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Hamburg
Letzter Wagen, letzte Bank, letzter Halt vor Hamburg Hauptbahnhof. Sie bleibt sitzen, als alle anderen aussteigen, die schweigenden Passagiere, die sich den Rest der Strecke im Wagen gesammelt haben, fluten wie buntes, dreckiges Wasser auf den Bahnsteig. Es ist früh am Morgen, ein Dienstag, nur eine einzige Frau steigt ein, was will sie morgens um vier in einer U-Bahn, die nur ins Nirgendwo fährt?
„Zurückbleiben, bitte!“ Die Türen knallen krachend zu, die Bahn setzt sich ratternd in Bewegung, als würde sie jeden Moment aus den Schienen kippen.
Die junge Frau setzt sich ihr gegenüber hin, sie ist rosa und gelb. Ihr Hemd ist gelb, ihre Hose, ihre Lippen und ihre Augenlider sind zartrosa gefärbt. Ihr blondes Haar mit dunklen Spitzen – beinahe dieselbe Farbe wie das Haargummi, mit dem sie es am Hinterkopf zu einem unförmigen Zopf gebunden hat. Unwillkürlich wandern ihre Finger in ihr eigenes Haar, das frisch gewaschen ihr Gesicht umflauscht, und spielen mit den Strähnen.
Nächster Halt. Ein Mädchen schiebt einen riesigen Kinderwagen durch die offene Tür. Es könnte ihr Kind sein, oder ihr Geschwisterchen.
Das Kind beginnt zu schreien. Es weint nicht, sondern es brüllt, fordernd, unartikuliert. So, als würde es etwas wollen, aber die Worte dafür nicht kennen.
Ihre Augen wandern zurück zu der rosagelben Frau, zu ihrem mcdonaldsgelben Haargummi und ihren chemierosafarbenen Lippen. Mit ihrem Pony sieht sie aus wie eine jener Frauen auf den Videoaufzeichnungen, die man immer gezeigt bekommt, wenn es um die Zeit des Mauerfalls geht. Viele solcher Frisuren, die auf und ab hüpfen und „auf der Mauer, auf der Lauer, liegt ’ne kleine Wanze“ singen.
Die Frau wäre hübsch, wenn sie nicht so rosagelb wäre und eine andere Frisur hätte. So wirkt sie wie ein Provinzmädchen. Sie ist so dünn, ist sie magersüchtig? Bestimmt ist sie das. Ihre Hüftknochen stehen hervor, ihre Augen sind beinahe schon gespenstisch groß.
Die rosagelblackierten Fingernägel klicken auf dem abgewetzten Ubahnbezug, während die Stützpfeiler am Fenster vorbeifliegen und die Bahn erneut hält.
Warum tut sie das, warum isst sie nichts? Wenn sie ihren Körper nicht mag, warum hüllt sie ihn dann in Rosagelb, denkt sie, während ihre Finger mit ihren frisch gewaschenen Haaren spielen und ein schlafendes Hamburg an ihr vorbeizieht. Vielleicht ist sie süchtig nach irgendetwas. Vielleicht hat sie keine Freunde, nicht weil, sondern obwohl sie rosagelb ist.
Ihre Finger fahren die Hosennähte ab, sie selbst trägt eine verwaschene Blue-Jeans. Sie hat Freunde, sie ist sehr glücklich darüber, dass es Freunde sind, für die sie nicht jemand anders sein muss. Aber die rosagelbe Frau hat das nicht. Sie versucht, jemand zu sein, der von der Gesellschaft akzeptiert wird mit einer Modelfigur und einer Ostfrisur und rosafarbenen Augenlidern. Und das hat sie geschafft, die Gesellschaft akzeptiert sie auch, aber Freunde hat sie keine.
Oder was sonst macht sie zu einer Zeit wie dieser an einem Ort wie diesem?
Ein beiläufiger Blick verrät gerötete Augen. Hat sie noch nicht geschlafen? Oder hat sie geweint?
Der Wagen ist leer, bis auf die drei Frauen und das schreiende Kind. Es ist schon eine Ironie. Wenn jetzt ein Vergewaltiger zusteigen und eine von ihnen angreifen würde, würden die beiden anderen dann etwas tun? Oder würden sie in eine andere Richtung sehen und so tun, als würden sie nichts hören?
Das Baby hat jetzt angefangen zu husten. Seine Mutter wühlt hektisch nach einer Schnabeltase.
Sie würde helfen, glaubt sie. Und die Babymutter auch. Aber was ist mit der Rosagelben?
Nicht, wenn keine andere etwas tut, beschließt sie dann. Sie würde keine Initiative ergreifen, bei der ihre sorgfältig lackierten Fingernägel abbrechen könnten oder ihre grelle Kleidung schmutzig werden.
An der nächsten Haltestelle steigt die rosagelbe Frau aus. Ihre Schuhe haben die Farbe von Rosenblättern und die Schnürsenkel die der Sonne. Sie umklammert eine Handtasche, die…
Schnell wendet sie den Kopf ab. Lieber guckt sie die Mutter mit der Schnabeltasse an, die das winzige Baby jetzt aus dem Kinderwagen gezerrt hat. Es trinkt gierig ein paar Schlucke und fängt dann wieder mit seinem Geschrei an. Seine Mutter versucht, es zu beruhigen. Vielleicht sollte sie sich hinsetzen, aber bestimmt traut sie sich nicht. Sie will nicht vom Kinderwagen weg, aber wer in diesem Wagen würde schon einen Kinderwagen klauen?
Sie selbst hat keine Kinder. Und die unsichtbaren Leute, die vielleicht in dem Wagen sind, brauchen keinen Kinderwagen, weil der ja sichtbar ist und sie nicht.
Der Frau fällt die Schnabeltasse herunter, zum Glück nicht das Baby, denn sie fängt sie nicht. Das Kind auf ihrem Arm lacht, als sie sich bückt und die Flasche aufhebt. Davon auf eine Idee gebracht, beginnt sie, das Kind sanft zu schaukeln.
Ein Wort ohne Vokale dringt durch die uralten Lautsprecher des Zuges, die Haltestelle heißt St. Pauli. Sogar an einem Dienstagmorgen sollte der Zug sich hier füllen, aber das tut er nicht, nur die Frau steigt aus. Hektisch zerrt sie an der Bremse des Kinderwagens, als sie sich löst, schubst sie das Gefährt aus dem Wagen. Eine Rassel fällt heraus, sie guckt die Rassel an, dann den Wagen, tritt mit einem stilettobewehrten Schuh nach dem heruntergefallenen Gegenstand - zurückbleiben, bitte - und springt dann aus dem Zug. Die Rassel rollt und rollt, zur Tür, die noch nicht geschlossen ist. Draußen stopft die Frau ihr Kind wieder in den Wagen.
Die Türen tun das, was sie gehofft hat, dass sie tun. Sie schließen sich genau um die Rassel, und sie steht auf und tritt kräftig dagegen. Sie kann sehen, wie sie gegen eine Wand der Haltestelle fliegt.
Sie setzt sich wieder, legt die Füße hoch und starrt aus dem Fenster. Der Wagen ist ganz leer, bis auf sie.
"MMMMMMMMMH", wirbt ein riesiges, haargummigelbes Plakat um ihre Aufmerksamkeit. "Leckere Fischbrötchen", verkündet es. Hinter den Fischbrötchen stehen fünf Ausrufezeichen, sie findet nicht, dass Fischbrötchen lecker sind, man sollte mehr als zwei Ausrufezeichen verbieten.
Sie versinkt in dumpfes Brüten, erst, als die Bahn an der Feldstraße hält, schreckt sie auf und verlässt den Wagen.
Vor der Haltestelle sitzen zwei Punks und betteln. Der eine hat regenbogenfarbene Haare und ein faszinierend feingeschnittenes Gesicht. Sie muss an sich halten, um ihn nicht anzustarren. Seine Augen sind grün, flaschengrün. Der andere Punk hat einen Hund und viele Piercings.
Sie überquert die Straße und fühlt einen grünen Blick auf ihrem Rücken liegen. Sie ist froh, dass ihr Mantel theatralisch im Wind flattert.
Links ist eine Disko. Der Boden ist voller Flaschen, das Gelände ausgestorben. Rechts ist ein Park, ein paar seltsame Figuren lassen etwas kreisen, was die Form einer Zigarette hat, aber komisch riecht. Hier fällt sie nicht weiter auf… Alles ist gut.