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horae volant

Seniors
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11.06.2004
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horae volant

Als die Sonne langsam untergeht und den Horizont in die wunderbarsten Farben taucht, da kann ich mich einfach nicht beherrschen und muss gähnen.
Ich strecke meine Glieder. Eigentlich bin ich noch gar nicht müde. Obwohl diese dauernde Ruhe hier mich schon schläfrig macht. Langsam muss ich mir mal etwas Neues einfallen lassen. Aber was?

Manchmal döse ich den ganzen Tag. Ich habe keine besonderen Pläne, also bleibe ich die ganze Zeit über liegen. Morgens bleibe ich länger im Bett, vormittags, nach einem leichten Frühstück, wechsle ich auf die regengeschützte Terrasse (in letzter Zeit regnet es viel), nach dem Mittagessen schlafe ich ein wenig im Wohnzimmer und abends schlendere ich noch zum Ausgleich ein wenig durch den Garten.
Der Flieder duftet zur Zeit wieder sehr intensiv. Langsam geht mir der Gestank auf die Nerven.

Früher haben wir manchmal Schach gespielt. Anfangs war ich ein richtiger Versager, habe immer verloren. Doch dann hat sich das geändert. Und niemand war mir mehr überlegen. Als ich nach und nach gegen alle meine Freunde gewonnen hatte, nachdem ich in zahlreichen internationalen Vereinen mich immer zur Spitze gespielt hatte, da habe ich langsam die Lust an diesem Spiel verloren. Und seither ist niemand mehr gekommen, der es mit mir aufnehmen hätte können.
Schach ist Übungssache. Man braucht viele Jahre, um es perfekt zu beherrschen. Und ich bin den anderen weit voraus. Vielleicht zu weit.

"Ihre Bestellung, bitte", sagt die metallene Stimme.
Mein Haus ist natürlich vollautomatisch. Der neueste Schnickschnack. Kompletter Luxus.
Mein Haus misst meinen Glucosespiegel im Blut, meine Ionenwerte, meine Fettwerte (Trigylyzeride, HDL, LDL), meine Harnstoffwerte, meine Entzündungsparameter, meinen Herzschlag, meinen Blutdruck, mein Transpirationsverhalten, meine Muskelaktivität, meine Atemfrequenz, checkt die physiologischen Parameter und justiert dann meine Essenszusammensetzung, die Raumtemperatur, den Wärmegrad des Wassers und meine Medikamente, setzt in mein Trinkwasser Vitamine oder Mineralstoffe zu, korrigiert die Einstellung der Sonnenblenden, bereitet die Zusammenstellung meiner morgendlichen Infusion vor und saugt den Staub vom Boden und von den Betten.
"Etwas Chianti?" fragt die metallene Stimme mich.
Ich stehe also in der Küche und weiß nicht, was ich machen soll.
Wein, überlege ich. Schon wieder?

Früher habe ich immer gerne gelesen. Viel habe ich gelesen. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals genug davon bekommen würde.
Jetzt habe ich genug davon. Wirklich gute Geschichten sind schon lange nicht mehr geschrieben worden, wirklich Lesenswertes habe ich schon lange nicht mehr zwischen die Finger gekriegt. Und immer wieder die alten Klassiker lesen... Dazu fehlt mir inzwischen die Geduld. Früher hat mich Heine immer aufgemuntert. Aber ich kann die Bücher nicht mehr zur Hand nehmen, ohne dass ich Langeweile in mir aufsteigen fühle.

Wie lange ist es nun her? Ich weiß es nicht mehr.
Sofie fehlt mir manchmal. Aber nur manchmal und die Momente werden immer seltener. Ich weiß noch, wie gern ich immer neben ihr lag, wie gern ich durch ihr Haar strich, während sie schlief. Sie hat nie erfahren, dass ich verrückt war nach ihrem Haar. Ich habe es ihr nie gesagt.
Sex wird überschätzt. Wie lange hatte ich nun schon keinen Sex mehr? Und wann habe ich das letzte Mal sehnsüchtig daran gedacht? Das muss ewig her sein, denn ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern.

Ich habe angefangen, gegen mich selbst Schach zu spielen. Jeden Tag einen Zug zu machen, einen mit den weißen Figuren, am nächsten Tag einen mit den schwarzen Figuren. Es ist ein interessantes Spiel daraus geworden. Manchmal sitze ich stundenlang vor dem Spielbrett und überlege.
Bis heute bin ich noch nicht fertig damit.
Ich hatte nie einen stärkeren Gegner.
Aber eigentlich ist es eher Zeitvertreib als Spaß.

2245 ist der erste Mensch 200 Jahre alt geworden. Und sah dabei aus wie 30.
Inzwischen hat sich viel getan.
Bald werde ich Tausend Jahre alt sein.
Die Erde ist nicht mehr so wie früher. Viele sind weggegangen - manche, wie Sofie, sogar für immer - und nur wenige sind zurückgeblieben.
Ich bleibe hier. Die anderen Welten würden mich auch nur langweilen.

 
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Hallo chazar

Sehr interessant wie du die schleichende Ermüdung deines Prots beschreibst. Der zuerst unklare Zeitrahmen verführt den Leser dazu, sich irritierte Fragen über die Person des Erzählenden zu stellen. Erst der letzte Abschnitt birgt die gelungene Pointe, die einen Klarheit verschafft.

Ein gelungener Ausblick auf die Schattenseite zukünftigen Lebens :)


mfg Hagen

PS: Bei der derzeit absehbaren Entwicklung in Medizin und Wissenschaft würde ich nicht 2245 sonder eher schon 2145 (besser noch 2095) als Termin festlegen. :)

 
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Hi Hagen!

Danke für das Lob.

Aber: ich habe geschrieben:

2245 ist der erste Mensch 200 Jahre alt geworden.
D.H. dieser Mensch wurde 2045 geboren... Somit hat sich der medizinische Fortschritt schon in diesem unseren Jahrhundert eingestellt.

In diesem Sinne
c

 

Zur eigentlichen Geschichte: Sie ist langweilig.
Das geht auch gar nicht anders, denn Langeweile ist genau das, was sie beschreibt und wovon sie erzählt. Die Aussage ist: Wenn wir unsere Lebenszeit verlängern, werden wir uns langweilen.
Und diese Aussage finde ich simpel, pauschal und undifferenziert. Was mich betrifft: Falsch. Ich würde mich nieeeee langweilen, auch in 1000 Jahren nicht. Frag mich in 1000 Jahren nochmal, ob ich mich mit dieser Aussage geirrt habe :D

Also nochmal: In der Geschichte geschieht praktisch überhaupt nichts. Sie besteht aus einer länglichen Rückschau, die verschiedene Dinge aufzählt, die insgesamt keinen Zusammenhang ergeben, abgesehen von der Aussage, dass die Figur sich langweilt und nichts mit sich anzufangen weiß.

Im Grunde ist die Story völlig melancholisch, aber diese Stimmung kommt nicht wirklich rüber, erst im letzten Satz oder so. Daher fehlt ihr nicht nur Spannung oder Handlung, sondern auch Stimmung.

Was bleibt?

Dass ich sprachlich nichts dran auszusetzen habe :D

Fazit: sprachlich ok, inhaltlich langweilig.

Uwe
:cool:

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo chazar,

find ich super, dafür gibts meinen dritten Daumen (1 und 2 an Hagen): :thumbsup:

So eine Geschichte schleppe ich schon elend lange mit mir rum, jetzt hast du sie gelungen zu Papier gebracht. Super, das spart mir Arbeit! :) (Was auch erklärt, warum ich schon beim ersten Satz die Pointe raushatte)

Fazit: Ganz runde Sache, flüssig geschrieben, man kann sich bestens reinversetzen. Daher besorg ich mir jetzt ne Stange Drogen und schau, dass ich nicht allzu alt werde :D .

Grüße

Dante_1

 

Hallo zusammen!

@ Uwe:

Ich würde mich nieeeee langweilen, auch in 1000 Jahren nicht. Frag mich in 1000 Jahren nochmal, ob ich mich mit dieser Aussage geirrt habe
Das ist in der Tat der Punkt.
Trotzdem Danke für deine ehrlichen Worte. Es kann nicht jeder alles toll finden.

@ Dante:
Danke für dein Lob.

In diesem Sinne
c

 

Fand ich fääät.
Ein bischen was vom alten Asimov. zumindest von der Idee. Lob!
Sher gut

@ Dante_1 nimm mich mit, bin auch schon viel zu alt. LOL
Gru?
Chris

 

Hi Christian!

Ich hab zuerst gelesen: Fand ich faaad.
Aber es heißt wohl: fett.

Danke.

In diesem Sinne
c

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Blackwood!

Uh, deine Kritik ist ja fast länger als mein Text.
Ich finde es sehr schön, wie du dich damit auseinandersetzt.

Chazar ist nicht hebräisch oder zumindest nicht, dass ich es wüsste. Es ist der Name einer Figur aus meiner ersten "richtigen" Geschichte. Nostalgie, mehr nicht...

um zu weiteren Reflexionen zu animieren.
Das ist natürlich schade.

Die Passage ‚Mein Haus misst…’ ist da wiederum zu ausführlich. Laien kümmern sich nicht um Lipoproteine etc., Kenner der Materie bemängeln das leichte Durcheinander.
Durcheinander? Ich fühle mich schon als Kenner der Materie ( :D ) und ich habe diese leicht ungeordnete Aufzählung gewählt, weil ich schließlich nicht der Prot dieser Geschichte bin, sondern "nur" der Autor. Und der Prot erzählt eben die Dinge so, wie sie ihn in den Kopf kommen.

Wenn ich Verbesserungsvorschläge mache, heisst das nicht, dass Du die sätze so übernehmen sollst, sie sollen Dir nur eine andere Perspektive ermöglichen.
Selbstverständlich. So sehe ich meine Kritiken und die anderer immer.

Es gibt Computer, die darauf programmiert sind zu schreiben, doch sie haben ein Problem: Sie schreiben immer nur über das Selbe. Und die paar Menschen, die noch schreiben, erleben selbst zu wenig, als hätten sie etwas zu erzählen.
Dein Vorschlag ist sicher nicht schlecht, aber er greift mir zu sehr auf die Pointe voraus.

Tausend Jahre halte ich für maßlos übertrieben.
Kann sein. Ich finde es schon passend.

‚psychologisch gesehen nicht für allzu viel mehr Erfahrungen geeignet ist, als er sie in der derzeit üblichen Lebensspanne bereits macht.’
Ich bin kein Anhänger dieser Meinung. Ich weiß nicht einmal, ob ich selbst mich mit 1000 Jahren denn wirklich langweilen würde. Wahrscheinlich eher nicht. Ich wollte hier auch nicht pauschalisieren (auch wenn es so wirkt), die Meinungen, die ich manchmal in meinen Geschichten vertrete, sind nicht immer meine eigenen.

Wie lange ist es nun her? Ich weiß es nicht. Sofie hätte es mir sagen können. Sie fehlt mir manchmal.
Sicher sehr schön formuliert, aber ich bin ehrlich gesagt dagegen, fremde Formulierungen in meine Texte einzubauen. Ich lasse mich gern korrigieren, wenn ein Satz falsch ist oder sich einfach doof liest, aber ich übernehme keine fremden Formulierungen oder ganze Passagen. Das ist sicher etwas eitel... aber so bin ich eben.

‚weggegangen’ fällt einem gleich ein freiwilliger Tod ein
Und tatsächlich ist das auch beabsichtigt.
Ich habe geschrieben:

Viele sind weggegangen - manche, wie Sofie, sogar für immer - und nur wenige sind zurückgeblieben.
Sofie ist für immer gegangen, andere (Menschen) sind "nur" auf andere Planeten ausgewichen. (Der von dir angesprochene Weltraumtourismus...)
Und unser Prot kann sich weder für das eine, noch für das andere begeistern.
Denn der Himmel ist ja auch "nur" die "Ewigkeit".
Beide deiner Interpretationen waren vollkommen zutreffend.

Trotzdem Danke für deine sehr ausführliche und unglaublich konstruktive Kritik. Vielleicht habe ich jetzt besser verstanden, warum die Geschichte nicht so funktioniert, wie ich wollte. Und vielleicht werde ich die Geschichte noch einmal schreiben (sicher nicht in dieser Woche, allerdings...) und dann deine Vorschläge genau überdenken und deine Anregungen einarbeiten.


In diesem Sinne
c

 

Hi Blackwood!

Ganz kurz nochmal, und NICHT weil ich - wie Üblich - immer das letzte Wort haben will...
Das lasse ich sowieso nie zu...

Klar - VLDL, LDL und HDL gehört zum normalen Sprachrepertoire eines jeden, der bald 1000 ist?
Ich hab da ein Problem. Ich gestehe es hier und jetzt ganz offen und hoffe, dass nicht zu viele Leute diese Kritik hier lesen: ich liebe meine Texte!
Jetzt mal Scherz bei Seite: wenn jemand sie angreift und sei es nur, dass er diese oder jene Formulierung nicht so gut findet, dann ärgere ich mich schon und ich verteidige Dinge, die nicht zu verteidigen sind.
So wie die Lipoproteinie eben. Es ist wie du sagst: es hat in diesem Text nichts verloren, gar nichts. Vielleicht wollte ich nur mal damit angeben, so nach dem Motto, ich hab das gelernt, nun will ich mir beweisen, dass es nicht umsonst war.
Ich bin schon fleißig dran, den Text zu überarbeiten, alles was du geschrieben hast (fast alles, du verstehst?) ist zutreffend.

Allerdings war die Pointe für mich nur konsequent, also nicht überraschend.
Stimmt, das beschreibt die Situation treffender. Aber trotzdem möchte ich es im Text nicht allzu deutlich herausarbeiten. Und dieser Vorschlag von mir gefiel dir gefiel mir nicht so...

Der Punkt war - aber das hat jetzt nicht mehr viel mit der Geschichte zu tun - dass unser Gehirn in seinem momentanen evolutionären Zustand keine 1000 Jahre durchhalten würde. Aber das ist wie gesagt eine Diskussion für Psychologen und Neurowissenschaften. Mich würde hier nur die literarische Aufarbeitung des Themas interessieren.
Sicher, das habe ich auch genauso verstanden. Aber angenommen, man könnte fremde Welten erforschen, von Planet zu Planet springen, die Wunder nicht nur dieser Welt, sondern auch vieler anderer erfahren und "erlernen". Glaubst du nicht, dass unser Gehirn da ausgelastet genug wäre?
Und was sind genau die Porzesse des Alterns, der Sterbens, der Zerfalls? Und wie könnte man diese Mechanismen umgehen? Bewusst bin ich nicht auf das wie eingegangen, weil das für meine Grundidee eigentlich nicht wichtig war. Mich hat interessiert: wie könnte es sein, wenn man 1000 Jahre alt ist. Und zwar für eine ganz bestimmte Person, nicht für alle Menschen. Ein pauschales Urteil würde ich mir da nie erlauben. Dieses Thema ist zu komplex, als dass man es in einer kurzen Geschichte aufarbeiten könnte.

Mir persönlich haben solche Hinweise aber meistens weiter geholfen. Nicht unbedingt für die jeweilige Geschichte, aber für weitere. Das möchte ich nur weiter geben. Und es ist ja nicht mal gesagt, dass es immer eine sinnvolle Hilfe ist.
Das tun sie. Und ich danke dir sehr für deine Vorschläge. Sie haben mich lange darüber nachdenken lassen.

In diesem Sinne
c

 

Hi Jo!

:crying:

Naja, ich kann es leider nicht ändern.
Nur das Warum hätte mich interessiert. Was genau gefällt dir nicht?

Meine Begeisterung über deine Schreibkunst erleidet dadurch aber keinen Schaden!

:bounce:

In diesem Sinne
c

 

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