen.
die anspielung aufs vaters verlassen der familie muss mehr ausgebaut werden. hier überlegt der leser, ob er die familie wirklich verlassen hat, oder ob er wirklich auf geschäftsreise ist, oder ob sich der schreiber vertan hat.
das ende ist herrlich und trifft meinen persönlichen geschmack. opa wäre einsam verstorben, wenn sam nicht ... *smile*!
der erzählstil ist gut, er weisst aber auch mängel auf. auch rechtschreibfehler sind zu viele. ich habe beides und einige umgereimtheiten im einzelnen hier aufgelistet:

Mutter hat wohl noch einige Zeit versucht, sie umzustimmen, aber irgendwann war es dann zu spät und Tante Eva und Mutter hörten auf miteinander zu sprechen.

umzustimmen - wohin??

Dabei habe ich ihn nie belästigt oder aufgeregt, wenn ich früher allein bei ihm zu Besuch war.

hinter "Besuch" fehlt ein "gewesen"
"wenn" besser >> "als"

Ich kroch unter die Decke und hielt mit den Fingern nur einen winzigen Spalt zum atmen auf. Ich erinnere mich daran, dass sie viel dicker war, als meine daheim, aber trotzdem kam sie mir immer kühl vor, obwohl ich geschwitzt habe.

"atmen" gross
"kam sie mir immer kühl vor" wer? die decke? welche decke?
"habe" >> "hatte"

Zunächst hat Mutter sich ganz alleine um Großvater gekümmert. Einmal habe ich beim Waschen zugesehen.
"hat" >> "hatte"
"habe" "hatte"

Ich glaube es hat ihm nicht sonderlich gefallen.

hinter "glaube" ein komma
"hat" >> "hatte"

Vor allem wenn es darum ging die Medikamente zu nehmen schien Großvater kaum noch die Kraft zum Schlucken aufzubringen.
hinter "ging" und hinter "nehmen" jeweils ein komma

dass diese jeden Augenblick unter einer schweren Bettdecke enden könne.

"könne" >> "könnte"

Er schnappte nach Luft und ich viel beinahe vom Bett.
"viel" >> "fiel

du verwechselst oft die zeiten.
du solltest die fehler wirklich korrigieren. das lohnt sich.

prima

bis dann

barde

 

Hallo Futz,

von mir bekommst du eine Eins plus! Die Geschichte ist ganz hervorragend. Voller Charme, mit leiser, fast kindlicher Ironie und trotzdem melancholisch wird eine Geschichte erzählt, die bei einem weniger guten Stl leicht ins Kitschige hätte abgleiten können. Du bist wirklich begabt.

Beste Grüße
knagorny

 

Hallo Futz,
ich fand die Geschichte auch sehr schön, flüssig zu lesen und zum Nachdenken. Lediglich die Unklarheit, was mit dem Vater los ist, hat mich ein wenig gestört. Weiter so!
Gruß Tamara

 

Hallo Ihr!

Vielen Dank für's Lesen, die Kritik und für die Mühe mit dem Rauschreiben der Grammatikfehler. Es freut mich, dass es Euch gefallen hat.

Viele Grüße!
Futz

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Futz

Genial, im letzten Teil habe ich fast ne Träne verdrückt. Klasse, wie du die Situationen mit Kinderaugen einfängst.
Die schönste Stelle für mich:

Ich versuchte es erneut, nur langsamer und mit mehr Druck und dem Erfolg, dass sich ein Auge zur Hälfte schloss. Ich kletterte auf das Bett um mit beiden Händen die Augen zu bedecken, wobei ich Großvaters Kopf ein wenig in sein Kissen drückte. Er schnappte nach Luft und ich viel beinahe vom Bett. Als er mich sah, strahlte er mich an.
"Samuel", sagte er. "Wie schön, dass du mich besuchst. Was es wohl zu Essen gibt?"
"Semmelauflauf?" sagte ich.
(Jeder Erwachsene hätte gerufen: Oh, du lebst, Gott sei Dank.)

Geschichte, Stil, Unterhaltungswert, Tiefgang:
Ich sage nur :thumbsup: super.

(Ähem, was ist Mischpoche?)

Lieben Gruss .\ robi

 
Zuletzt bearbeitet:

Danke, dass du mir das mit Tacheles erklärt hast.
Und somit: Passender Titel.
.\

 

Shalom!

Ich habe die Geschichte noch mal überarbeitet. Glaubt Ihr, es ist besser, sie noch mal neu zu posten, oder soll ich einfach die alte Version ersetzen?

Viele Grüße!
Futz

 

Meine Mutter fragte erstaunt, wer denn der Vater sei

"sei" >> "wäre"

es gibt noch das problem:

Sie würde das Kind trotzdem großziehen, ob nun mit oder ohne Hilfe und blickte dabei mit vorgestrecktem Kinn in die Runde.
Mutter hat wohl noch einige Zeit versucht, sie umzustimmen,

die mutter will sie umstimmen? wohin denn? soll die schwester heiraten? wen? soll sie abtreiben? soll sie das kind ins heim geben. so wie ich, der leser, das sehe, bleibt der schwangeren doch gar keine andere wahl als allein zu erziehen!

aber trotzdem kam sie mir immer kühl vor, obwohl ich geschwitzt habe.

"habe" >> "hatte"

Mutter sah mich, auf die Uhr, stand auf, kam auf mich zu und nahm mich bei der Hand.

diese aufzählung wirkt nicht. besser wenn du vor dem ersten "auf" ein "dann" setzt.

du hast zwar die fehler korrigiert, aber auf das elementare, wie zum beispiel das mit dem vater, das hast du nicht weiter bearbeitet.

eine korrigierte fassung wird nicht neugepostet - nur dann, wenn es eine inhaltlich andere geschichte geworden ist.

bis dann

barde

 

Hallo Futz

Dein Titel hat mich dazu gebracht, deine Geschichte zu lesen. Es ist halt eher selten, dass jemand Jiddisch kann/versteht/verwendet......

Und ich muss sagen, eine tolle Geschichte. Wunderbar erzählt im Stil deines Prot, die Beziehung zum Grossvater aber auch die Wahrnehmungen was sonst so abgeht in der Mischpoche... :D

Einfach :thumbsup:
und lesenswert :read:

Lieber Gruss
Muchel

Wos lejnger a blinder lebt, alz mer set er

jiddisches Sprichwort

 

Hallo Futz,

sehr schöne Geschichte. Dir gelingt es ausgezeichnet aus der Perspektive eines Kindergartenkindes zu schreiben, das gar nicht so richtig versteht, was mit dem Opa passiert, und doch alles genau beobachtet.

Den Titel habe ich auch erst durch die Kommentare verstanden. Klar ist mir aber noch nicht, warum du einen jiddischen Titel gewählt hast. Ich kann in der Geschichte nichts Jüdisches finden. Der Titel ist "Mischpoche", im Text schreibst du "Mischpoke". Ist das das gleiche, also nur ein Tippfehler, oder etwas anderes?

Und nochwas: auch mich hätte es interessiert, was mit dem Vater los ist. Bitte baue deine Geschichte noch ein bisschen aus. Sie ist es wirklich wert!

Ellen

 

Hallo Futz,
noch ein kleiner Verbesserungsvorschlag: da es hauptsächlich um den Großvater geht, würde ich die Geschichte mit ihm beginnen, also den ersten Satz umstellen:

"Auf dem dreiundsiebzigsten Geburtstag meines Großvaters hörte ich zum ersten Mal von dem Kind in dem Bauch meiner Tante Eva."

Gruß,
Ellen

 

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