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Höhenangst
Die Wiese unter mir entfernt sich langsam. Das Gelände wird steiler, steiniger. Ich klammere mich an den Sitz des Sessellifts. Auf dem Platz neben mir mein Gepäck, ein riesiger schwarzer Sack. Er ist so groß, dass sich der Haltebügel nicht ganz schließen lässt. Wenn ich die Fußstütze mit den Füßen nach unten drücke, ist er fast zu, wippt aber bei jeder Erschütterung gefährlich.
Ich schaue nach unten. Der Abstand ist größer geworden. Felsen tauchen auf. Sie sind spitz, mein Sitz hängt weit über ihnen. Gelegentlich tun sich Abgründe auf. Meine Hände verkrampfen sich, die Knöchel stechen weiß hervor, mein Bauch kribbelt.
„Jeder fährt Sessellift“, denke ich, „es gibt tausende von den Dingern und dass jemand herausfällt, hört man so gut wie nie.“ Ich versuche, mich zu entspannen. Für ein paar Sekunden gelingt es. Dann holpert die Gondel über die Rollen einer Stütze. Wieder wird mir flau im Magen. Ich umfasse den Sicherheitsbügel noch fester.
In einer der hinabfahrenden Gondeln kommt mir ein Vater mit seinem vielleicht zweijährigen Sohn entgegen. Das Kind steht auf der Sitzfläche, auf den wackligen Bügel gestützt und wippt mit den Füßen. In meinem inneren Film stürzt es zwanzig Meter tief zu Boden. Ich möchte schreien. Der Vater lächelt mir freundlich zu.
Eine halbe Stunde später stehe ich oben auf dem Berg, vor mir ein steil abfallender Hang. Ich starre hinunter. Meine Hände sind schweißnass, die Knie aus Pudding, ich muss leichenblass sein. Der Hang ist holprig, voller Kuhfladen und mit Steinen übersät. „Ich werde mir die Füße brechen, wenn ich hinunterlaufe“, denke ich. „Und das ist der gute Ausgang.“
Markus sieht mich von oben bis unten an. Prüft meine Ausstattung.
Die Windfahne zeigt fast keinen Wind.
"OK, Kerstin“, sagt er und lächelt mir aufmunternd zu. Ich nehme meinen Mut zusammen. Renne los, den steilen, holprigen Hang hinunter. 35 Quadratmeter Stoff halten mich zurück, zu Beginn komme ich kaum voran. Mit den Leinen bewegen sich meine Hände langsam nach oben. Der Widerstand lässt nach. Hände etwas anziehen, etwa auf Schulterhöhe, so habe ich es gelernt. Weiterlaufen. Meine Füße berühren gerade noch den Boden. Der nächste Schritt berührt nur noch Luft. Noch ein paar Schritte, warten. Ich ziehe die Beine an. Lasse mich nach hinten gleiten, in einen bequemen Sitz.
Ich fliege. Der Gleitschirm trägt mich, ich schwebe weit, weit über dem Boden, steige sogar noch etwas höher. Um mich herum sehe ich nun die Alpen, weit unten ein breites Tal, etwas rechts einen kleinen See. Die Landschaft ist wunderschön. Mit einem Mal bin ich ruhig.
Die Angst ist verschwunden.