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Hass
Wie jeden Tag, freute Sandra sich auch heute, auf den allabendlichen Spaziergang mit ihrem geliebten Hund Merlin. Sie genoss diese Spaziergänge. Für eine Weile, war sie dann mit sich und der Welt alleine, zumindest empfand sie es so. Manchmal gingen ihr die Geschehnisse des Tages durch den Kopf oder sie überlegte, was sie die nächste Zeit noch so zu erledigen hatte. Aber meistens, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf und genoss einfach nur die Stille um sich herum.
Da ihre Wohnung am Ortsrand lag, hatte sie es nicht weit, bis zu einem schönen Wanderweg. Hier konnte sie dann auch Merlin von der Leine lassen, so dass er herumtollen konnte. Fünf Jahre war er nun schon alt. Sandra hatte ihn damals mit 9 Wochen bekommen und es kam ihr vor, als wäre die Zeit im Flug vergangen. In diesen vergangenen fünf Jahren, war er ihr zu dem treuesten Gefährten geworden, wie sie sich ihn nur vorstellen konnte. Er spürte, wenn es ihr schlecht ging und sie traurig war. Dann kam er zu ihr, legte seinen Kopf auf ihr Bein und schaute sie mit seinen großen, dunklen Augen an. Auf der anderen Seite, reagierte er auch darauf, wenn sie fröhlich war, dann tollte er herum und spielte. War sie wütend, wirkte er beruhigend auf sie. Und oft dachte sie, er würde auch zu ihrem Beschützer werden, wenn es gefährlich werden sollte. Sandra ahnte da noch nicht, wie Recht sie damit hatte.
Auf dem Nachhauseweg, kaufte sie noch ein paar Dinge für das Wochenende ein. Sie musste sich erst wieder daran gewöhnen, nur für sich und den Merlin einzukaufen. So wie sie sich auch an andere Umstände, die das Alleinsein mit sich brachten, erst wieder gewöhnen musste. Die Trennung, von ihrem langjährigen Freund, lag erst einen Monat zurück. Es hatte einfach keinen Sinn mehr gehabt. Jeder ging seinen eigenen Weg und auch die Gefühle füreinander, waren eher dem Gefühl der Gewohnheit gewichen. An einem Montag war er dann aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Am Dienstag fing sie an die Wohnung zu renovieren, nahm sich extra eine Woche Urlaub dafür. Irgendwie brauchte sie diese Veränderung. Wegziehen wollte sie auf keinen Fall, dies war ihr Heimatort und in dem lebte sie nun schon seit 26 Jahren. In den letzten Jahren, hatte sich allerdings einiges verändert. Das ursprüngliche Dorf, war zu einer Kleinstadt geworden. Als sie noch ein Kind war, kannte hier noch jeder jeden, das war jetzt nicht mehr so. Die dörfliche Idylle, war ein stückweit der Anonymität gewichen.
Nach dem Sandra die Einkäufe verstaut hatte, schnappte sie sich die Leine. Merlin wartete schon ungeduldig an der Tür. Gemeinsam machten sie sich dann auf Richtung Wanderweg und sobald sie dort angekommen waren, leinte sie Merlin ab.
Sie atmete tief ein, die Luft war herrlich an diesem Augustabend. Über Tag war es noch sehr schwül gesehen, aber dann hatte es ein Gewitter gegeben. Jetzt allerdings war von dem Gewitter nichts mehr zu sehen. Der Himmel erstrahlte in einem satten blau und keine Wolke weit und breit. Langsam trottete sie dahin. Sie hatte es nicht eilig. Sandra liebte die Farben des Sommers. Besonders das saftige Grün der Bäume und Wiesen. Eine leichte Brise wehte.
Merlin war wie immer auf diesen Spaziergängen schwer beschäftigt. Er schnupperte hier und da. Setzte seine Marken und immer wieder stiegen ihm neue interessante Gerüche in seine feine Nase. Obwohl er sich nie weit von ihr entfernte, schaute er sich regelmäßig nach ihr um, wohl um sich zu vergewissern, das sie noch da war. Wieder einmal stellte sie fest, was für ein schönes Tier er doch war. Sein schönes helles Fell, glänzte in der sich langsam senkenden Sonne. Er strotzte vor Kraft, war aber trotzdem schlank. Golden Retriever hatten immer etwas Stolzes, in ihrer Art sich zu bewegen, fand sie.
Die beiden waren nun schon seit einer Stunde unterwegs und langsam begann es zu dämmern. Sie hatte gerade beschlossen, sich auf den Rückweg zu machen, als sie das Auto bemerkte. Es stand in einer der Koppeleinfahrten, die eigentlich dazu dienten, dass die Bauern auf ihre Felder kamen. Wahrscheinlich musste nur jemand anhalten, um zu telefonieren oder ähnliches, dachte sie sich. Sie wollte sich gerade umdrehen und den Rückweg antreten, als ihr Blick auf Merlin fiel. Er stand ganz ruhig da, schaute in Richtung des Autos und hatte die Ohren aufgestellt. Ganz offensichtlich hörte er etwas. Sie stellte sich neben ihn, verharrte eine Weile und lauschte, aber sie konnte nichts vernehmen. Sie zuckte die Schultern, wendete sich um und ging langsam den Weg zurück, den sie gekommen waren. Erst nach ein paar Schritten bemerkte Sandra, dass Merlin nicht wie gewöhnlich auf dem Rückweg neben ihr lief und sah sich nach ihm um. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt und auch seine Haltung nicht geändert. Sie rief nach ihm, aber er reagierte nicht und in diesem Moment kam ihr das erste Mal der Gedanke, dass etwas mit diesem Auto vielleicht nicht stimmen könnte. Das hatte er bisher noch nie getan. Sie ging zu ihm zurück. Streichelte ihm über den Kopf, aber er schien sie gar nicht zu bemerken. Er war wie gebannt und sein Körper angespannt. Ihr wurde langsam mulmig, trotzdem beschloss sie näher an den Wagen heranzugehen. Sie ging langsam auf das Auto zu und Merlin folgte ihr auf dem Fuße, aufmerksam und wachsam war er.
Dann plötzlich, als sie näher heran gekommen war, konnte sie es hören. „Oh mein Gott“ entfuhr es ihr. Jemand schrie, schrie und schrie. Eine weibliche Stimme. Ein Schauer überlief sie und ihr wurde plötzlich kalt, sehr kalt. Da war auch noch ein anderes Gefühl. Angst! Was sollte sie tun? Es war eindeutig, das es schreckliche Angstschreie waren. Der Weg zurück war zu weit. Sie musste jetzt handeln. Jetzt!
Sie rannte einfach los. Merlin lief ihr ein Stück voraus. Im Laufen suchte sie ihre Taschen nach dem Handy ab, aber wie immer hatte sie das Scheißteil zu Hause vergessen. „Mist“ fluchte sie. Alles Mögliche ging ihr durch den Kopf. Je näher sie dem Auto kam, desto lauter wurden die Schreie, sie konnte nicht mehr klar denken. Plötzlich, sie war schon fast am Auto angekommen, ging die Beifahrertür auf. Ein Mädchen sprang heraus. Ihre Kleider waren zerrissen und die reine nackte Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben. Es war das Mädchen, das vorher geschrien hatte. Jetzt war sie verstummt und rannte vom Auto weg, aber nicht ihn Sandras Richtung, sondern in die entgegen gesetzte. Doch sie kam nicht weit, denn auch die Fahrertür ging auf und ein älterer Mann sprang heraus, war mit drei großen Schritten bei ihr und griff nach dem Mädchen. Er bekam ihre Haare zu fassen und riss sie brutal zurück. Beide hatten Sandra noch nicht bemerkt. Sie packte Merlin am Halsband. „Los lassen, lassen sie das Mädchen sofort los“, schrie sie. Sie hatte nicht vorgehabt zu schreien. Eigentlich wusste sie gar nicht, was sie hier gerade tat. Sie tat es einfach. Sie hatte noch nie solche Angst empfunden. Wie musste es dem Mädchen dann erst gehen, dachte sie kurzzeitig. Ihre Angst spürte auch Merlin. Seine Nackenhaare stellten sich auf und er fing an zu knurren.
Jetzt hatten die Beiden sie natürlich bemerkt und wendeten sich ihr zu. Der Kerl hatte das Mädchen vor Schreck losgelassen. Aber packte dann gleich wieder nach hier, nachdem er sich vom ersten Schrecken erholt hatte. „Verschwinden sie“, zischte er. „Das geht sie nichts an“. Was dachte der sich? Das sie sich jetzt einfach umdrehen und gehen würde? Nein, das würde sie nicht tun! „Ich werde nicht gehen! Lassen sie das Mädchen los“, die Worte kamen aus ihrem Mund, aber in ihrem Kopf hallte nur eine Frage immer wieder. Was tust du hier?
Merlin knurrte jetzt lauter und vernehmlicher. „Halt deinen Scheißköter zurück“, fauchte er sie an.
Fieberhaft arbeitete es in ihrem Kopf, sie hatte keine Ahnung, was sie unternehmen sollte. Wusste nicht, wie man sich in so einer Situation verhält. Sie hatte nur in ihrer Schulzeit einmal drei Tage einen Selbstverteidigungskurs gehabt und an einige Sätze von einem der Trainer erinnerte sie sich noch. „Zeigt eure Angst nicht, solche Kerle stehen darauf, wenn sie eure Angst spüren können. Bevor ihr einen Schritt zurückgeht, geht lieber einen vor. Macht etwas, womit er nicht rechnet.“ Und genau das tat sie jetzt, sie ging langsam, Merlin weiter am Halsband festhaltend, auf die Beiden zu. Sie wollte ihm klar machen, dass sie nicht gehen würde. Und an seiner Reaktion erkannte sie, dass ihr das auch gelang. Er wurde unsicher und in seinen Augen las sie Ungläubigkeit. Sie liess den Blick nicht von ihm ab, schaute direkt in seine Augen. Aber die Stimme in ihrem Kopf schrie jetzt förmlich. Was tust du hier?
Sandra betete, dass er nicht in ihren Augen lesen konnte, welche Panik sie hatte. Aus den Augenwinkeln sah sie das Mädchen. Es stand jetzt teilnahmslos da, so als ob sie das Ganze gar nichts anginge oder sie gar nicht mitbekam was passierte. Sandra wurde klar, das sie es aber ohne die Hilfe des Mädchens nicht schaffen konnte. Es war ganz schwer einzuschätzen, wie alt das Mädchen war. Vielleicht vierzehn oder dreizehn? Sandra wusste es nicht. Deutlich war jetzt zu sehen, dass er sie geschlagen hatte. Ihr eines Auge schwoll an und sie blutete aus dem Mund. Sie machte sich nicht mal die Mühe das Blut wegzuwischen und ihre Augen, ihre Augen waren so schrecklich leer. Wut stieg in Sandra auf. Wut!
Sie wendete sich wieder ganz ihm zu und starrte ihn an. Und mit einem Schlag, wurde ihr plötzlich etwas klar, was wohl die ganze Zeit schon in ihrem Hinterkopf geschlummert hatte. Sie kannte diesen Mann! Aber woher? Woher? Krampfhaft versuchte Sandra sich zu erinnern. Dann fiel es ihr ein, natürlich, von der Arbeit. Sie arbeitete in einer großen Anwaltskanzlei. Es war ihr nur nicht gleich in den Sinn gekommen, weil er älter geworden war, als auf den Bildern in den Akten. Das Ganze musste so ungefähr fünf Jahre zurückliegen. Sandra hatte die Akte damals gelesen. Es ging darum, dass er beschuldigt wurde, seine Frau umgebracht zu haben. Oh mein Gott, ich habe mitgeholfen, diesen Kerl zu verteidigen, wurde es ihr bewusst. Seine Frau galt als vermisst und Anhaltspunkte deuteten daraufhin, dass er was damit zu tun hatte, wenn nicht sogar seine Frau getötet hatte. Ihre Leiche konnte nicht gefunden werden und die Anklage wurde fallen gelassen. Ihr fiel auch ein, das in den Akten von einer achtjährigen Tochter die Rede war. Tochter? Es dauerte eine Weile, bis Sandra die Tragweite dieser Erinnerung bewusst wurde. Das konnte doch nicht sein! Noch war sie sich nicht ganz sicher.
Sandra war nicht bewusst gewesen, das er sie auch die ganze Zeit anstarrte und er musste wohl etwas in ihrem Gesicht gelesen haben. „Was ist, martert sich dein kleines Hirn ab, was du tun sollst?“ und er grinste jetzt. Wut! „Ich kenne dich“, zischte sie. Er stutzte. „Na, martert sich dein kleines Hirn jetzt ab woher?“ Wie redete sie nur? „Ich werde dir sagen woher“. Und genau das tat sie dann auch, gab ihm Details aus der Akte wieder. Ob das richtig war? Sandra wusste es nicht und es war ihr auch egal in diesem Moment. Seine Augen wurden größer. Dann schien er zu begreifen und lachte plötzlich. Sandra lief es eiskalt den Rücken herunter. „Sag bloß, du hast für die netten Anwälte gearbeitet, dich mich rausgeboxt haben?“ Wieder dieses Grinsen. Sie schwieg. Durch ihr Schweigen angespornt, redete er weiter. „ Soll ich dir was sagen du blöde Kuh? Ja, ich habe meine Alte umgebracht!“ Ihr wurde schlecht, nur mit Mühe, konnte Sandra den Brechreiz unterdrücken. Verwirrt irrte ihr Blick rüber zu dem Mädchen. Er sah es und wieder lachte er. „Ja und das ist meine Tochter! Und deshalb kann ich auch mit ihr tun, was ich will. Zu deiner Information, die Kleine ist sogar besser, als ihre dämliche Mutter, es je hätte sein können.“ Dieses widerliche Grinsen.
Hass! Unbändiger abgrundtiefer Hass! Den empfand Sandra jetzt. Nie hätte sie gedacht, dass sie einen anderen Menschen so hassen könnte. Sie hasste dieses selbstgefällige Grinsen auf seinem Gesicht, sie hasste was er seiner Tochter all die Jahre angetan haben musste, sie hasste was er seiner Frau angetan hatte. Sie hasste ihn! Diesen Abschaum der Menschheit! Dieser Hass sprang ihr jetzt förmlich aus den Augen heraus. Er wich zurück. Auch auf Merlin ging dieser Hass über. Er fletschte die Zähne. Knurrte, laut und aggressiv. Er drängte nach vorne. Sie hatte Mühe ihn festzuhalten. Festhalten? Warum sollte sie ihn festhalten, warum ließ sie Merlin nicht einfach los? Als wenn dieser Abschaum, ihre Gedanken hätte lesen können, wich er noch weiter zurück. Er schrie jetzt. „Verschwinde oder ich mache mit dir das Gleiche, wie mit meiner Alten“. Sandra lachte. Ein irres Lachen. Sie lachte ihren Hass und ihren Ekel und ihre Abscheu hinaus. Jetzt konnte man in seinen weit auf gerissenen Augen Entsetzen sehen. Dann verstummte Sandra, genauso plötzlich wie sie angefangen hatte. Starrte ihm wieder direkt in die Augen. „Komm her und versuche es! Tu mir den Gefallen! Komm schon, versuche es!“ Sie stieß diese Sätze hervor, ohne dass sie ihr bewusst waren. Angst? Sah sie da jetzt etwa Angst in seinen Augen? Nun war sie an der Reihe zu grinsen. „ Ich sage es dir jetzt zum letzten Mal! LASS SIE LOS!“ Er tat es. Endlich ließ er seine Tochter frei. „Komm her Kleine“, rief Sandra ihr zu. Das Mädchen tat es, erst langsam, dann immer schneller. Er wusste er hatte verloren. Bevor das Mädchen bei Sandra angekommen war, drehte er sich um und rannte. Sandra widerstand der kurzen Versuchung, Merlin doch noch loszulassen.
Langsam führte Sandra das Mädchen zu dem Auto. Sie hoffte, das er in der Eile den Schlüssel nicht abgezogen hatte und das hatte er auch nicht. Froh darüber, den langen Weg nicht zu Fuß gehen zu müssen, da es schon sehr dunkel geworden war und sie ihm auch nicht traute, liess sie das Mädchen einsteigen. Der Hund sprang in den Kofferraum und Sandra setzte sich ans Steuer.
Erst zu Hause angekommen, wich langsam die Anspannung von ihr ab. Sie führte das Mädchen, das immer noch kein Wort gesprochen hatte, in ihre Wohnung. Brachte sie ins Wohnzimmer, so dass sie sich auf das Sofa setzen konnte und gab ihr eine Decke. Dann griff Sandra zum Telefon, drehte sich zu dem Mädchen um und sagte „ich werde jetzt die Polizei rufen, okay?“ Die Kleine nickt nur. Während die beiden auf die Polizei warteten, bekam Sandra jedenfalls schon mal ihren Vornamen aus dem Mädchen heraus. Die Kleine hieß Jessica. Nach etwa einer halben Stunde war die Polizei eingetroffen.
Sandra hatte dem Beamten am Telefon schon berichtet, worum es ging und darum gebeten, dass doch bitte eine Ärztin mitgebracht werden möge. Sie hatte auch gleich Angaben auf den Täter gemacht und wo das Ganze passiert sei, so das gleich eine Fahndung herausgegeben werden konnte.
Während nun die Ärztin Jessica ihn ihrem Schlafzimmer untersuchte, lieferte Sandra den beiden Beamten einen genauen Bericht der Ereignisse. Sie durchlebte alles noch einmal. Jetzt im nach hinein, war sie sogar geschockt über sich selbst, das sie dazu in der Lage war, so viel Hass zu empfinden und so zu handeln. Als Sandra geendet hatte, sah einer der Polizisten sie an. „Ist ihnen klar, wie gefährlich das gewesen ist? Er hätte auch ein Messer oder eine Waffe haben können.“ War ihr das klar gewesen? Nein, das er eine Waffe hätte haben können, darüber hatte sie nicht nachgedacht. Ihr wurde im nachhinein noch heiß und kalt bei dem Gedanken. „Was wird nun mit der Kleinen geschehen?“ Der andere Polizist antwortete ihr. „Wir haben ausfindig gemacht, dass Jessica noch eine Tante mütterlicherseits hat. Sie würde die Kleine sehr gerne bei sich aufnehmen. Nur das Problem ist, das sie frühestens morgen geholt werden könnte und wir müssten sie dann eigentlich in ein Heim bringen über Nacht. Es sei denn, sie würden sich bereit erklären, das Jessica über Nacht hier bleiben könnte.“ Mit Freuden sagte Sandra ja.
Die Ärztin kam die Treppe herunter. Ihr Gesicht sprach Bände. „Ich habe schon viel gesehen, aber so was? Nein, so was noch nicht! Das arme Kind und diese Leere in ihren Augen.“ Sandra wusste ganz genau, wovon die Ärztin sprach, sie hatte diese Leere auch gesehen. Nach dem alle gegangen waren und ihr gesagt wurde, sie würde über alles Weitere informiert werden, ging sie nach oben zu der Kleinen. Leise klopfte sie an und öffnete dann die Tür. Jessica saß auf dem Bett und starrte die Wand an. Sandra ging zum Schrank und suchte dem Mädchen erstmal Nachtzeug heraus.
„Du wirst heute Nacht hier bleiben und morgen holt dich deine Tante ab. Ist das okay für dich?“ Jessica nickte wieder nur. Sie hatte sich in die Decke eingewickelt, die Sandra ihr, als sie nach Hause kamen, gegeben hatte. Da ihre Sachen die Ärztin zur Spurenerkennung mitgenommen hatte. Sandra gab ihr das Nachtzeug. „Kann ich noch etwas für dich tun? Möchtest du vielleicht noch etwas zu trinken oder etwas zu essen?“ Jessica schüttelte den Kopf. Sandra wollte daraufhin gerade gute Nacht sagen, als die Kleine anfing zu sprechen. „Könntest du vielleicht noch ein bisschen hier bleiben?“ „Ja natürlich“, erwiderte Sandra, froh darüber, dass das Mädchen sprach.
Jessica griff nach dem Nachtzeug, ließ die Decke herunter, um sich das Nachtzeug anzuziehen und Sandra erstarrte. Jetzt wurde ihr klar, was die Ärztin damit gemeint hatte, so was hätte sie noch nicht gesehen. Wie schrecklich, wie grausam die Kleine zugerichtet war. Sie hatte Narben am ganzen Körper, Striemen auf dem Rücken und Stellen die aussahen wie Brandwunden. Wut stieg wieder in Sandra auf und gleichzeitig schoßen ihr Tränen in die Augen. Vielleicht war das falsch, weil die Kleine die Tränen sehen konnte, aber Sandra konnte nicht anders. Wie konnte ein Mensch nur einem anderen Menschen so etwas antun? Wie konnte ein Mensch, das einem Kind antun? Wie konnte ein Vater das seiner eigenen Tochter antun? Aber viel schlimmer, als die Verletzungen des Körpers dieses Kindes, waren die Verletzungen der Seele. Das konnte sie jetzt wieder ganz deutlich sehen, als sie der Kleinen in die Augen sah. Diese Leere, diese unendliche Leere. Da war nichts mehr. Nicht mal mehr Schmerz, nicht mal mehr Wut oder Hass, nicht mal mehr Traurigkeit. Nur Leere. Sandra wusste nicht, ob sie das Richtige tat. Wer wusste das schon in so einer Situation? Aber sie ging auf die Kleine zu und umarmte sie einfach. Erst spannte sich der kleine Körper, aber dann nach einer Weile nicht mehr. Schließlich legte sich Jessica hin und Sandra deckte sie zu, setzte sich auf den Bettrand und schaute sie an. Was hätte sie auch sagen sollen? Was sagt man zu so einem Kind, das in seinem bisherigen Leben, nur die Schattenseiten kennen gelernt hatte? Dann fing die Kleine an zu erzählen. Sie redete sich alles von der Seele, aber sie weinte nicht dabei. Es waren wohl keine Tränen mehr übrig. Jetzt erfuhr Sandra auch, warum Jessica so geschrieen hatte, der Vater hatte ihr gesagt, dass er ihre Mutter getötet hatte. Bisher hatte sie geglaubt, ihre Mutter habe sie im Stich gelassen. Sandra weinte noch öfters in dieser Nacht. Irgendwann schlief Jessica dann vor Erschöpfung ein und Sandra saß noch eine Weile an ihrem Bett. Schließlich ging sie runter ins Wohnzimmer, auf das Sofa, aber schlafen konnte sie nicht. Zuviel ging ihr durch den Kopf, zuviel hatte sie zu verarbeiten. Verarbeiten? Konnte man so etwas jemals verarbeiten?
So war sie auch gleich, nach dem zweiten Klingeln des Telefons am Hörer. Es war die Polizei. Sie hatten ihn gefasst! Sie hatte gerade aufgelegt, als Jessica die Treppe herunterkam. „Die Polizei hat ihn gefasst“, entfuhr es ihr. Die Kleine sah sie an und diesmal konnte Sandra noch etwas Anderes in ihren Augen lesen. Noch ganz zart und kaum vernehmbar, aber es war da. Hoffnung!