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Hugos kleine Reiseempfehlung
Paris schläft noch. Hugo sitzt auf einem der obersten Äste, lässt die Beine baumeln und sieht verträumt auf den Platz hinunter. Zu seiner Linken huschen nur vereinzelt müde Gesichter über das orange schimmernde Kopfsteinpflaster der Rue Saint-Julien-le-Pauvre. Er lächelt, schließt für einen kurzen Moment die Augen und saugt den Geruch des Sommermorgens auf. Lauscht dem tiefen Durchatmen dieser Stadt, die es nur in einem sehr kleinen Zeitfenster schafft, sich zu erholen, bevor Menschenmassen und hupende Autos sie Tag und Nacht aufs Neue überschwemmen.
Ein kräftiger Kaffeeduft steigt Hugo in die Nase. Gedankenverloren nimmt er einen großen Schluck aus dem Messingbecher, der neben ihm auf dem unebenen Holz steht. Schon oft ist dieser Becher durch Hugos Tagträumerei mehrere Meter nach unten gepurzelt. Deshalb ist er sicherheitshalber auf Messing umgestiegen, das ist robuster als Porzellan und hinterlässt keine Scherben. Einmal – vor der Umstellung - landete die Tasse nämlich auf dem Kopf einer englischen Touristin und Hugo hatte alle Hände voll zu tun, ihr überzeugend und gleichzeitig unbemerkt einzutrichtern, dass sie sich dieses unfassbar winzige Gefäß nur eingebildet hätte.
Der Schreck über das damalige Missgeschick jagt Hugos Puls noch immer schlagartig nach oben und er rutscht nervös hin und her. Sie dürfen unter keinen Umständen entdeckt werden, das würde alles ruinieren. Die Menschen – jedenfalls die meisten – haben die unangenehme Angewohnheit, etwas Besonderes nicht für sich behalten zu können. Nein, sie müssen darüber berichten, in allen möglichen Zeitungen, bis schließlich sogar die Buchstaben ihrer eigenen Geschichte überdrüssig werden und am liebsten gelangweilt vom Papier stolzieren würden. Dann kommen die Massen, schießen unzählige Fotos und man wird vor lauter Blitzlichtern fast blind. Die Ruhe ist dahin und am Ende des Tages liegt ein ehemals idyllischer Ort zitternd im Schatten der Nacht – bedeckt von Coladosen und Chipstüten.
Ein adrettes Fleckchen französische Hauptstadterde hat ihnen das Schicksal da zugeteilt. Der Square René-Viviani ist mit seinen wohlfrisierten Hecken, den strahlend grünen Rasenflächen, akkuraten Kieswegen und einladenden Bänken fast schon spießig ordentlich, aber wem das nicht gefällt, der kann ja weitergehen. Ab und zu verirren sich Touristen hierher – glücklicherweise nur die entspannten, nicht diese wahnsinnigen, die anstelle eines Kopfes eine Kamera oder ein Smartphone auf dem Hals zu tragen scheinen. Viel öfter jedoch machen es sich Einheimische auf den Bänken bequem und genießen den einmaligen Blick auf die mächtige Cathédrale Notre-Dame.
Hugo selbst wechselt jeden Tag die Perspektive, mal betrachtet er dieses riesige Bauwerk, mal den glitzernden Strom der Seine oder eine der vielen Straßen und Gassen, die sich um den Platz herumweben. Hier oben umgibt ihn Sicherheit, im Wipfel dieses über vierhundert Jahre alten Baumes, des ältesten Baumes in ganz Paris. Robinia pseudoacacia, allgemein als Robinie bekannt, wurde hier 1601 von ihrem Namensgeber Jean Robin gepflanzt - „und erblüht seitdem jedes Jahr wie eine jugendliche Schönheit“, denkt Hugo mit stolzgeschwellter Brust. Zwar wurden die höchsten Äste im ersten Weltkrieg von einer Granate weggerissen, aber die robuste Dame hat überlebt. Hugo senkt seinen Blick und betrachtet die beiden Krücken aus Beton, die den Stamm von zwei Seiten stützen und tief in der Erde verankert sind. Sieht nicht schön aus, erfüllt aber seinen Zweck.
Der Himmel färbt sich rosa und Hugo steht auf. Ganz sachte, um das schmerzhafte Knacken seiner Knie abzumildern. Ja, alter Knabe, vierhundert Jahre Arbeit gehen auch an dir nicht spurlos vorüber! Ein paar graue Haare hat er auch schon entdeckt, aber er ist nicht sonderlich eitel. Und hey, im Vergleich dazu, wie verbraucht manche Menschen bereits mit vierzig aussehen, ist er mit dem Zehnfachen auf dem Buckel noch immer topfit. Hier oben herrscht eben eine andere Zeit, sie altern mit dem Baum, langsam und gemächlich. So lange es die rüstige alte Madame Robine gibt, werden auch sie existieren, denn es ist ihre Aufgabe, sie zu beschützen und ihre Geschichte zu erzählen. Ihre und die dieses Platzes.
Die ersten Jahre waren verwirrend, als sie noch ein wenig ratlos und unbeholfen auf den Ästen und in den kleinen Höhlen des jungen Baumes heranwuchsen und versuchten zu verstehen, warum sie hier waren. Dann begann Madame, ihnen Botschaften zu senden, indem sie Buchstaben auf ihrer Rinde erscheinen ließ. So lernte das kleine Volk der Robinianer, dass sie dafür sorgen sollten, die Geschichte dieses Ortes zu bewahren, gute Menschen hierher zu führen, um sie daran teilhaben zu lassen, und schlechte Menschen fern zu halten.
Natürlich verirrten sich letztere dennoch ab und zu auf den Platz. Am schlimmsten waren diejenigen, die mit Taschenmessern dämliche Herzen in Madames Rinde ritzen wollten. Ihnen fehlte der Blick für die Schönheit. Sie trampelten achtlos über die Blumenwiese, die damals noch den Baum umgab, und rupften alles aus dem Boden, nur um es kurz zwischen den Fingern zu zwirbeln und es anschließend wieder wegzuwerfen. Doch die Robinianer hatten mit der Zeit ein gutes Verhältnis zu den Tauben in ihrer Nachbarschaft aufgebaut und so war immer eine in der Nähe, um auf Zuruf einem solchen Idioten mitten auf den Kopf zu scheißen.
„So, genug in Erinnerungen herumgedümpelt!“ Hugo betritt seine kleine Wohnung auf dem achten Stock und beginnt, sich für die Arbeit anzuziehen. Er hat heute die Flugschicht, Strecke Louvre-Tuileries-Place de la Concorde. „Da wird wieder einiges los sein“, murmelt er in seinen Bart. Hugo ist kein großer Freund der allseits bekannten Touristenattraktionen, jedoch hat er hier eine riesige Auswahl. Und sollte niemand dabei sein, der ihm passend erscheint, kann er immer noch nach links abbiegen und die Gassen jenseits der Seine nach einem Einheimischen absuchen. Die Vergangenheit hat jedoch gezeigt, dass Besucher der Stadt empfänglicher für die Robinianer sind. Sie haben in der Regel keinen Zeitdruck und sind bereit, sich treiben zu lassen. Die Pariser Geschäftsfrau dagegen hetzt über die Straße, ohne Sinn für Träumereien.
Hugo greift nach seinem Brustpanzer, der in der Garderobe am Haken hängt. Sicherheit geht vor. Seit die Stadt immer größer und hektischer wurde, haben sie einstimmig beschlossen, bei den Flugschichten Schutzkleidung zu tragen. Man muss das Schicksal ja nicht unbedingt herausfordern. Nachdem er ihn festgeschnallt hat, streift er sich die Propellerapparatur über, die die raffinierten Kollegen aus der Technikabteilung über Jahrzehnte hinweg perfektioniert haben. Der Flug über die zahllosen Straßen von Paris läuft mittlerweile wirklich ohne jegliches Geruckel und auch Absinken, Aufsteigen und schnelles Kurvengefliege klappen tadellos. Hugo überprüft noch einmal den Tank, setzt seinen Helm auf und klettert auf den obersten Ast, wo sich ihr Start- und Landeplatz befindet. Die Sicht ist perfekt heute. Er zieht an den beiden Leinen rechts und links, der Motor auf seinem Rücken fängt an zu rattern und die rotierenden Propeller heben ihn sanft nach oben. Auf einer Höhe von etwa fünfzehn Metern gibt er Gas und fliegt gemächlich die Seine entlang, die unter der aufgehenden Sonne funkelt.
Verzückt beobachtet Hugo, wie Paris erwacht und es unter ihm immer hektischer wird. Er hat blendende Laune an diesem Morgen. Sein Bauch sagt ihm, dass irgendwo da unten ein perfekter neuer Zuhörer umherläuft und den wird er heute finden!
Eine Weile fliegt er über die Dächer und Gassen hinweg bis die prächtigen Bauten des Louvre sich unter ihm ausbreiten. Bei seinem Rundflug um die Pyramide schüttelt er – wie so oft – verständnislos den Kopf über die lange Schlange aus blitzenden Kameras auf Beinen, die sich bereits in dieser Herrgottsfrühe vor dem Eingang gebildet hat. „Warum wollen die Menschen bei strahlendem Sonnenschein durch dunkle Gänge irren und uralte Gemälde, Skulpturen oder Steine anglotzen?“, rätselt Hugo jedes Mal aufs Neue. „Würden sie durch die Sträßchen, Parks und über die Plätze dieser Stadt spazieren, könnten sie Geschichte erleben, atmen und sogar berühren – und nicht nur angaffen. Und einen gesunden Teint und glücklich müde Beine bekämen sie abends gratis sogar noch dazu!“
Lange hält sich der fliegende Robinianer jedoch nicht mit diesen Grübeleien auf, das hat er sich abgewöhnt. Man muss nicht alles verstehen und sich schon gar nicht über alles aufregen. Er saust über die Wiesen, Statuen und Kieswege des Jardin des Tuileries und genießt für ein paar Minuten die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht und das berauschende Gefühl des Fliegens. Doch als er die Spitze des Obelisken erblickt, reißt er sich zusammen, er ist schließlich zum Arbeiten hier! Er steigt ein paar Meter weiter nach oben und vor ihm breitet sich der größte Platz von ganz Paris aus.
Der Verkehr auf der Place de la Concorde ist wie immer gnadenlos laut. Wohin man blickt, hupende und wild blinkende Autos. Der erdrückende Gestank nach Abgasen steigt Hugo in die Nase und er verzieht angewidert das Gesicht. Naja, andererseits, besser als die herunter krachende Guillotine. Er hat lange genug gebraucht, um die umher rollenden Köpfe zu verdrängen, da schaut er sich lieber dieses Chaos an und erträgt ein paar Minuten lang die schlechte Luft.
Und da entdeckt er ihn. Ein junger Typ mit wilden, blonden Haaren und staunendem Blick. Hugo erkennt sofort, dass er es hier mit einem kleinen Träumer zu tun hat, mit jemandem, der sich gerne treiben lässt und nicht mit der Nase im Reiseführer von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit hetzt. Da liegt eine Unschuld und Neugier in seinen Augen, die Hugo endgültig versichern, dass dort unten sein nächster Zuhörer steht. Schnurstracks rast unser Robinianer auf ihn zu. Als er ihn erreicht, lässt er sich so leise wie möglich auf der Schulter des Träumers nieder.
„Wie heißt du?“, flüstert Hugo ihm ins Ohr.
„Simon.“ Noch im selben Moment wundert sich der Mann, warum er eben an seinen eigenen Namen gedacht hat.
Aber genau so funktioniert es. Hugo reibt sich zufrieden die Hände. Das Flüstern seines Volkes schleicht seit jeher in die Köpfe derjenigen, die sie ausgesucht haben und tarnt sich geschickt als „Gedanken“. Es muss aber unbedingt bei diesem behutsamen Wispern bleiben, denn die Leute erschrecken, wenn die Stimme „in ihrem Kopf“ zu laut wird. Oft zucken sie dann zusammen, wedeln mit der Hand, als wollten sie eine Fliege verscheuchen und laufen verwirrt davon. Ja okay, zugegeben, manchmal machten sich die Robinianer einen Spaß daraus und hielten sich die runden Bäuche vor Lachen, aber ihrer täglichen Arbeit war das nicht gerade zuträglich, denn erschrockene Menschen ließen sich nur noch schlecht durch leise Worte lenken.
Aber zurück zur Sache. Oder besser zurück zu Simon, der nun nicht nur staunend, sondern auch ein wenig verwirrt aus der Wäsche glotzt.
„Lauf zurück zum Louvre. Im zweiten Innenhof, also dem ohne Pyramide, biegst du rechts ab und überquerst die Brücke mit den vielen Schlössern. Danach halte dich links und folge der Seine ein Stück. Ich zeige dir einen ganz besonderen Ort – versprochen!“
Während Simon sich bereits in Bewegung gesetzt hat, säuselt Hugo ihm behutsam diese Anweisungen ins Ohr. Ein wenig ähnelt der junge Mann mit dem strubbeligen Haar einem Schlafwandler, der einer Marionette gleich an unsichtbaren Fäden durch Paris geführt wird. Unser Robinianer sitzt auf seiner Schulter und strahlt mit der Sonne um die Wette. Das ist ein dufter Typ, sehr offen, spontan und empfänglich. Es wird eine wahre Freude werden, ihm alles zu zeigen und zu erzählen!
Nach einer Dreiviertelstunde – Simon hat es nicht eilig und bleibt ab und zu stehen, um sich zu fragen, wo er eigentlich gerade hinlaufe – erreichen die beiden den Square René-Viviani. Hugo platziert seinen neuen Freund auf einer Bank, auf der er sowohl Madame Robine, als auch die Kathedrale im Blick hat.
„Manche Menschen“, wispert Hugo, der es sich auf Simons Schulter bequem gemacht hat, „haben von Geburt an schlechtere Chancen als andere. Das ist unfair, aber nun mal Realität. Der Mann, dem die kleine Kirche dieses Platzes ihren Namen verdankt, hatte besonderes Pech. Denn es waren nicht etwa der falsche Ort oder die falsche Zeit, die ihm seit Beginn seines Lebens Steine in den Weg legten, sondern ein paar Hexen. Und ich kann dir sagen, wir sprechen hier nicht von rothaarigen, heißen Fegern, die auf ihrem Besen umher heizen und ab und zu mal ein bisschen Zaubersuppe kochen. Nein, ich rede von richtig fiesen Biestern! Aber von vorne ...“
Simon reibt sich die Stirn und betrachtet die kleine Kirche, vor der ein Baum steht, der ziemlich alt zu sein scheint, denn er wird von zwei Betonpfeilern gestützt. Warum genau denkt er gerade über Hexen nach?
„Schhhh ... Entspann dich und hör einfach nur zu. In der Nacht als Julien – später Saint Julien le Pauvre genannt – geboren wurde, beobachtete sein Vater heidnische Hexen dabei, wie sie sich an seinem Sohn zu schaffen machten. Sie erlegten ihm den Fluch auf, irgendwann seine Eltern zu töten. Völlig außer sich wollte der Mann sein Kind loswerden, aber der Mutter war es unmöglich, ihr eigen Fleisch und Blut wegzugeben. Julien wuchs heran und wunderte sich immer öfter über die misstrauischen Blicke seines Vaters und über die Tränen seiner Mutter, die aus ihr hervorsprudelten, sobald sie ihn ansah. Eines Tages konnte die verzweifelte Frau den Fragen des jungen Mannes nicht mehr ausweichen und erzählte Julien von dem grausamen Fluch, der auf ihm lag. Erschüttert über ihre Worte schwor Julien, eine solche Sünde niemals begehen zu können und verließ seine Eltern. Vermutlich wollte er selbst der kleinsten Möglichkeit keine Chance einräumen und entfernte sich so weit wie möglich von seinem Zuhause. Er lief und lief und lief. Nach fünfzig Tagen – so sagt man zumindest, du weißt ja, wie löchrig diese alten Überlieferungen sein können, vielleicht waren es auch einundfünfzig, krchchch ...“
Hugo wackelt glucksend herum, bemerkt aber schnell, dass nur er über seinen Witz lacht. Oder was er für einen Witz hält.
„Okay okay, entschuldige, war nicht mein bester, ich geb's ja zu. Also wo war ich? Ja genau, nach fünfzig Tagen also erreichte Julien Galicia, wo er sich mit einer Frau verheiratete, die den Ruf genoss, ein guter Mensch zu sein. Klingt ganz nach 'Happy End', was?“
Simon nickt. Völlig gebannt lauscht er der Stimme und betrachtet nachdenklich die kleine Kirche. Niemand sonst stört seine Versunkenheit und Hugo lächelt selig.
„Nun, leider muss ich dich enttäuschen, mein Freund, denn die Geschichte geht noch weiter. Wir spulen zwanzig Jahre vor. Juliens Eltern machten sich auf die Suche nach ihrem Sohn, sie konnten es nicht ertragen, in Ungewissheit über sein Schicksal zu leben. Sie trafen auf seine Frau, die sich vor Freude über diese Zusammenkunft rührend um die beiden kümmerte und sie für die Nacht in Juliens und ihrem Schlafzimmer unterbrachte. Während all dies geschah, befand sich unser armer Titelheld völlig unwissend im angrenzenden Wald auf der Jagd, wo ihn der Fluch schließlich einholte. Eine Stimme zwischen den Bäumen ließ ihn hochschrecken. Ihr Tonfall war gemein, hinterlistig und schadenfroh: ‚Ich habe Neuigkeiten für dich, Julien! Während du hier durch den Wald schleichst, amüsiert sich deine Frau mit einem anderen Mann. Sieh ruhig nach, sie liegen gerade in eurem Ehebett.’ Die Worte krochen direkt in Juliens Herz und schnürten ihm die Luft ab. Wie von Sinnen rannte er nach Hause und stürmte auf direktem Weg ins Schlafzimmer. Dort lagen im Halbdunkel tatsächlich ein Mann und eine Frau in seinem Ehebett. Vor Wut rasend und von der Stimme im Wald vergiftet zögerte Julien keine Sekunde und tötete beide mit seinem Schwert.“
„Ach du Scheiße!“, platzt es aus Simon heraus.
„Ja, du sagst es! Nach der Tat taumelte er benommen hinter das Haus und sah seine Frau im Garten sitzen, die ihm sagte, dass seine Eltern zu Besuch seien und sich oben im Schlafzimmer ausruhten.
Kannst du dir die Verzweiflung vorstellen, die ihn in diesem Moment zerfressen haben muss?“
Der junge Mann schüttelt mit aufgerissenen Augen nur stumm den Kopf.
„Schlimme Geschichte ... Aber sie ist mit diesem Ort verflochten und deshalb habe ich sie dir erzählt. Du fragst dich nun sicher, warum die kleine Kirche hier gerade nach diesem vom Schicksal gebeutelten Mann benannt wurde. Nun, nach diesem tragischen Vorfall widmete sich Julien ganz dem Wohl der Menschen. Er ersuchte Vergebung in Rom und baute von seinem Geld sieben Krankenhäuser und fünfundzwanzig Herbergen, die Pilgern als Unterkunft dienen sollten. Hier auf diesem Platz stand vor langer Zeit ebenfalls ein Haus, in dem Pilger Zuflucht suchten. Als es über die Jahre zerfiel und schließlich die Kirche an seiner Stelle erbaut wurde, bekam sie den Namen Saint-Julien-le-Pauvre. Und so schließt sich der Kreis wieder.“
Hugo gefällt sich in der Rolle des Geschichtenerzählers. Ganz besonders aber genießt er die anschließende Stille, wenn die Worte im Kopf seines Zuhörers nachklingen, wenn sie um ihn herum schwirren und er versucht, sie mit den Augen wieder einzufangen. Hugo dreht sich zur Seite und erkennt an Simons Blick, dass auch er gerade den Buchstaben nachjagt. Die Sonne wärmt den Platz, der Tag schreitet voran und Erzähler und Zuhörer lassen die Zeit einfach vorbei rieseln und blinzeln vor sich hin.
Ein zorniges Magenknurren holt beide schließlich wieder zurück ins Hier und Jetzt. Simon hält sich den Bauch und schaut auf die Uhr. Verdammt lange sitzt er hier schon auf der Bank, umgeben von dieser seltsamen Traumblase. Hugo reibt sich die Augen, steht auf und greift zur besseren Balance nach Simons Ohrläppchen.
"Oha, das klingt so, als solltest du dringend eine Kleinigkeit essen. Ich werde jetzt noch eine Runde über die Seine drehen und dann Feierabend machen. Es war mir eine große Freude, heute mit dir hier gesessen zu haben, ich habe ein wirklich gutes Gefühl bei dir. Eine Kleinigkeit will ich dir aber noch über Madame Robine erzählen, bevor ich abhaue. Ich bin mir sicher, du erzählst die Geschichte dieses Ortes irgendwann jemand Besonderem und vielleicht kommst du dazu sogar noch einmal her. Das fände ich schön! Dann könnte ich es mir eine Weile bei euch gemütlich machen und ausnahmsweise mal selbst zuhören. Ja, das würde mir gefallen. Aber genug, bevor ich hier in alt-Männer-Gefühlsduselei abdrifte, hör gut zu ...“
Als in Simons Kopf kurze Zeit später plötzlich Ruhe herrscht, erhebt er sich langsam und streckt gähnend seine Arme und Beine. Ein Knackskonzert der Gelenke, die erschrocken den Befehl von oben erhalten, sich gefälligst wieder zu bewegen. Eine Sache noch! Entschlossen läuft er auf den ältesten Baum von Paris zu, der mittlerweile lange Schatten wirft und trotz seiner Krücken majestätisch den Platz überblickt. Simon legt die Hand auf die Rinde und lässt sie mit geschlossenen Augen langsam am Baumstamm nach unten gleiten.
Wenige Minuten später, als er am Seineufer entlang Richtung Louvre schlendert, zufrieden in ein Croque Monsieur beißend, schwirrt da noch immer dieser Satz um ihn herum.
„Wer Madame Robines Rinde berührt, dem wird sie Jahre voller Glück schenken!“
Simon ist schleierhaft, wie er auf so einen Quatsch kommt – ein Glücksbaum namens Madame Robine. Eigentlich glaubt er nicht an Glücksbringer. Aber dieses Mal ist es anders. Da war etwas auf diesem Platz, auf diesem Baum ...
Hungrig haut er seine Zähne in das Sandwich und biegt rechts ab, während die Tauben hinter ihm entzückt sind über die zurückgelassenen Krümel auf dem alten Kopfsteinpflaster.