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Hallo und Lebwohl

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02.01.2002
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Hallo und Lebwohl

Noch bevor die Frauenärztin ihren Mund öffnete, wusste Anja bereits Bescheid.

"Ich bin wirklich schwanger, ja?"

Die Ärztin seufzte.

"Normalerweise gratuliere ich meinen Patientinnen bei dieser Nachricht. Bei Ihnen jedoch ..." Sie zögerte. "Sie gehen noch zur Schule?", fragte sie dann.
Anja nickte. "Zwölfte Klasse", hauchte sie. Im Blick der Ärztin lag Mitgefühl.
"Ist der Vater informiert?"
Das Mädchen verneinte.
"Wir haben uns vor kurzem getrennt." Ihre Lippen begannen zu beben. Mit erstickter Stimme sprach sie weiter. "Er ... er ahnt nichts davon, ich muss es ihm noch sagen."
"Was ist mit Ihren Eltern?"
Anja schluckte. "Die ... die sollen erstmal nichts davon erfahren", flüsterte sie.

Die Gynäkologin seufzte abermals.

"Ich gebe Ihnen diese Info-Materialien mit. Bitte lesen Sie sie aufmerksam durch. Dort finden Sie auch weitere Adressen und Anlaufstellen. Wenn Sie Fragen haben oder wissen ob Sie abtreiben lassen wollen oder nicht, rufen Sie mich an und machen Sie einen Termin aus." Erstmals in dieser Sitzung lächelte sie. "Ich wünsche Ihnen alles Gute."

*

Noch eine Minute
Das ist schon das fünfte Mal, dass ich mir das denke, dachte Anja verdrossen. Mehrmals bereits hatte sie den Finger zum Klingelknopf erhoben, doch jedes Mal hatte sie kurz vor der Berührung der Mut verlassen.
Vielleicht ist Florian sowieso nicht da. Klingel einfach und wenn er nicht aufmacht gehst du sofort wieder.

"Okay, das mache ich", sagte Anja zu sich selbst. Aber ihr Finger rührte sich nicht.

"Kann ich Ihnen helfen, junge Frau?"

Die unangenehme Stimme ließ das Mädchen zusammenfahren.

"Neinein, ich muss hier nur mal eben rein", stotterte sie mit hochrotem Kopf, als sie endlich auf die Klingel drückte. Der alte Mann hinter dem Nachbarzaun beobachtete sie noch kurz und zog sich dann wieder in sein Haus zurück.
Anjas Herz klopfte zum Zerspringen. Worauf sollte sie hoffen - dass Florian nicht zuhause war? Aber um eine Aussprache kam sie dadurch nicht herum. Sie musste mit ihm reden, er musste erfahren was geschehen war, er musste...-
Die Tür öffnete sich.

"Anja ..." Der Junge räusperte sich.

Ja, ich. Enttäuscht, wie?
Laut sagte das Mädchen jedoch: "Hi Flori ... Florian. Tut mir Leid, dass ich so vorbeischneie, aber ich muss dich mal kurz sprechen."

Florian runzelte die Stirn.

"Das kommt etwas überraschend jetzt", antwortete er gedehnt.
Anja blickte ihm geradewegs in die Augen.
"Bitte."

Florian zuckte die Achseln.
"Na schön. Komm rein."

*

Florian goss zwei Gläser Saft ein.

"Jetzt sag aber mal, was los ist", forderte er. Während er trank, schaute er auf seine Armbanduhr. Das Mädchen atmete tief durch.

"Es ist etwas passiert, worüber ich mit dir sprechen muss, es ... " Anja wurde schwindelig. Die Küche, der Stuhl, alles schien sich zu drehen.
"Ich bin schwanger!", presste sie schließlich hervor.

Florian verschluckte sich und hustete. Er starrte das Mädchen an.
"Du bist was?"

"Ich bin schwanger", wiederholte Anja mit leiser, aber fester Stimme. "Von dir", ergänzte sie hastig.

Ein paar Sekunden lang rührte Florian sich nicht. Dann jedoch sprang er auf und tigerte in der Küche umher. Immer wieder schüttelte er den Kopf und fixierte dabei den Boden. Seine Finger krampften sich ineinander. Anja schwieg und wartete. Endlich stoppte Florian. Er verharrte einen Moment lang vor dem Fenster und drehte sich dann zu dem Mädchen um.
"Wann hast du es erfahren?"

"Ich war erst gestern bei der Ärztin. Sie hat meinen Test von Montag bestätigt." Sie machte eine kurze Pause. "Meine Eltern wissen noch nichts."

Beide schwiegen. In Florians Kopf schien es zu arbeiteten.

"Anja", begann er dann. Seine Stimme klang seltsam dunkel. Er setzte an um weiterzusprechen und brach ab. Florian schloss seine Augen und holte Luft.
"Anja, wir müssen darüber sprechen, was wir jetzt machen."

Dem Mädchen lief ein Schauer über den Rücken.

"Was wir jetzt machen?", wiederholte sie tonlos. Florian nickte. "Anja, wir wissen beide, was für eine verdammt bescheuerte Lage das ist. Schlimmer könnte es gar nicht kommen! - Am besten ist, du machst schnell wieder einen Termin mit der Frauenärztin aus. Wenn du möchtest, dann ..." Er kämpfte mit sich. "... dann komme ich mit."

*

Als Anja aus Florians Garten trat, wirbelten ihre Gedanken umher. Was hatte sie sich von ihrem Ex-Freund erwartet? Dass er sie freudestrahlend in den Arm nehmen und Kinderlieder mit ihr singen würde? Sie schluchzte. Wie konnte sie nur so etwas denken, wo sie doch selbst keine Sekunde daran geglaubt hatte, das Kind zu kriegen?
Sie beschleunigte ihren Schritt.

*

Wenn der männliche Samen auf die Eizelle trifft und beide miteinander verschmelzen, entsteht die erste Zelle Ihres Babys: die Zygote. Sie enthält bereits alle Anlagen Ihres Kindes: die Augenfarbe, die Länge der Nase, die Größe der Füße und das Geschlecht!

Anja blätterte durch den Schwangerschaftskalender, den ihr die Ärztin mitgegeben hatte. Die meisten Informationen kannte sie natürlich schon aus dem Biologieunterricht, aber sie hielt es trotzdem für ihre Pflicht, die Seiten wenigstens einmal überflogen zu haben.

In der sechsten Woche ist Ihr Baby ungefähr sechs Millimeter groß und hat das Aussehen einer kleinen Bohne. Sein Wachstum ist rasant: Innerhalb einer Woche verdoppelt es seine Größe. Wesentliche Organe entwickeln sich bereits: Das Herz schlägt kräftig, Leber, Magen, Darm und Eingeweide formen sich, der Grundstein für das Gehirn wird gelegt, das Rückenmark ist vorhanden. Und: Arme und Beine zeigen sich als feine Gliederknospen!

Unwillkürlich bewegte sich Anjas Hand zu ihrem Bauch. Doch er war flach wie immer und das einzige, was sie in ihrem Körper spürte, waren Atmung und Herzschlag.
Die Vorstellung, dass sich in wenigen Wochen schon ein richtiges Lebewesen in ihr entwickeln könnte, verwirrte sie. Und obwohl sie sich albern dabei vorkam, fühlte sie auch ein kleines bisschen Stolz.
Wieviele Frauen gab es, die trotz wiederholter Versuche nicht schwanger wurden und daran verzweifelten? Die nie die Chance hatten, ein heranwachsendes Leben in sich zu spüren?
Diese Eingebung versetzte dem Mädchen gleichzeitig einen Stich.

Du wirst auch kein Leben in dir heranwachsen spüren. Noch bevor es dazu kommt, wirst du diesen Zustand beendet haben.

Anja wagte nicht zu widersprechen. Trotzdem ließ sie ihre Hand auf ihrem Bauch ruhen.
Sie las weiter:

Auch Schlafstörungen können auftreten und zu allem Überfluss plagen Sie Zweifel, ob Sie der neuen Situation gewachsen sind, ja, ob jene überhaupt erwünscht ist.

*

Das ist Wahnsinn, dachte sich Anja abends beim Zähneputzen. Oder war es normal, dass sie darüber nachdachte, wie es wäre das Kind zu behalten?
Von Behalten kann noch gar keine Rede sein, wiegelte sie sofort ab, es ging ihr nur darum ihren Exfreund einmal mit dieser Möglichkeit zu konfrontieren.
Sie kam nicht umhin sich an die früheren Gespräche mit ihm zu erinnern, als sie einmal spaßeshalber eine solche Situation konstruiert hatten. Damals hatte Florian befürchtet, dass er es nie über das Herz bringen würde, sein Kind abtreiben zu lassen.

Damals wart Ihr aber auch noch zusammen, stichelte es in ihrem Kopf.

Ja, damals waren wir noch zusammen. Damals war alles anders.
Anja spülte den Mund aus und löschte das Licht.

*

Anja schluckte, als sich die Sprechstundenhilfe näherte.
"Frau Doktor erwartet Sie bereits", sagte diese und das Mädchen folgte ihr.

Die Ärztin begrüßte sie herzlich und wies sie an sich zu setzen. Nach ein paar routinemäßigen Fragen über Anjas Gesundheitszustand und ihr Empfinden wurde sie ernst.
"Ich nehme an, Sie sind noch zu keiner endgültigen Entscheidung gekommen, oder?"

Anja räusperte sich.
"Sie haben Recht. Eigentlich war es zunächst keine Frage für mich, was geschehen würde, aber jetzt ..." Ihr Blick glitt ins Leere. "Jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll", flüsterte sie. Die Ärztin tätschelte ihre Hand auf dem Tisch.

"Das ist völlig normal. Eine Abtreibung ist eine schwerwiegende Entscheidung und fast jede Patientin plagt sich zuvor mit diesen Gedanken herum. Haben Sie Ihren Exfreund und ihre Eltern mittlerweile eingeweiht?"
"Nur Flori", murmelte Anja und gab der Frau einen kurzen Überblick über ihre Reaktion.
De Ärtzin betrachtete das Mädchen, das dort so verloren auf dem Stuhl vor ihr saß.
"Ich bin sicher, dass Sie das Richtige tun werden."

Anja bemühte sich das Lächeln zu erwidern, doch es gelang ihr nicht.

*

Zwischen der neunten und der zwölfte Woche findet gewöhnlich die erste Ultraschalluntersuchung statt. Das Baby ist zwischen 17 und 22 Millimeter groß, sein Kopf nimmt dabei den meisten Platz ein. Ungefähr ab dieser Zeit ist festzustellen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt.

Junge oder Mädchen ... Anja lehnte sich an die Wand der Bushaltestelle. Eine Frau mit einem Kinderwagen hielt neben ihr. Ohne es zu wollen drehte sich Anjas Kopf langsam nach links. Zwischen dem hellblauem Plüsch erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf ein winziges Bündel, das sich ab und zu regte. Das Baby griff nach einem Bällchen das über seinem Kopf schwebte und quäkte.
"Na, was hast du denn, Kevin", sagte die junge Mutter und beugte sich über den Kinderwagen.
Junge oder Mädchen, dachte Anja, als sie ihre Hand auf den Bauch legte. Bestimmt ein Mädchen.


In der Nacht wälzte Anja sich lange hin und her. Bis in den späten Abend hinein hatte sie immer wieder in ihrem Kalender und in den Info-Materialien geblättert. Manche Abschnitte konnte sie bereits auswendig hersagen. Ihr Biologielehrer hätte sie sicher gelobt.
Anja warf sich auf die andere Seite. Hätte sie sich lieber mehr der Literatur über Abtreibungen widmen sollen? Würde es ihr dann leichter fallen, einen Termin auszumachen und es einfach durchzuziehen?
"Ach, verdammt", murmelte sie in ihr Kissen. Tränen liefen über ihr Gesicht und tränkten den dünnen Stoff. Ihr Kopf schmerzte. Ihre Augen brannten. Es würde eine lange Nacht werden.

*

Am nächsten Morgen hatte Anja keinen Appetit. Stattdessen fühlte sie sich müde und krank. Noch in der Nacht hatte sie einen Entschluss gefasst: Heute würde sie Florian sagen, dass sie vorerst nicht abtreiben würde. Zumindest nicht sofort.
Ihre Hand wanderte wieder zu ihrem Bauch, wo sie oft in den letzten Tagen verweilte.
Nicht sofort.
Mit einem Stechen in der Magengrube machte sie sich ein Marmeladenbrot zurecht. Missmutig kaute sie darauf herum.
Bald wirst du dich jeden Morgen übergeben müssen, höhnte die Stimme in ihr. Anja ignorierte sie.

*

Samantha war eigentlich ein schöner Name. Als Kind hatte sie sich oft gewünscht so zu heißen. "Sam" war eine witzige Abkürzung und als Ganzes wirkte es schon wieder edel.
Während sie die Straße zu Florians Haus entlanging, schossen ihr immer verrücktere Ideen durch den Kopf. Ob sie wohl wirklich Recht behalten und ein Mädchen zur Welt bringen würde? Eine kleine Samantha? Oder doch einen kleinen Flori? Sie schüttelte den Kopf. Selbst wenn es ein Junge wäre, Florian hätte es nicht verdient, der Namensgeber zu sein. Auch wenn er sich jetzt anders verhalten und sie unterstützen sollte - sie fühlte keine Liebe mehr für ihn. Aber sie würde einen guten Freund brauchen können.

Das Stechen in ihrem Magen wurde stärker. Ob Marmelade in der Schwangerschaft schädlich war? Das konnte doch nicht sein, wo man überall las, dass schwangere Frauen zu allen möglichen Nahrungsmitteln griffen und sich nicht zurückhalten sollten.
Mit der Hand massierte Anja sanft die schmerzende Stelle. Sollte die morgendliche Übelkeit etwa jetzt schon einsetzen?
Das Mädchen humpelte auf eine Bank zu, um sich einen Moment lang auszuruhen. Eine ältere Frau rutschte nur widerwillig beiseite.
Wenn man mir erstmal meine Schwangerschaft ansieht, dann macht mir jeder Platz, dachte Anja amüsiert. Ein heftiges Ziehen verwandelte ihr Lachen in ein Stöhnen. Hatte sie etwas Falsches gegessen?
Das Mädchen geriet ins Schwanken. Eine Schmerzwelle jagte durch ihren Körper, helle Lichter tanzten vor ihren Augen. Anja öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch nur ein Krächzen entrang ihrer Kehle. Undeutlich meinte sie Stimmen um sich zu hören.

"... schlecht? ... hinlegen ... Arzt!"

Kein Arzt, versuchte das Mädchen zu rufen, ich muss doch gleich zu Florian!
Eine Sekunde später kippte es von der Bank.

Blaulicht. Sirenen. Schritte. Stimmen. Türengeklapper. Schmerz.
Wo bringen Sie mich hin? wollte Anja fragen, aber sie brachte keinen Ton heraus. Ihre Lippen klebten aufeinander fest. Schemenhafte Gestalten rannten an ihr vorbei, gesichtslose Wesen in weißen Kitteln. Anja fühlte eine Nässe zwischen ihre Beinen.
Oh scheiße, ich muss mir in die Hose gemacht haben, war ihr letzter Gedanke, bevor sie das Bewusstsein verlor.

*

"Anja? Anja, können Sie mich hören?" Der Arzt beugte sich tief zu seiner Patientin hinunter.
"Wenn Sie mich verstehen können, geben Sie bitte ein Zeichen."

Anja hob die Hand. Verschwommen nahm sie die Infusionsnadel in ihrer Haut wahr.

Der Arzt lächelte und sprach ein paar tröstende Worte zu ihr. Anja fühlte, dass er es gut meinte, doch der Inhalt ging an ihr vorüber. Sie starrte zum Fenster hinaus.

Leb wohl, Samantha.

 

Hey chaos!

Das freut mich, dass Dir Dein Ausflug in meine Geschichtenliste gefallen hat. :-)
Normalerweise schriebe ich ja selten über solche ernsten Themen, deswegen war ich besonders unsicher ... umso schöner ist es dann, wenn das Ergebnis den Lesern zusagt.

Danke für's Lesen!

Ginny

 

Heute lese ich Ginny-Geschichten im Schnelldurchlauf *grins*

Mich hätte interessiert, was die Eltern gesagt haben. Schließlich wurden sie bestimmt benachrichtigt, wenn ihr Tochter mit nem Abgang im Krankenhaus liegt.

In dieser Geschichte habe ich mich nicht so "geborgen" gefühlt, wie in deinen anderen, die ich bis jetzt gelesen habe. Vielleicht liegt es daran, dass es um eine Person geht, bei der der Name bekannt ist. Wenn du in der Ich-Form schreibst, dann denke ich immer, dass DU das erzählst und erlebt hast. Ich will damit aber nicht sagen, dass die Geschichte schlecht ist! Sie ist einfach nur anders, und ich habe sie nicht mit DIR selbst erlebt, sondern mit Anja. Irgendwie ist diese Geschichte anders als das was ich bis jetzt von dir gelesen habe. Ich für meinen Teil gehe lieber mit dir auf eine "Reise" als mit einer anderen Person.

Bussi,
Krähe

 

Hallo Ginny,

als ich den Titel deiner Geschichte gelesen habe, habe ich mir gleich gedacht, dass es um eine ungewollte Schwangerschaft gehen würde, in der das Kind verloren oder abgetrieben wird. Trotzdem hat es mir Spass gemacht sie zu lesen. Besonders die lebhaften Dialoge haben mir gut gefallen.

Gruß,
Ellen

 

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