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Hoffentlich ist es woanders besser

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17.10.2004
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Hoffentlich ist es woanders besser

Der Schnee fiel vom Himmel wie Federn von einem gerupften Huhn, als das Mädchen in die Nacht hinaus lief. Er schlug ihr ins Gesicht. Jede Flocke brannte sich in ihre Haut, wie glühende Metallspäne, bis sie schmolzen. Doch sie lief weiter … weiter …

Die Straße führte sie an Schaufenstern vorbei, die den Bürgersteig vor ihnen beleuchteten. Im Vorbeilaufen erhaschte sie kurze Standbilder von den Dingen, die sich in ihnen befanden. Speisen, Kleider, Schuhe und andere Dinge, die sie vor ein paar Tagen vielleicht noch interessiert hätten. Doch jetzt war alles anders und würde nie wieder so sein wie früher. Nicht nach dieser Nacht und nach keiner anderen mehr.

Als sie an diesem Morgen aufstand, fühlte sie bereits, dass sie kein guter Tag erwartete. Die Wolken umschlungen die Sonne, wie ihre Bettdecke ihren Körper, sie klammerte sich an ihm fest und ließ sich nur schwer entwirren. Sie war verschwitzt und nicht erholt durch diese Nacht. Langsam stand sie auf und schaute sich um. Der Raum hatte sich nicht verändert seit dem letzten Abend, leider. Er warf sie zurück zu den Erinnerungen des Vortages und zu dem was sie heute erwarten würde. Langsam und schwerfällig schritt sie zu ihrem Kleiderschrank, der voller zerknüllter und krauser Kleidung war. Ohne lange nachzudenken, nahm sie einen Pullover und eine Hose aus dem Schrank und zog sie über ihre Unterwäsche vom Vortag, in der sie geschlafen hatte. Sie wusste, dass sie nach Schweiß roch, doch dieser Fakt war ihr vollkommen egal, denn ob sie gut roch, würde nichts an ihrer Situation ändern.

Noch etwas langsamer ging sie in die Küche, dort war, wie jeden Morgen, niemand. Als sie sich eine Scheibe Brot mit Marmelade bestrich und einen Bissen davon nahm, konnte sie aus irgendeinem Grund nicht diesen durchgekauten Marmeladenbrotklumpen herunter bekommen. Sie spuckte ihn in die Spüle, wo der Klumpen, wenn sie ihn nicht wegmachte, liegen bleiben würde, bis sie von der Schule wieder kam. Sie beneidete den Klumpen Brot plötzlich, wie er dort in der Versenkung des Spülbeckens lag. Langsam rann ihr Speichel von dem Klumpen in den Ausguss. Schließlich drehte sie den Wasserhahn auf und ließ das durchgekaute Brot in den Ausguss verschwinden, den Rest ihres angebissenen Brotes ließ sie angewidert in den Mülleimer fallen.

Als sie der Straße ihr Gesicht zeigte, wurde ihr ohne jeden Grund klar, dass dies das letzte Mal war. Das letzte Mal sollte sie der Straße, die sie so spöttisch anstarrte, in die asphaltierten Augen sehen. Wie in Trance setzte sie sich in den Bus, der sie wie jeden Morgen in die Schule bringen würde. Ebenfalls hier wurde ihr klar, dass es das letzte Mal sein würde, dass sie mit diesem Bus in ihre Schule fahren würde.

Dort angekommen schien das Schulgebäude, wie eine Raubkatze, in die Lauerstellung gegangen zu sein, jederzeit bereit unbemerkt los zuschlagen. Sie näherte sich ihm vorsichtig, der Gefahr bewusst auf die sie sich einließ. Noch bevor die Schulklingel ihr lautes Schrillen von sich gab, ging sie hinein um sich mit dem Rektor zu unterhalten. Dieser 57-jährige Mann, mit einer kleinen Brille auf der Nase, schaute sie über einen Haufen Zeugnisse an, als sie eintrat. Mit einer Stimme, die gestellt freundlich klang, sagte er: “Guten Morgen.” Sie schaute ihn an und wusste, dass sie niemals irgendetwas sagen könnte, dass ihn von ihrer Unschuld überzeugen würde. “Also? Was führt dich zu mir, Kind?” Sie schaute ihn weiter an und fragte sich, ob er nur so tat oder ob er wirklich wissen wollte, warum sie hier war, denn eigentlich war es ziemlich offensichtlich. “Was meinst du? Sollten wir über den gestrigen Tag sprechen?” Weiterhin war er der Einzige, der sich an der Konversation beteiligte. Er nahm die Brille von der Nase um die Szene absichtlich noch weiter zu dramatisieren. “Was du getan hast ist unverzeihlich,” sie sah, wie sehr ihm diese Worte gefielen, “ein solches Benehmen können wir an unserer Schule nicht dulden. Wir haben eine lange Tradition. Und die lassen wir uns nicht von einer mittelmäßigen Schülerin zerstören, nur weil sie nicht damit zufrieden ist. Deshalb,” sagte er weiter, ”werden wir dir empfehlen eine andere Schule zu besuchen. Eine die sich mit Fällen wie dir auskennt.” Immer noch sprach nur er, sie hatte nicht mal genickt oder eine Miene verzogen. Irgendwie schien sie zu wissen was er sagen würde. Alles war nur ein großes Schauspiel, jeder hatte seine Rollen und sie spielte ihre nur extrem schlecht. Sie stellte sich vor, wie ihr Leben als Musical auf dem Broadway gespielt wurde, sie würde über ihre Einsamkeit singen mit einer hohen, wunderschönen Stimme, während der Rektor als tiefer Bass sie bedrohen würde. Seine Stimme brachte sie zurück: “Bist du damit einverstanden?” Ohne auf eine Antwort zu warten, sagte er weiter, “nun gut, dann hätten wir das erledigte, hier nimm diese Papiere, deine Eltern müssen sie bestätigen und mir wieder bringen. Ich habe bereits mit ihnen darüber am Telefon gesprochen.” Sie nahm die Papiere und sah ihn ein letztes Mal in die Augen. Sie sah seinen Triumph und seine Freude darüber, was er erreicht hatte. Ohne ein weiteres Wort verließ sie das Zimmer. Die Papiere, die sie von ihrem, jetzt ehemaligen Schuldirektor bekommen hatte, sahen aus als wären sie wichtig. Ein Schullogo war darauf gedruckt, war es das ihrer, jetzt ehemaligen Schule? Selbst diese Frage schien ihr zu schwer. Sie ging wieder hinaus aus dem Gebäude, das jetzt nicht mehr aussah wie eine Raubkatze, sondern eher wie ein großer Haufen Steine, nur zusammen gehalten durch den Zement, der dort schon immer gewesen war und resignierend stellte sie fest, dass sich das auch nie ändern würde.

Als sie auf die Straße ging, bemerkte sie, dass es angefangen hatte, zu schneien. Wie über sie spottend flogen die einzelnen Flocken über ihren Kopf und ließen sich schließlich in ihren Haaren nieder. Andere wiederum wehten ihr ins Gesicht und mehrten nur ihre eigenen Tränen und erst jetzt bemerkte sie, dass sie, seit sie die Schule verlassen hatte, weinte und ihre Tränen ihre Wangen befeuchteten. Sie sah plötzlich mit einer Klarheit, die so hell wie die Sonne war, dass sie nie eine der unzähligen Schneeflocken in ihren Haaren sein würde oder ein Marmeladenbrotklumpen in einer Spüle. Sie würde immer das Gleiche bleiben, das sie heute war, bis sie vielleicht irgendwann von dieser Welt entfliehen dürfte.

Zu Hause war niemand. Ihre Füße hatten sie durch die Straßen der kalten Stadt geführt. Ihre Tränen waren versiegt und sie saß ruhig in dem Wohnzimmer ihrer Eltern. Diese würden frühestens in ein paar Stunden nach Hause zurückkehren. Doch dann würde sie nicht mehr hier sein, sondern an einem anderen Ort, irgendwo wo sie nicht länger darüber nachdenken müsste, was eine Scheitelpunktfunktion sei. An diesem Ort würde sie auch nicht länger eine Meinung über die Politik ihres Landes haben müssen. Dort würde sie einfach nur sein, einfach nur sein ...
Es war schon Abend als sie sich auf den Weg machte den Ort zu finden, nach dem sie sich so sehr sehnte. Selbst war sie sich nicht im Klaren darüber, wohin sie gerade unterwegs war. Doch in ihre Beine führten sie in eine bestimmte Richtung.

Mittlerweile war es dunkel geworden und die Autos hatten ihre Scheinwerfer eingeschaltet. Immer wieder fuhren die Strahlen über ihren Körper und blendeten ihre Augen, doch das ihr unbekannte Ziel schien sie nie aus dem Blick zu verlieren. Immer weiter stieß sie in die schwarze Nacht hinein, der Schnee flog ihr weiterhin ins Gesicht. Er malträtierte ihren Körper und ließ ihre Kleidung schwer und nass zurück.
Dann nach einer Zeit, die sie nicht länger schätzen konnte, sah sie ihr Ziel vor sich. Die für einen Fußgänger riesige Brücke ragte vor ihr in den pechschwarzen Himmel, der nicht aufhörte, weiße Flocken zu generieren, die sie wie Nadeln stachen, wenn sie das Mädchen trafen. Langsam spürte sie ihre Zehen und Finger nicht mehr und bemerkte, als sie zu ihren Füßen hinuntersah, dass der Schnee ihr bereits bis zu den Knöcheln ging und ihre Halbschuhe schon völlig aufgeweicht hatte.

Sie ging weiter, merkte die Nadelstiche nicht länger, weiter die Brücke entlang. Über ihr schien nicht einmal der Himmel Mitleid mit ihr zu haben, er spuckte ungestört weiter seine weißen Soldaten aus, die nur ein Ziel hatten: sie! Und ohne es zu wissen, war sie auf das Geländer der Brücke gestiegen. Sie schaute hinunter in die Fluten des unter ihr befindlichen Flusses. Das Wasser schien keine Grenzen zu haben, es bewegte sich ständig und ohne Unterlass. Dieses Wasser besaß kein Gedächtnis, wenn man etwas hineinwerfen würde, würde das Wasser einfach weiter laufen. Dieses Wasser wurde nicht von etwas zusammen gehalten, es konnte einfach fließen, ohne Grenzen oder Einschränkungen. Jeder Tropfen war Teil eines Ganzen. Eines Ganzen, das sich ohne Grenzen vor ihr auszudehnen schien.

Dann sprang sie. Unter ihr das dunkle Wasser, das immer weiter floss und über ihr der Himmel, der weiterhin nicht aufhörte seine Flocken fallen zu lassen ...

 

@ shinichi
Wie wählst du denn dann deine Geschichten aus? Liest du einfach mal alle?
Auf dieser Seite ist man einfach auf den Titel angewiesen - Punkt. Und mehr hat man einfach nicht, bevor man einen Thread anschaut. Das ist eine Tatsache und keine Grundsatzdiskussion.

@ Tatam: Einen Titel zu finden ist zweifellos schwer. Da stimme ich dir zu. Für mich ist es fast das Schwerste am Schreiben. Und gottseidank beinhaltet nicht jeder Titel das Wort "Ficken" - das sagt allerdings dann oft einiges über den Autor aus. Der Provozierversuch geht dann nämlich auch mal nach hinten los.

Aber du hast ja einen Titel gefunden... künftige Leser deiner Geschichte werden es dir danken. :)

 

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