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Großvater Schwarzbart
Von dem Kind in dem Bauch meiner Tante Eva hörte ich das erste Mal auf dem dreiundsiebzigsten Geburtstag meines Großvaters. Zu diesem Anlass kaufte mir Mutter meinen ersten Anzug. Er war mir noch ein bisschen zu weit. Doch ich fühlte mich schon fast erwachsen und konnte es gar nicht erwarten, Großvater mein neues Prachtgewand vorzuführen.
Als ich an seinen Rollstuhl herantrat zog er die Augenbrauen zusammen. Leider konnte ich sein Nuscheln nicht mehr verstehen, denn er war bereits sehr krank. Während ich mit klackenden Hacken salutierte, wie er es mir beigebracht hatte, hellte Großvaters Miene sich auf. Dann drehte ich ihm eine Nase und er zwinkerte mir zu.
Nachdem der Kuchen auf den Tisch gekommen war, stand Tante Eva auf und verkündete der versammelten Familie, sie würde ein Kind erwarten. Ich stellte mir vor, wie das Baby mit einem Spielzeugtelefon bei ihr anrief um mitzuteilen, es käme nächste Woche.
Meine Mutter fragte erstaunt, wer denn der Vater sei. Tante Eva antwortete, es kämen mehrere Männer in Frage, aber sie hätte zu keinem mehr Kontakt, das sei aber auch gut so und sie würde das Kind trotzdem großziehen. Wenn der Mischpoke das nicht passen würde, dann auch ohne ihre Unterstützung, sagte sie und blickte mit vorgestrecktem Kinn in die Runde.
Mutter versuchte noch wochenlang, sie umzustimmen, aber irgendwann war es dann zu spät und sie und Tante Eva hörten auf miteinander zu sprechen.
Als Großvater sein Bett kaum noch verlassen konnte, zog Mutter zu ihm in die Heinrich-Heine-Strasse. Vater war mal wieder auf Geschäftsreise, allerdings kam er diesmal gar nicht mehr zurück. Deshalb wurde ich bei Bekannten untergebracht. Nach einiger Zeit sagte Mutter jedoch, sie wollte mich diesen nicht mehr zumuten und nahm mich mit zu Großvater. Zuerst freute ich mich darauf, nun jeden Tag mit ihm zu verbringen, aber dann erfuhr ich, dass er in seinem Zimmer nicht gestört werden wollte. Mutter sagte, er brauchte jetzt viel Ruhe.
Dabei hat er sich sonst immer gefreut, wenn ich ihn besuchte. Wir spazierten dann immer über die Felder und spielten Seefahrer. Manchmal waren wir der Schrecken der Sieben Meere, oder wir waren reiche Kaufleute aus den Niederlanden, die schwer beladen mit Gewürzen aus Indien kamen und immer niesen mussten wegen des vielen Pfeffers.
Oder wir kämpften miteinander! Zuerst warfen wir uns fürchterliche Beleidigungen an den Kopf und zogen anschließend unsere Waffen. Er mit seinem Spazierstock war Großvater Schwarzbart und ich mit meiner Weidenrute war der berüchtigte Kapitän Kidd. Ich hatte allerdings einen Trick, mit dem ich immer gewann. Ich musste einfach nur den Säbel fallen lassen, auf Großvater zu rennen und ihn mit beiden Händen durchkitzeln. Dann brach er in Gelächter aus und ergab sich.
Weil Mutter sich ein Klappbett in seinem Zimmer aufgebaut hatte, war ich nachts im Gästezimmer allein. Im Muster der Tapete und in den Schatten, die die Bäume durch das kleine Fenster in der schrägen Wand warfen, verbargen sich langfingrige Scheusale, die nur darauf warteten, dass ich endlich einschlief. Ich kroch unter die Decke und hielt mit den Fingern nur einen winzigen Spalt zum Atmen auf. Ich erinnere mich daran, dass sie viel dicker war, als meine daheim, aber sie war immer kühl. Wenn ich nachts aufgewachte, war mein ganzer Körper voller Schweiß.
Zunächst kümmerte Mutter sich alleine um Großvater. Einmal sah ich beim Waschen zu. In der Badewanne war ein weißes Gitter eingebaut, auf dem Großvater ins Wasser abgesenkt wurde, wie ein Krapfen ins Fett. Selber essen konnte er schon lange nicht mehr, deshalb hat Mutter ihm das Essen reingespachteln. Vor allem wenn es darum ging, die Medikamente zu nehmen, schien Großvater kaum noch die Kraft zum Schlucken aufzubringen. Der Brei lief ihm einfach wieder aus dem Mund heraus und über seinen Lockenbart, sodass Mutter ihm die Nase zuhalten musste, um ihm die Tabletten rein zu zwingen.
Abends weinte Mutter mehr als sonst. Ich deckte den Tisch, aber das tröstete sie nicht.
Eines Tages klingelte es an der Haustür. Ich lief hinunter und durchs Fenster konnte ich Tante Eva erkennen. Mutter entriegelte die Tür und öffnete sie. Sie ließ Tante Eva mit Koffer, dickem Bauch und ohne ein Wort im Hauseingang stehen. Jetzt hatte Mutter zwar eine bessere Hilfe als mich, aber ihre Stimmung hob sich dadurch nicht.
Ein paar Tage später fuhr ich abends mit meinen Autos auf dem Marmorfußboden im Flur Rennen. Durch die Facettenglastür im Wohnzimmer konnte ich Mutter und Tante Eva hören. Mutter forderte Tante Eva auf, an den Ruf der Familie zu denken. Tante Eva erwiderte etwas von kleinen Geistern und Engstirnigkeit und ich musste an das Gästezimmer und die Baumschattenteufel denken. Ich parkte ein Auto neben dem anderen unter dem Sideboard, erhob mich und schlenderte ein paar Schritte über den Flur. Ich konnte ganz deutlich meinen Herzschlag spüren. Ich fühlte mich ungewohnt frei, aber gleichzeitig hatte ich Angst, dass sich die Wohnzimmertür öffnen konnte und ich unverzüglich unter meiner schweren Bettdecke enden würde.
Ich steuerte auf die Tür von Großvaters Zimmer zu. Sie war angelehnt und ich konnte ihn leise atmen hören. Während ich überlegte, ob er wohl schlief und ob ich ihn wecken würde, wenn ich ihn besuchte, hörte er auf zu atmen. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was passiert war. Großvater war alleine gestorben, während Mutter und Tante Eva nur ein paar Türen weit entfernt stritten.
Ich linste durch den Türspalt und sah Großvater auf seinem Bett liegen, den Blick starr an die Zimmerdecke geheftet. Dann lebt er ja doch noch, dachte ich. Doch mir fiel ein, dass Tote manchmal auch die Augen geöffnet haben. Zumindest hatte ich davon gehört, dass man sie ihnen manchmal schließen muss.
Um endgültig Klarheit zu bekommen schritt ich auf das Bett zu. Er sah aus, als dächte er nach. Ich stupste ihn, er rührte sich nicht. Ich legte meine Hand auf seine Stirn und strich über seine Augen, aber sie blieben geöffnet. Ich versuchte es erneut, nur langsamer und mit mehr Druck. Ich hatte Erfolg. Ein Auge schloss sich zur Hälfte. Ich kletterte auf das Bett um mit beiden Händen die Augen zu bedecken, wobei ich Großvaters Kopf ein wenig in sein Kissen drückte. Er schnappte nach Luft und ich fiel beinahe vom Bett.
Als er mich sah, strahlte er mich an.
„Samuel“, sagte er. „Wie schön, dass du mich besuchst. Was es wohl zu Essen gibt?“
„Semmelauflauf.“ sagte ich.
„Natürlich. Und danach gehen wir über die Felder.“
„Klasse! Und du erzählst mir eine neue Geschichte von Long John Silver.“ Ich strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht.
„Getrommelt sei’s und gepfiffen, du galliger Spross eines Quallenegels!“ lächelte Großvater.
„Na warte, du parasitärer Schellfischschleimer!“ lautete meine Antwort. Ich riss die Hände nach oben und ließ sie in Großvaters Rippen fahren. Er begann zu kichern und zu keuchen. Ich ließ ihn kurz zu Atem kommen, um ihn durch einen erneuten Überfall zur Aufgabe zu zwingen. Er lachte und bäumte sich auf. Dann sank er mit geschlossenen Augen zurück in die Federn. Ich versuchte ihn weiter zu kitzeln, aber diesmal rührte er sich gar nicht mehr.
Ich stieg vom Bett und ging zurück zum Wohnzimmer. Mutter und Tante Eva diskutierten immer noch. Ich öffnete die Tür und streckte den Kopf durch den Spalt. Mutter sah mich, blickte auf die Uhr, stand auf, kam auf mich zu und nahm mich bei der Hand.
„Es ist schon spät, Samuel. Ab in die Falle!“
Auf Großvaters Beerdigung trug ich meinen Anzug zum zweiten Mal. Jetzt passte er mir schon viel besser. Am Hals war er sogar fast ein bisschen eng. Tante Eva erschein nur zu der Beisetzung. Danach habe ich sie nie wieder gesehen.