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Herr Lemmel und das Meer
„Hast du die Haut am Hals gesehen?“, fragte Herr Lohmeyer.
„Kocht halt keiner mehr für ihn“, antwortete Herr Müller.
„Wie ein Zombie.“
„Der Mann lässt sich so gehen.“
„Ich hab gehört, er kauft jede Woche Hundefutter, dabei hat er doch gar keinen Hund.“
„Es ist eine Schande.“
„Wirklich eine Schande.“
„Wenn’s mal mit mir so weit kommt ...“
„Komm, mach keine Dinger, deine Frau ist doch noch jung.“
„Seine ist ja auch nicht an Altersschwäche gestorben.“
Spülungen wurden betätigt, Reißverschlüsse geschlossen, doch erst als Herr Lemmel auch die Tür ins Schloss fallen hörte, stand er auf, spülte und zog sich die Hose hoch.
Als Herr Lemmel in seine Klasse kam, ruhten dreißig Augenpaare auf ihm. Er legte seinen Aktenkoffer aufs Pult, öffnete ihn und verteilte Arbeitsblätter in den Reihen. Die Schüler interessierte das nicht. Mädchenstimmen tuschelten und einmal musste Herr Lemmel anhalten, als ein Junge, der fast so groß war wie, ein Bein auf den Gang stellte.
Herr Lemmel setzte sich ans Pult und öffnete seinen Terminkalender, er war aus schwarzem Leder, auf dem Einband waren unten rechts seine Initialen, das J und das L, in gold zu erkennen. Herr Lemmel musste weit nach hinten schlagen, bis auf eine der letzten Seiten, die einmal ganz weiß gewesen waren, bis auf das Wort „Notizen“. Das war heute sein einziger Unterricht, aber am frühen Nachmittag fand noch eine Lehrerkonferenz statt, bei Kaffee und Kuchen.
Jemand schnipste, und rief „Uuuh, uuuh, hier, hier““
Herr Lemmel blickte auf, der große Junge, der ihm das Bein gestellt hatte, machte diesen Radau.
„Warum riechen Sie eigentlich nach Mottenkugeln?“, fragte der Junge.
Die Klasse explodierte, es wurde auf Tische geschlagen. Es wurde lautstark gestritten und Arbeitsblätter wurden zusammengeknäuelt und in hohem Bogen Richtung Mülleimer geworfen.
Herr Lemmel senkte seinen Blick.
Die Klasse war entlassen; Herr Lemmel hob Arbeitsblätter vom Boden auf.
„Johann, das geht so nicht weiter.“ Ihre Stimme. Frau Bugari, die Rektorin. Eine Tür wurde geschlossen. Von innen. „Du machst mich krank!“
Herr Lemmel bückte sich und hob ein weiteres Blatt auf.
Er spürte sie in seinem Rücken, sie umarmte ihn. Drückte sich an fest ihn, ihre Hände schlossen sich über seinem Bauchnabel.
Herr Lemmel begann zu zittern.
„Es tut mir so leid.“ Die Stimme nah an seinem Ohr. „Halt mich doch, bitte halt mich fest.“ Ein paar Augenblicke umarmte sie ihn noch, dann löste sie sich und von weiter weg: Ein Räuspern. „Herr Lemmel, so geht es nicht weiter.“ Frau Bugari ging zur Tür. „Es bricht mir das Herz.“
Sie ging, ihr Geruch blieb. Herr Lemmel schloss seinen Aktenkoffer.
Auf dem Flur bemerkte Herr Lemmel, dass er verfolgt wurde. Ein blondes Mädchen mit Stupsnase hatte schon gegenüber der Tür auf ihn gewartet und war ihm dann, immer drei, vier Schritte entfernt, gefolgt. Luise, dachte er, Marie-Luise, um korrekt zu sein; Herr Lemmel musste lächeln, aber sein Gesicht nicht.
Als er schon die Tür zum Lehrerzimmer geöffnet hatte, spürte er ihre Hand an seinem Arm, Herr Lemmel drehte sich um und sie hielt ihm eine Muschel mit beiden Händen entgegen.
„Ans Ohr halten“, flüsterte Marie-Lusie und drückte sie ihm in die Hand. Auf dieselbe Art hatte er ihr die Muschel damals gegeben, als er noch Erdkunde-Lehrer gewesen war, damals, weil sie als Einzige alle Hauptstädte Südamerikas gewusst hatte.
Herr Lemmel wartete, bis sie gegangen war, öffnete die Tür zum Lehrerzimmer und ließ die Muschel in den Mülleimer fallen. Herr Lohmeyer sah von der Süddeutschen Zeitung auf, wohl um zu schauen, woher das kräftige Geräusch wohl käme, blickte ihn kurz an und vertiefte sich dann wieder in seine Lektüre.
Während der Konferenz hörte Herr Lemmel zum ersten Mal das Meer rauschen. Frau Bugari sprach mit ihrer festen Stimme, die sich nie räusperte und die nie schwankte. Herr Lohmeyer zündete sich eine Zigarette neben ihm an, Herr Müller verzog das Gesicht, als Lohmeyer ihm Rauch entgegenblies. Zwei Kolleginnen tuschelten hinter vorgehaltenen Händen, wie die Schülerinnen, denen sie es noch verbaten, und rührten sich Zucker in ihren Kaffee, die Löffel klingelten gegen die Tassen. Doch Herr Lemmel hörte das Meer rauschen. Ein Echo-Rauschen, als würde das Meer auf der anderen Seite des Tals gegen Klippen branden und als würde dann der Schall an weißen Talmauern aus Kalkstein brechen.
„Schön die Augen aufhalten, alter Sportsfreund.“ Herr Müller stieß ihm kameradschaftlich den Ellenbogen in die Seite und Herr Lemmel öffnete die Augen. Aber das Meer rauschte.
Herr Lemmel saß zu Hause auf seiner Couch und starrte das Foto auf dem Fernseher an. Seine Frau in einem zitronengelb Kleid, das rote Haar floss ihr wie roter Honig vom Kopf, die grünen Augen funkelten ihn wütend an. Wenn Herr Lemmel nicht in der Schule war, dann war er hier. Aber jetzt war er nicht alleine. Wasser tropfte von der Decke auf das Bild. In runden, steten Tropfen. Genau auf das linke, zornige Auge seiner Frau, auf das Auge, das ihn gesehen hatte, ihn und Frau Bugari.
Herr Lemmel stand auf, ging um den Couchtisch herum und schob das Foto vorsichtig mit dem Zeigefinger seiner linken Hand ein Stück nach links. Wasser tropfte ihm dabei auf die Nase. Herr Lemmel legte seinen Kopf in den Nacken und öffnete den Mund.
Es schmeckte salzig. Herr Lemmel ging in die Küche, holte einen Topf, stellte ihn unter das Leck in der Decke, setzte sich auf die Couch, starrte das Foto an. Aber das Meer rauschte.
In der Nacht träumte Herr Lemmel vom Meer. Barfuß, umspült vom Spiel der Gezeiten, stand er am Strand und lauschte dem Meer. Er bückte sich und hob eine Muschel hoch. Dann wachte er auf.
In Sturzbächen fiel das Meer von der Decke. Seine nackten Füße planschten über den Teppich. Ebbe und Flut zerrten an seinen Knöcheln. Als er aus dem Fenster sah, schwappte tiefblaues Wasser in Nasenhöhe an ihm vorbei, so als blicke er durch ein Bullauge. Herr Lemmel ging ins Wohnzimmer, hinter sich hörte er Wellen schlagen. Das Wasser umspülte seine Knie. Der Couchtisch tümpelte in leichtem Wasser vor sich hin. Herr Lemmel ging an ihm vorbei, musste gegen die Strömung ankämpfen, die nun gegen seinen Bauch schlug. Er musste mit den Hüften gehen, sie nach links und rechts drehen, hin zum Fernseher. Dort lag noch das Bild, das Bild seiner wütenden Frau mit dem Haar wie roter Honig, es war umgefallen und lag mit dem Gesicht nach unten. Wellen spülten darüber, er hob es auf und der wütende Blick aus den jadegrünen Augen war weich geworden. Der Zorn weggespült vom Meer.
Die Brandung tobte hinter ihm, Wasser schlug gegen sein Kinn.
Herr Lemmel schloss die Augen, zählte bis vier und tauchte in die Fluten.