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Gut dosierte Träume
Draußen
Kern hatte gesagt, das Licht draußen sei anders. Und es stimmte. Marc war davon überzeugt, dass es das Licht war, was die Farben hier irgendwie intensivierte. Alles erinnerte an amerikanische Filme. Exotisch und verlockend wie die junge Frau in ihrem mohnroten Kleid, die gerade die Straße überquerte. Als sie ihren Kopf zur Seite warf, um - ein wenig affektiert - auf den Verkehr zu achten, wehte ihr Haar in einem perfekten Braun, einem Schwarzkopf- oder Poly-wie-auch-immer-Braun. Er stellte sich vor, wie er ihr Kleid anhob - sie gleich hier an die Hauswand drückte - und sie mit ihm und seinem Schwanz bekannt machte. Marc grinste, dann bemerkte er eine Veränderung. Alles verblasste wieder, als Ana ausstieg. Der Ledergriff seines Koffers ächzte. Er blickte über die Schulter zum Wachmann hin, ein langweiliger Typ namens Schmidt oder Schmitz, er kannte ihn kaum. Schmidt oder Schmitz gaffte in ihre Richtung und Marc wusste, sie war wirklich gekommen. Blonde Strähnen peitschten ihr ins Gesicht. Sie bewachte es mit einer Hand und lächelte. Er trat zu ihr. Seine Kopfhaut juckte und seine Brauen. Vor allem sie juckten immer, wenn er nervös wurde.
»Du hast dich gut gehalten«, sagte sie. Eines ihrer Muttermale versank in einem Grübchen.
»Wenn du das sagst.«
»Schön dich zu sehen, Marc.« Sie hielt seine Wange einen Moment - die Finger waren kalt und klamm. Dann stierte sie nach oben. Er folgte, bis zu dem blauen Streifen, am sonst trüben Himmel, erkannte, wie ihre Augen glänzten.
»Steig ein, okay?« Ihre Stimme brach.
»Ich ...«
»Steig ein«, wiederholte sie leise.
»Klar.« Er witterte einen Duft nach süßen Zitronen, den der Wind von ihr wegriss. Den Koffer legte er auf die Rückbank. Die Tür quietschte, als er sie hinter sich zuschlug. Der Motor sprang an und Ana trat aufs Gas. Er klappte die Sonnenschutzblende runter und blickte - durch den Kosmetikspiegel - zurück, bemerkte, dass seine Lippen Justizvollzugsanstalt formten. Er klappte die Blende wieder hoch. »Wo fährst du hin?«
»Erst mal weg von hier. Zu mir.«
»Und wo ist das?«
»Stübenfeld, Ecke Sand.«
Er kratzte jetzt die Brauen, dachte an die schicke Maisonette, in der sie zusammen gewohnt hatten. Früher. »Wohnst du alleine?«
Sie kramte eine Zigarette aus der Jacke. Er beobachtete sie dabei.
»Willst du auch eine?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf, trommelte die Taschen nach einem Feuerzeug ab. Sie brachte die Pall Mall zum Glühen und nahm einen tiefen Zug.
»Ja, ich wohne alleine.« Rauch quoll aus ihrem Mund, was die Worte beinahe sichtbar machte, oder verschleierte.
Marc sah aus dem Beifahrerfenster, wie die Braunhaarige von einem Typ mit Baseballkappe angesprochen wurde. Sie drehte sich um und brüllte ihn an, schmiss die Hände hoch, als werfe sie Konfetti in die Luft.
»Was ist aus der Maisonette geworden?«, fragte Marc.
»Tja ..., was glaubst du denn?«
»Zu teuer.«
»Ja, von Anfang an, mittlerweile unbezahlbar.«
Er schloss die Augen, atmete geräuschvoll ein. »Kann ich doch eine haben?«
Wieder ein Grübchen, als sie ihm die Packung in den Schoß warf.
Drinnen
»Du musst lernen, Träume nur in kleinen Dosen zuzulassen.«
»Was meinst du damit?« Das Foto klappte wie von selbst zusammen. Marc steckte es wieder ein, achtete nicht auf die Falz, welche das Bild wie eine weiße Trennlinie durchschnitt. Erst später, Monate später, sollte er versuchen, es wieder glatt zu streichen. Aber es gelang nicht. Der Papiergraben zwischen ihm und Ana blieb so lange bestehen, bis er einriss und Marc das Foto mit nassen Augen die Toilette runterspülte.
»Na ja, wie ich es gesagt habe. Weißt du ...«, Kern putzte sich mit einem Stofftaschentuch die Nase, die fadenscheinigen Karos darauf waren kaum mehr als solche zu erkennen. »Träume sind wie Drogen. Machen alles ein wenig erträglicher. Richtig eingesetzt lassen sie einen manchmal sogar klarer sehen, aber wenn man es übertreibt, Alter! Wenn du süchtig wirst ...«
»Alter?« Marc musste lachen.
»Sagt man das nicht so?«
»Also, ich nicht.«
Kern grinste ihn schief an. »Jedenfalls, hier drin musst du auf Entzug. Träume können einen Mann schon draußen fertigmachen, hier drinnen ...?« Er pfiff.
»Mann, ich weiß nicht. Träume sind Drogen?« Marc schüttelte lächelnd den Kopf.
»Ja, und zwar die schönsten und schlimmsten und sie sind überall und locken wie das Gift, das in den Auslagen, an jeder Kasse, in jedem Supermarkt, liegt. Mit ihnen verdient man die meiste Kohle. Mit ihnen betreibt man den größten Beschiss. Mit ihnen lügt man, bis man selbst daran glaubt. Denk' mal darüber nach.«
»Mach ich, versprochen.« Er sah einen Wärter auf die Uhr blicken. »Komm«, er klopfte Kern aufs Schulterblatt, »die Stunde ist gleich um. Sieht sowieso nach Regen aus, wir müssen gleich rein.«
»Das Licht verändert sich, wenn es anfängt.«
»Was?«
»Das Licht, Mann. Wenn man high wird. Die Farben auch.«
»Alter«, sagte Marc.
Kern starrte ihn ausdruckslos an.
»Du hast Alter vergessen. Hier hätte es wunderbar gepasst.«
»Leck mich, Jungspund. Du wirst schon sehen.« Sie lachten und bewegten sich Richtung Tor. »Draußen werden alle süchtig«, sagte Kern.
»Na dann ist ja gut, dass wir hier festsitzen, hm?«
»Ja, vielleicht, wenn man clean ist.«
Draußen
Der Sex war gut. Marc hatte befürchtet, es ginge zu schnell, nach all den Jahren. Aber die Zügel entglitten ihm nicht. Er achtete auf ihre Signale wie ein Kapitän auf Leuchtfeuer. Und er kannte sie, erkannte sie, erinnerte sich. Das Parfum war neu, aber die Frau war es nicht.
Er musste eingeschlafen sein, und als er aufwachte, sah sie zur Decke empor. »Gab es jemanden?«, fragte er, ein wenig erschrocken darüber, gefragt zu haben.
Ana richtete sich etwas auf.
»Sag's mir.«
Sie beschwor ein Lächeln wie auf einem Ölgemälde. Er betrachtete es einen Moment, dann ohrfeigte er es ihr aus dem Gesicht. Er musste es einfach kaputtmachen, auch wenn ihm so war, als wenn er sich selbst geschlagen hätte. »Kenn ich ihn?!«
»Nein! Und es ist aus.« Sie stierte wieder nach oben. »Wir hatten einen Deal, weißt du das nicht mehr?«
Marc sah dünne Lippen, zuvor wirkten sie noch wie aufgespritzt.
»Ja, ja.« Er rollte weg von ihr und ging ins Bad. »Keine Fragen, hast recht.« Er knipste die Lampe an, schmetterte sie an.
»Erik will dich sehen«, rief sie hinterher.
»Hat er mit dir gesprochen?«
»Natürlich, was glaubst du denn?«
»Wann?«
»Keine Ahnung, letzte Woch...«
»Wann?!« Ein Zahnputzbecher fiel klappernd zu Boden, seine Fäuste zitterten. Marc fixierte ein halbes Dutzend Parfumflakons, bereit, sie jeden Moment von der Ablage zu fegen.
»Dienstag! Es war Dienstag!«, schrie sie. »Gottverflucht! Scheißdienstag, okay? Ist das so wichtig?«
Sein Spiegelbild glotzte ihn an. Da waren Falten, die sich tief reinfraßen. Das Gesicht eines Mannes, der nicht mehr sagen sollte: Schau’n wir mal oder Mal sehen, was kommt. Es war das Gesicht eines ramponierten Mannes. »Tut mir leid«, sagte er. Er trat zur Tür, betrachtete Ana. Sie schien noch immer von der Decke gebannt zu sein. Ein Tropfen blitzte auf und zog eine metallen schimmernde Bahn, vom Augenwinkel bis zur dunklen Vertiefung ihres Ohrs. »Ich ...«
»Ist schon okay«, sagte sie. Ihre Stimme bebte, aber sie hielt.
*
Es stank nach Pisse vor dem Haus. Stübenfeld war Hauptstraße, Kneipe und Hairkiller. Viele Fassaden wirkten schwarz wie Raucherlungen. Linie 7, Richtung Zentrum, kam quietschend zum Stehen. Ein Schirm versperrte den Weg. Marc wich aus und erwischte sie im letzten Moment. Die Straßenbahn war vollgestopft wie Saumagen, die Fenster angelaufen. Man konnte nicht hindurchsehen, musste auf Füße schauen, um Distanz zu wahren. Er heftete den Blick an zerschlissene Pumas, rieb sich die Braue und hielt die Luft an.
Erik öffnete die Tür, zeigte erst auf das rechte, dann das linke Auge. Er nahm Marc in die Arme, die nasse Jacke schien ihn nicht zu stören. Es war, als würde man in Daunen gedrückt, die frisch bezogen in einem Hotelzimmer gelegen hatten.
Erik wischte über sein klammes Hemd. »Mann, Mann, Mann«, sagte er.
»Ja, ist lange her.«
»Scheiße, ich kann's nicht fassen, Marc. Komm rein.« Er schwang die Arme wie ein Kellner, der zu einem freien Platz lud. »Bitte.«
»Du hast neue Fotografien.« Marc musterte die Leinwand vor sich. Eine Frau mit einem ausladenden Hut, die beinahe schwarz, über eine tiefschwarze Brücke zu gehen schien.
Erik hob die Schultern, zeigte diese Was-will-man-machen-Geste.
Auch wenn es aussah, als schmelze der Himmel und klatsche herab, die Aussicht war eindrucksvoll. Der Dom zur Linken, der Römerbrunnen rechts und im Hintergrund flankierten kleegrüne Hügel das Bild.
»Setz' dich, Marc. Willst du was trinken?«
»Nein, danke.«
Erik nahm Platz und faltete die Hände, die Augen zu Schlitzen verengt. »Wie geht es dir?«
»Ich bin draußen. Ana hat mich abgeholt.«
Schwarzes Haar löste sich und wippte. Erik strich es wieder nach hinten. »Und Ana?«
»Für sie war's hart. Ich wohne bei ihr. Sie hat gewartet.«
»Ja, Mann, ist 'ne tolle Frau.« Eine Pause entstand. »Warte einen Moment, ja?« Erik stand auf und verschwand in einem der anderen Zimmer. »Deshalb bist du doch gekommen?« Er legte einen zerbeulten Umschlag auf den Tisch, bevor er wieder seufzend Platz nahm. »Deine Kohle und was obendrauf. Gut?«
Marc untersuchte den Inhalt, fuhr mit dem Finger - wie mit einem Glätteisen - über die Braue.
»Nicht gut?«
»Doch, doch. Ich meine ...«
»Hey, hast die Schnauze gehalten. Weiß ich, Mann, weiß ich.« Er beugte sich vor, tätschelte Marcs Oberarm. »Ich hab' deinen Anwalt bezahlt! Das weißt du. Der war nicht billig, glaub' mir. Aber mehr ist nicht drin, wenn es das ist.«
Eine Pause entstand. Marc schnaubte.
»Hör zu: Bist frisch raus und so, klar, aber ... ich hätte was für dich.« Er legte den Kopf schief. »Lohnenswert, Mann! Insider on board.«
»Scheiße Erik, das Geld hier ...«
»Wird nicht ewig reichen.«
»Nein.«
»Ich sag das auch nur, weil du es bist, klar?«
»Ja, ist klar, aber ...« Marc verzog das Gesicht, als wenn er unter Zahnschmerzen litt.
»Hey, macht’s ein anderer. Ich verstehe das. Deine Entscheidung!«
Marc sah aus dem Fenster. Es goss nicht mehr, nieselte nur noch. Er glaubte, einen Regenbogen gesehen zu haben, nur ganz kurz. Dann dachte er an Kern und grinste. »Danke Erik, ohne mich.« Marc erhob sich. »Ich muss gehen, verstehst du?«
»Zwei Tage«, sagte Erik, stand ebenfalls auf und schlug Marc mit der flachen Hand auf den Oberarm, »dann muss ich’s definitiv wissen. Wenn du dich nicht bei mir meldest ...« Er zuckte mit den Schultern.
»Okay, danke.«
Marc wollte gerade die Tür hinter sich schließen, als er Erik sagen hörte: »Grüß' Ana von mir, ja?« Marc zögerte, ihr Name brannte ihm mit einem Mal ein Loch in den Bauch. Dann zog er die Schlossfalle in die Zarge. Es klackte beinahe so wie im Knast.
Drinnen
»Wie, du kommst raus?«
»Auf Bewährung«, sagte Kern.
»Und das erzählst du mir erst jetzt?«
»Ich hab’s eben erfahren.«
Marc schüttelte den Kopf. »Ich freue mich für dich, ehrlich. Fünfzehn Jahre!«
»Fünfzehn.«
»Mann!«
»Will ich meinen.«
Sie sprachen erst nicht weiter darüber. Kern schien es so zu wollen. Er musste in die Schlosserei und Marc schob Dienst in der Knastlackiererei. 20 Fensterläden in Tomatenrot wünschte der Kunde. Stückpreis - pauschal - 40 Euro, egal wie viele Streben erneuert, egal wie viele Lackschichten aufgetragen werden mussten. Marc und Kollegen verdienten je acht Euro pro Arbeitstag. Aber niemand beschwerte sich - zumindest bekam Marc nichts davon mit. Schließlich konnte man Zigaretten dafür kaufen.
»Hier.« Kern reichte ihm eine Visitenkarte, die aussah wie zerbeultes Blech. Kern - Ideen muss Mann haben - Schlosserei und Stahlbau, stand darauf. »Mein Bruder«, sagte er. »Wir waren Partner«, er lachte, »Kern und Kern stand einmal darauf.« Er nickte zur Karte hin. »Ist ein feiner kleiner Betrieb. Volle Auftragsbücher. Ich werde wieder mit einsteigen und du, Marc, kannst das auch, wenn du willst.«
Marc sah ihn fragend an.
»Bekommst sofort Arbeit von mir, wenn du raus bist, verstanden? Wir können immer jemanden wie dich gebrauchen.«
»Hey ...«
»Nichts da hey, ich mein' das so. Ich stehe zu meinem Wort und mein kleiner Bruder ist ein feiner Kerl, war immer für mich da.«
»Ach, war er das, der dich besucht hat, das letzte Mal?«
»Nein, das war mein Schwager.«
Draußen
»Erinnerst du dich noch an den Kellner? Der Geschmalzte mit dem Goldbarren an der Kette.«
»Der dir schöne Augen gemacht hat, meinst du?«
Ana lachte.
»Du wolltest unbedingt auf Spanisch bestellen und hast ihm irgendein Kauderwelsch aufgetischt, von wegen con gazol und prego und so.«
Ana packte seinen Arm und drückte. »Wie der dich hilfesuchend angeglotzt hat?« Sie prustete los, Marc stimmte mit ein.
Es war schön hier oben. Sie hatten früher oft auf dieser Bank gesessen, über der Stadt, über den Dingen und hatten gelacht und geküsst und gestritten manchmal auch. Sie hatten sogar Sex gehabt. So viele Erinnerungen, auch daran, dass er geglaubt hatte, alles könnte enden, alles, was zwischen ihnen war, könnte sterben, wenn er in den Bau gehen müsste. Und so war es auch gekommen. Er hatte dorthin gemusst und es war etwas gestorben zwischen ihnen, auch, wenn sie noch da war, auch, wenn sie zusammen hier saßen und wieder lachten und feixten und sich vielleicht küssten. Er wusste es. Auch, wenn er es nicht wahrhaben wollte.
»Glaubst du, es kann wieder so sein wie früher?«, fragte er.
»Nein.«
»Wieso nicht?«
»Es ist viel passiert, oder? Und wir sind älter geworden. Und wenn man älter wird, tja, dann ändert sich eben alles.«
»Die Erinnerungen sind geblieben.«
»Die spiegeln nur, was einmal war.«
»Vielleicht reicht das ja aus«, sagte Marc.
»Ja, vielleicht.« Ana schmiegte sich an seinen Oberarm und knetete ihn.
Marc beugte sich zu ihr, küsste ihre Haare, roch den Kiefernduft des Shampoos, das sie benutzt hatte, und strich ihr zärtlich übers Ohr. »Das hier, ich meine, du und ich, hier, das ist kein Spiegelbild. Das ist echt und ich will mehr davon, Ana.«
Sie drückte seinen Arm noch fester. Es machte beinahe etwas weh.
*
»Hallo, ich komme, weil mich Kern, Herr Kern bestellt hat.«
»Das wüsste ich.«
»Ach so, entschuldigen Sie bitte,« Marc streckte eine Hand aus, die der andere nicht ergriff, »Konndorf, Marc Konndorf. Ihr Bruder Manfred ..., wir waren zusammen, na ja, Sie wissen schon. Ich solle mich bei ihm melden, wenn ich draußen bin.« Seine Hand schwitzte, legte sich auf den Oberschenkel.
»Hören Sie, wenn mein Bruder Sie geschickt hat, verpissen Sie sich wieder, okay.«
»Aber ...«
»Haben Sie mich nicht verstanden?« Gute zwei Zentner schossen hoch wie eine Sprungfeder. »Mein Bruder ist ein Arschloch und die Freunde meines Bruders sind es in meinen Augen auch. Haben Sie jetzt verstanden. Machen Sie endlich, dass Sie Land gewinnen!«
»Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«
Der Mann ließ den Kopf hängen, neigte ihn zur Seite und lächelte resigniert, als könne er so viel Dummheit nicht glauben.
»Okay, fragen Sie meine Schwester, vielleicht will sie ihnen helfen. Und jetzt verzieh dich, sonst gibts aufs Maul!«
»Könnten Sie mir ihre Nummer ...?« Marc beobachtete den Mann genau, sah, wie sich seine Hände ballten, registrierte aber auch, dass sie sich wieder entspannten. Er schien sich unter Kontrolle zu haben.
»Bettina Wallhäuser, Flensburg. Sie steht im Telefonbuch.«
»Danke.«
»Gar nicht gern geschehen.«
Er erreichte die Schwester Bettina Wallhäuser aus Flensburg 45 Minuten später. Ihre Telefonstimme klang rauchgeschwängert. Sie wisse nicht, wo ihr Bruder sei. Er habe sich mit Manfred gestritten, wollte sie besuchen kommen, das habe er aber schon vor vier Monaten gesagt. Das mit Manfred habe sie sich schon gedacht. Die hätten sich nie verstanden gehabt, schon damals nicht, als sie den Betrieb zusammen aufgemacht hatten, eigentlich, wenn sie es recht bedenke, schon nicht, als sie noch Kinder waren.
Marc bedankte sich, hinterließ Anas Adresse und legte auf. Es roch, wie Telefonzellen schon früher rochen. Muffig, irgendwie typisch.
*
»Würdest du immer noch mitkommen?«
»Wohin? Menorca?« Ana schnaubte.
»Klar, oder anderswo hin. Ganz egal.«
»Lass es.«
»Nein, ich mein' das ernst. Wir könnten ...«
»Lass es! Hörst du dich eigentlich selbst? Ich will so eine Scheiße nicht mehr hören, okay?!«
Marc schob seinen Teller beiseite, Suppe schwappte auf den Holztisch. »Ana ...«, setzte er an, doch sie schrie, ihr Löffel fiel klirrend runter. Marc zuckte zusammen. »Uns ging's gut!«, sagte sie, »Schöne Wohnung, du hattest noch Arbeit und das, was du nebenher verdient hast ... hat doch gereicht, oder nicht? Waren wir nicht glücklich? Doch du wolltest mehr, mit der Scheiße aufräumen. Pah! Scheiß-Land, Scheiß-Arbeit, Scheiß-Erik, alles Scheiße und was hat’s dir gebracht, das eine große Ding? Hm? Uns beiden gebracht?«
»Ana ...«
»Ich-will-es-nicht-hören!«
»Okay.«
Sie schob quietschend den Stuhl zurück und sprang auf. Ihre Zunge wölbte die Unterlippe vor. Es sah aus, als wenn sie dort eines der Markklößchen versteckt hätte. Sie stemmte die Hände in die Hüften und schritt zum Fenster. Marc folgte ihr.
Er sah über ihre Schulter nach unten. Es dämmerte, Autolichter pulsierten rot und weiß im Ampeltakt. Blaulicht und Sirene sorgten für Abwechslung. Marc legte sein Kinn auf ihre harte Schulter. »Mit dem, was ich auf der Seite habe und was ich bei dem Job einfahren könnte ...«
»Du hast nochmal mit Erik gesprochen?«
»Ja«, gab er zu. »Wir waren Kaffeetrinken im Golden Globe.«
Ana schüttelte den Kopf. »Nicht zu fassen.«
»Es ist nicht wie beim letzten Mal. Ich glaube wirklich, dass es kein Problem wäre. Fast ohne Risiko. Denk' doch mal, du müsstest nicht für ein paar Groschen für andere Kellnern, sondern für deinen eigenen Schuppen. Letztendlich könnte unser Traum doch noch wahr werden. Ein allerletztes Mal, ein allerletztes Ding.«
»Kein Risiko? Wer sagt das? Erik?« Sie wischte sein Kinn von ihrer Schulter und drehte sich um. »Und du vertraust ihm?« Ihre Stimme wurde tiefer, als spräche sie zu einem Kind. »Lass dir gesagt sein: Dein Erik ist ein Arschloch! Ich weiß, dass er eins ist! Glaub' mir!«
»Wie meinst du das?«
»Vergiss es!«
Das Loch in seinem Bauch tat sich wieder auf.
»Ich werde nicht mehr warten, Marc. Dieses Mal nicht.«
*
Marc schwenkte den Tullamore Dew und beobachtete die Schlieren, die er zog. Nur ein Glas, mehr nicht. Er dachte an Ana, die jetzt Bestellungen aufnahm; dabei lächelte - ihre Rolle im Schauspiel des Kellnerns spielte. Vorgeben, nicht zu merken, dass einem nachgestiert wurde, womöglich so tun, als wäre man geschmeichelt - vielleicht irgendeinen Penner zurechtweisen, der gegrapscht hatte, freundlich aber bestimmt. Er trank den golden schimmernden Whiskey in einem Zug, das Eis klackerte angenehm, er spürte, wie das Loch im Bauch brannte, dann griff er zum Telefon. Er lehnte den Rücken an, der Sessel stöhnte. 97348, 97348, murmelte er beinahe tonlos, als beschwöre er etwas. Der Daumen zeichnete die Kombination knapp über der Tastatur nach. Marc sprang auf, suchte seine Geldbörse, fluchte und spürte sie schließlich in der Brusttasche seines Sakkos auf. Der kleine Zettel steckte zwischen einem Fünfziger und Zwanziger. Er rieb die Brauen und las, was er notiert hatte: Erik, 97348. Marc setzte sich wieder, legte die Notiz gut sichtbar auf die Armlehne, schenkte Whiskey nach und wählte. Hörte das Freizeichen und hielt den Daumen knapp über der Taste, mit dem roten Telefon darauf.