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horae volant
Als die Sonne langsam untergeht und den Horizont in die wunderbarsten Farben taucht, da kann ich mich einfach nicht beherrschen und muss gähnen.
Ich strecke meine Glieder. Eigentlich bin ich noch gar nicht müde. Obwohl diese dauernde Ruhe hier mich schon schläfrig macht. Langsam muss ich mir mal etwas Neues einfallen lassen. Aber was?
Manchmal döse ich den ganzen Tag. Ich habe keine besonderen Pläne, also bleibe ich die ganze Zeit über liegen. Morgens bleibe ich länger im Bett, vormittags, nach einem leichten Frühstück, wechsle ich auf die regengeschützte Terrasse (in letzter Zeit regnet es viel), nach dem Mittagessen schlafe ich ein wenig im Wohnzimmer und abends schlendere ich noch zum Ausgleich ein wenig durch den Garten.
Der Flieder duftet zur Zeit wieder sehr intensiv. Langsam geht mir der Gestank auf die Nerven.
Früher haben wir manchmal Schach gespielt. Anfangs war ich ein richtiger Versager, habe immer verloren. Doch dann hat sich das geändert. Und niemand war mir mehr überlegen. Als ich nach und nach gegen alle meine Freunde gewonnen hatte, nachdem ich in zahlreichen internationalen Vereinen mich immer zur Spitze gespielt hatte, da habe ich langsam die Lust an diesem Spiel verloren. Und seither ist niemand mehr gekommen, der es mit mir aufnehmen hätte können.
Schach ist Übungssache. Man braucht viele Jahre, um es perfekt zu beherrschen. Und ich bin den anderen weit voraus. Vielleicht zu weit.
"Ihre Bestellung, bitte", sagt die metallene Stimme.
Mein Haus ist natürlich vollautomatisch. Der neueste Schnickschnack. Kompletter Luxus.
Mein Haus misst meinen Glucosespiegel im Blut, meine Ionenwerte, meine Fettwerte (Trigylyzeride, HDL, LDL), meine Harnstoffwerte, meine Entzündungsparameter, meinen Herzschlag, meinen Blutdruck, mein Transpirationsverhalten, meine Muskelaktivität, meine Atemfrequenz, checkt die physiologischen Parameter und justiert dann meine Essenszusammensetzung, die Raumtemperatur, den Wärmegrad des Wassers und meine Medikamente, setzt in mein Trinkwasser Vitamine oder Mineralstoffe zu, korrigiert die Einstellung der Sonnenblenden, bereitet die Zusammenstellung meiner morgendlichen Infusion vor und saugt den Staub vom Boden und von den Betten.
"Etwas Chianti?" fragt die metallene Stimme mich.
Ich stehe also in der Küche und weiß nicht, was ich machen soll.
Wein, überlege ich. Schon wieder?
Früher habe ich immer gerne gelesen. Viel habe ich gelesen. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals genug davon bekommen würde.
Jetzt habe ich genug davon. Wirklich gute Geschichten sind schon lange nicht mehr geschrieben worden, wirklich Lesenswertes habe ich schon lange nicht mehr zwischen die Finger gekriegt. Und immer wieder die alten Klassiker lesen... Dazu fehlt mir inzwischen die Geduld. Früher hat mich Heine immer aufgemuntert. Aber ich kann die Bücher nicht mehr zur Hand nehmen, ohne dass ich Langeweile in mir aufsteigen fühle.
Wie lange ist es nun her? Ich weiß es nicht mehr.
Sofie fehlt mir manchmal. Aber nur manchmal und die Momente werden immer seltener. Ich weiß noch, wie gern ich immer neben ihr lag, wie gern ich durch ihr Haar strich, während sie schlief. Sie hat nie erfahren, dass ich verrückt war nach ihrem Haar. Ich habe es ihr nie gesagt.
Sex wird überschätzt. Wie lange hatte ich nun schon keinen Sex mehr? Und wann habe ich das letzte Mal sehnsüchtig daran gedacht? Das muss ewig her sein, denn ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern.
Ich habe angefangen, gegen mich selbst Schach zu spielen. Jeden Tag einen Zug zu machen, einen mit den weißen Figuren, am nächsten Tag einen mit den schwarzen Figuren. Es ist ein interessantes Spiel daraus geworden. Manchmal sitze ich stundenlang vor dem Spielbrett und überlege.
Bis heute bin ich noch nicht fertig damit.
Ich hatte nie einen stärkeren Gegner.
Aber eigentlich ist es eher Zeitvertreib als Spaß.
2245 ist der erste Mensch 200 Jahre alt geworden. Und sah dabei aus wie 30.
Inzwischen hat sich viel getan.
Bald werde ich Tausend Jahre alt sein.
Die Erde ist nicht mehr so wie früher. Viele sind weggegangen - manche, wie Sofie, sogar für immer - und nur wenige sind zurückgeblieben.
Ich bleibe hier. Die anderen Welten würden mich auch nur langweilen.