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Hamsterpunk
...das war die richtige Beschreibung für Annes Zustand. Die 16-Jährige stand unglücklich vor dem Badezimmerspiegel und drückte auf ihren geschwollenen, grünlich-blauen Backen herum. Jede Berührung ließ sie zusammenzucken. Sie wollte ja aufhören...aber es war wie Chipsessen – einmal angefangen konnte man sich dem nicht mehr entziehen. Vor ein paar Tagen hatte man ihr alle vier Weisheitszähne herausoperiert. Seitdem konnte sie weder auf die Straße gehen ohne sich ständig beobachtet zu fühlen, noch feste Nahrung zu sich nehmen. Telefonieren fiel auch aus, da sie kaum ein verständliches Wort herausbrachte. Und dabei hatte sie diese vier Beißerchen, die ihr der Doktor mit nach Hause gegeben hatte vor dem Schlafen gehen brav unter ihr Kopfkissen gelegt und die Zahnfee inständig gebeten, das Geld stecken zu lassen und lieber ihr Gesicht wieder auf Normalgröße schrumpfen zu lassen. Vergebens. Sie hatte nun schon die vierte Nacht auf diesen verdammten Zähnen geschlafen und nichts war passiert. Statt eine Besserung zu sehen, meinte Anne eher, dass alles nur noch schlimmer geworden war. Da sie es kaum noch aushielt, hatte sie heute einen Termin beim Zahnarzt, der schauen sollte ob das auch wirklich alles seine Ordnung hatte.
Verführerische Essengerüche zogen durch die Wohnung. Heute gab es Schnitzel mit Pommes. Krossgebratenes Fleisch in leckerer Panade mit knusprigen Kartoffelstäbchen...Anne seufzte. Angewidert dachte sie an den Trinkjoghurt, der sicher schon an ihrem Platz stand. Sie hatte die Wahl zwischen Banane, Erdbeere, Kiwi und Birne. Aber da sie Birnen nicht nur hasste, sondern aus tiefstem Herzen verachtete hatte sie genau drei Sorten zur Auswahl. Welch ein Luxus.
Langsam ging sie zu ihrer Familie, die schon um den Esstisch versammelt saßen. Wie vorhergesagt wartete ihre überaus nahrhafte „Mahlzeit“ schon auf sie. Heute gab es Banane. Die Schnitzel schienen Anne lauthals zu verhöhnen und die Pommes brachen in lautes Gelächter aus als sie den Strohhalm durch den Aludeckel des Joghurtbechers rammte.
„Na? Wie geht’s dir? Wiedermal ne dicke Backe riskiert?“ Max, Annes älterer Bruder grinste sie diabolisch an, während er genüsslich auf einem knusprigen, leckeren, butterzarten Stück Fleisch kaute. Seine Schwester antwortete mit einem leicht verständlichen, in aller Welt gültigem Fingerzeig. Sie war erfinderisch geworden, da sie sich gegenwärtig nicht verbal wehren konnte. Sie teilte ihm ihre Verachtung, wie sie nur zwischen Geschwistern besteht, mit kleinen Schildchen oder eindeutigen Gesten mit. Max nutzte die Tatsache, dass Annes Mundwerk lahmgelegt war, schamlos aus. Er hatte sogar schon im Internet nachgeschaut, ob es einen Link mit Witzen für Weisheitszahngeschädigte gab. Leider, oder in Annes Fall, Gott sei Dank war er nicht fündig geworden.
Lustlos nuckelte sie an dem Joghurt und beobachte neidisch ihre Familie, wie sie diese leckeren Sachen in sich hinein stopften.
„Ach, du musst ja gleich zum Arzt...“, rief Annes Mutter fröhlich aus, als hätte sie gerade erfahren, dass sie eine knackige, männliche Putzhilfe bekam. Aus der Richtung ihrer Tochter kam nur ein missmutiges Nicken. Schlimmer konnte es ja sowieso nicht werden. „Ich fahr dich, dann kannst du noch in Ruhe fertig essen.“, Anne schielte auf den halbleeren Becher vor sich. Sollte das ein Scherz sein? Das nannte sie Essen? Das ein Appetitanreger oder ein Nachtisch, wenn überhaupt.
Ein halbe Stunde später saß sie mit knurrendem Magen im Wartezimmer ihres Zahnarztes. Ihre Mutter war in der Zwischenzeit einkaufen gegangen. Im Auto hatte sie noch begeistert erzählt, dass ihre Bekannte bei dem Laden um die Ecke Trinkjoghurts in den Geschmacksrichtungen Heidelbeere, Ananas und Apfel gesichtet hatte. Sie war ganz aufgeregt gewesen und konnte es kaum erwarten sich diese wunderbaren neuen Errungenschaften auf dem Trinkjoghurtmarkt anzueignen. Na toll, noch mehr Joghurt. Anne hätte geschrieen, wenn sie den Mund hätte richtig öffnen können. Ihr Körper verlangte nach Fleisch, nicht Milch. Warum gab es keine Salami zum Trinken? Was war das nur für eine ungerechte Welt?
Durch kleine versteckte Lautsprecher in der Zimmerdecke erklang eine Panflötenversion von „My Heart will go on.“. Das sollte beruhigend wirken, doch Flöten und ganz besonders Panflöten riefen bei Anne nur eine Reaktion hervor – Aggressivität. Sie musste sich schon beherrschen in der Fußgängerzone die, mit bunten Ponchos bekleideten, Panflötenensembles aus Mittelamerika nicht zusammen zu schlagen.
Lustlos blätterte sie in einer Frauenzeitschrift. Sie kannte sie schon. Vor fünf Tagen hatte sie das Magazin schon einmal gelesen und hatte es da schon nicht besonders interessant gefunden. Ihr kam die Erkenntnis, dass auch nach mehrmaligen Lesen die Artikel nicht besser wurden. Doch ihre Unterhaltungen waren begrenzt. Frauenzeitschrift, Börsenzeitschrift oder das Buch „Klein Mariechen beim Onkel Doktor.“ Dann doch lieber Häkeltipps. Anne war gerade in die Lektüre einer Anleitung für „reizende Zopfmuster“ vertieft, als sich die Tür des Wartezimmers öffnete. Sie hatte eigentlich gehofft, dass es die Sprechstundenhilfe war, die sie endlich in den Behandlungsraum bat. Aber dem war nicht so. Es trat ein Junge ein, vielleicht ein wenig älter als sie. Anne sah langsam an ihm hoch und fand sofort Gefallen an ihm. Er hatte versucht sein Haar zu bändigen, doch das Gel konnte die kurzen dunkelbraunen Löckchen nicht bezwingen. Sein Gesicht war von vielen ganz schwach zu sehenden Sommersprossen übersäht. Sie schienen wirklich überall zu sein auf der Stirn, der Nase, dem Kinn und eben auf den grünlich-blauen Hamsterbäckchen.
Er ließ sich seufzend ihr gegenüber nieder. Sie konnte die Augen nicht abwenden. Die geschwollenen Backen entstellten ihn nicht, so wie sie es bei ihr taten...sie machten ihn noch interessanter. Er blickte auf und sah sie teils irritiert teils fragend an. Anne versuchte ein aufmunterndes Lächeln nach dem Motto „Weisheitszähne? Kenne ich. Sieht aber gar nicht schlimm aus. Wirklich!“ Leider klappte das nicht wirklich. Sie verzog die Mundwinkel nur ein wenig und hielt sich schon vor Schmerz die Wangen. Er nicke ihr verständnisvoll zu und zeigte mit dem Finger auf seine Hamsterbacken. Anne deutete es als ein. „Ich weiß genau wovon du sprichst.“, sie nickte nur und verdrehte die Augen. Nun zeigte der Typ auf sie und blickte sie fragend an. Als sie nichts verstand, brachte er nur ein paar Laute hervor. „Ieaiissuu“, Sie schüttelte nur den Kopf. Was wollte er ihr denn damit mitteilen? Ihr Gegenüber bedeutete ihr zu warten. Er stand auf und zog aus seiner Gesäßtasche, die übrigens zu einem recht ansehnlichen Gesäß gehörte, seinen Geldbeutel. Er zog seinen Ausweis hervor und reichte ihn ihr. Anne las den Namen: Matthias Kruse. Ach, das wollte er von ihr. Ihren Namen. Mit einem etwas mulmigem Gefühl im Bauch gab sie ihm ihren Perso. Matthias warf einen kurzen Blick darauf und nickte dann noch mal freundlich. Wären nicht diese verdammten Backen, hätte Anne jetzt verlegen gegrinst. Aber auf eine Weise, gefiel ihr diese Art der Kommunikation. Einen Vorteil hatte das Ganze: man konnte nichts Blödes sagen.
Matthias machte eine kurze Kopfbewegung zu ihr und deutete dann auf die Türe. Anne blickte ihn verständnislos an. Er wiederholte die Bewegungen noch einmal langsamer und feilte noch ein wenig an seiner Ausdruckskraft. Er tat das so lange, bis es bei Anne klingelte. Seine Botschaft sollte bedeuten. „Was lässt du heute machen?“ Mit viel Körperbeherrschung begann sie pantomimisch qualvolle Schmerzen darzustellen. Worauf er ihr versuchte klar zu machen, dass bei ihm heute die Wundstreifen herausgemacht würden. Mit der Zeit klappte die Verständigung immer besser und die beiden verwickelten sich in ein richtiges Gespräch über Geschwister, endloses sitzen im Wartezimmer und Tricks gegen Schmerzen. Sie entdeckten, dass sie beide eine Abneigung gegen Trinkjoghurts hatten und als Matthias sich geräuschlos über das Panflötengedudel beschwerte, hatte er bereits einen Platz in Annes Herzen gefunden. In ihrem Magen kribbelte es angenehm, wenn sie in seine lieben Augen sah und sie sah ihm wirklich oft in die Augen. Sie bemerkten überhaupt nicht, dass die anderen Patienten schon anfingen über sie zu tuscheln und ihr seltsames Verhalten auf Partydrogen, Alkohol und unmoralische Filme zu schieben.
Eine schrille Stimmer riss die Beiden aus ihrer angeregten Unterhaltung. „Anne Bernard?“, die Sprechstundenhilfe sah Anne erwartungsvoll an. Und Anne blickte wehmütig zu Matthias, den sie nun wohl oder übel verlassen musste. Sie stand auf und winkte schon unbeholfen, als er plötzlich der alten Dame, die neben ihm saß und ein Kreuzworträtsel löste ihren Kulli entriss und nach Annes Hand schnappte. Hastig und unter dem strengen Blick der Angestellten kritzelte er ihr eine kaum leserliche Nummer und den Zusatz „Wenn du wieder sprechen kannst.“, auf den Handrücken und funkelte sie noch mal aus seinen warmen Augen an. Nun mischte sich zu dem blau und grün in Annes Gesicht auch noch ein leuchtendes rot. Sie verzog den Mund zu einer Art Lächeln und nickte glücklich. Auf dem Weg ins Behandlungszimmer überschlugen sich ihre Gedanken immer wieder. Sie musste dauernd auf ihre Hand schauen, um zu sehen ob das Gekritzel noch da war. Es war noch da. Danke, liebe Zahnfee.