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Hildegards Perspektive

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23.03.2002
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Hildegards Perspektive

Jetzt war der Choral. Ein mächtiges Wort, dachte Hildegard oft; doch die Wände wackelten nie. Beim Singen hob der Pastor immer wieder den Stock und führte ihn energisch in eine Richtung. Dann fing eine Strophe an und Hildegard wurde klar, dass sie nicht wusste, was sie da sang, da es ein Text auf Latein war. Dann lächelte sie.
Sie hatte sich ein Kleid gekauft und war es gewohnt, der Verkäuferin beim Bezahlen einen guten Tag zu wünschen. Sie hatte es auf- und zugeknöpft und es war ein gutes Gefühl gewesen.
Nun hatte sie es an, im Kirchenchor, und bemerkte manche bewundernde Blicke. Fühlte sich ganz gut. Und sang wie immer und betrachtete ein Heiligenbild, und sah kleine Risse. Sie wollte das berichten, aber man sang ja, alle sangen und dann konnte sie nicht einfach auf einen Riss in einem Heiligenbild hinweisen, es würde schon bemerkt werden.
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, letzte Strophe. Der Stock fuchtelte noch mal in eine Richtung, dann feierlicher Schlusston. Das Wort ist so mächtig, wieso wackeln denn die Wände jetzt nicht, dachte Hildegard.
Das Kleid war neu gewesen, nicht gebraucht. Eine Anschaffung, sie zupfte daran herum, klopfte nicht vorhandenen Staub weg, bevor sie zu Paul nach Hause ging.
Sie fuhr am ›Löwen‹ vorbei. Nein, Paul war zu Hause, sie war sicher. Und sah es dann, als sie die Tür öffnete, nicht an den Hausschuhen, die unordentlich auf dem Boden herumlagen, nicht am Mantel, der knittrig hing, sondern am gedämpften Licht und den geöffneten Fenstern. Sie blickte auf die Uhr, es war halb zehn und sie war da. Und er saß im Wohnzimmer. »Schlafen die Kinder?« fragte sie und strich sich die Haare aus dem Gesicht.

 

Hallo simonvO,

ich muss zugeben, du hast mich überrascht. Als ich die Länge deiner Geschichte überblickte, bin ich nicht davon ausgegangen, dass in diesen wenigen Sätzen eine Figur lebendig werden kann. Für mich ist Hildegard das geworden. Ich habe sie vor Augen, eine Frau, deren Leben aus Routine besteht, die unauffällig ist, die sich nicht zu reflektieren scheint. All das deutest du nur an und ich hätte gerne mehr Episoden aus Hildegards Leben erfahren. Vielleicht hast du Lust, die angedeuteten Details noch auszuformulieren? Wer ist noch im Chor, wie genau ist ihre Familiensituation, wie ist ihr Verhältnis zur Kirche, ist der Mann oft im "Löwen"? Ich weiß, ich bin mal wieder zu neugierig ;)

Zwei Kleinigkeiten:

Jetzt war der Choral.
Das Wort "Jetzt" finde ich in Kombination mit der Vergangenheit hier problematisch. Wie wäre es mit "Dann", oder einfach "Es"?
Der Stock fuchtelte noch mal in eine Richtung, dann feierlicher Schlusston.

Liebe Grüße
Juschi

 

danke, juschi, für deinen beitrag.

dein lob erfreut mich, aber ich denke nicht, dass ich noch irgednwelche zusätzlichen Informationen in den text packen sollte.. ich finde gerade die andeutung, das unbestimmte reizvoll.
und wegen "jetzt war der choral" will ich mal warten was andere noch sagen.. mir gefällts bis jetzt recht gut :)
ja, "fuchtelt" hab ich geändert, danke.

liebe grüße,
simon

 

Hallo Simon!

Eine schöne Momentaufnahme, die die Routine andeutet. Gut gefallen hat mir, dass Du die Stellen Choral - Kleid abwechselst, ihre Aufmerksamkeit lenkst.
Die Andeutung des "Löwen" am Schluss und des Mannes, der schon daheim ist, vervollständigt das Bild - es könnte aber auch eine Andeutung an mehr sein. Als ich den Satz mit dem Löwen las, meinte ich auch erstmal, es sei ein Problem, dass der Mann zu oft zu lange dort sei, und das dieses "Nein, Paul war zu Hause, sie war sicher." eher eine Hoffnung wäre ...

Ich habe diese kurze Episode gern gelesen.

schöne Grüße
Anne

 

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