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Hildegards Perspektive
Jetzt war der Choral. Ein mächtiges Wort, dachte Hildegard oft; doch die Wände wackelten nie. Beim Singen hob der Pastor immer wieder den Stock und führte ihn energisch in eine Richtung. Dann fing eine Strophe an und Hildegard wurde klar, dass sie nicht wusste, was sie da sang, da es ein Text auf Latein war. Dann lächelte sie.
Sie hatte sich ein Kleid gekauft und war es gewohnt, der Verkäuferin beim Bezahlen einen guten Tag zu wünschen. Sie hatte es auf- und zugeknöpft und es war ein gutes Gefühl gewesen.
Nun hatte sie es an, im Kirchenchor, und bemerkte manche bewundernde Blicke. Fühlte sich ganz gut. Und sang wie immer und betrachtete ein Heiligenbild, und sah kleine Risse. Sie wollte das berichten, aber man sang ja, alle sangen und dann konnte sie nicht einfach auf einen Riss in einem Heiligenbild hinweisen, es würde schon bemerkt werden.
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, letzte Strophe. Der Stock fuchtelte noch mal in eine Richtung, dann feierlicher Schlusston. Das Wort ist so mächtig, wieso wackeln denn die Wände jetzt nicht, dachte Hildegard.
Das Kleid war neu gewesen, nicht gebraucht. Eine Anschaffung, sie zupfte daran herum, klopfte nicht vorhandenen Staub weg, bevor sie zu Paul nach Hause ging.
Sie fuhr am ›Löwen‹ vorbei. Nein, Paul war zu Hause, sie war sicher. Und sah es dann, als sie die Tür öffnete, nicht an den Hausschuhen, die unordentlich auf dem Boden herumlagen, nicht am Mantel, der knittrig hing, sondern am gedämpften Licht und den geöffneten Fenstern. Sie blickte auf die Uhr, es war halb zehn und sie war da. Und er saß im Wohnzimmer. »Schlafen die Kinder?« fragte sie und strich sich die Haare aus dem Gesicht.