Ich habe euch alle so lieb gehabt
Es ist beruhigend, zu sehen, dass ihr alle auf mein Begräbnis gekommen seid. Das ist Balsam für eine Seele wie mich. Ihr seht mich zwar nicht, aber ich schwebe hier so über euch und es tut mir so Leid, wie ihr um mich trauert, weint. Ich würde gerne noch unter euch sein, dann könnten wir jetzt gemeinsam lachen. Aber ich habe mich anders entschieden. Ich hatte ein schönes Leben, eine wohlbehütete Kindheit, beruflich lief es nicht schlecht und mit Robert war ich so glücklich – ich wäre so gerne noch da…
Ja, ihr könnt es noch immer nicht fassen, wie ich das tun konnte.
Was mag wohl in mir vorgegangen sein, werdet ihr denken. Wenn ich es euch doch nur erklären könnte. Ich konnte gar nicht anders handeln, ich musste mich für Stefan entscheiden. Ich hab ihn in mir getragen und geliebt, wie hätte ich ihm sein Leben für meines nehmen können? Niemals hätte ich das verkraftet, und auch Gott hätte mir das wohl nie verziehen… Gewiss, leicht fiel es mir nicht, das gebe ich ja zu. Nein, ich will gar nicht weiter drüber nachdenken… aber…
Ich glaubte doch so sehr!
ER würde es gut mit uns meinen, ich war überzeugt davon. – War ich Dir nicht immer eine gute Christin? Warum nur hast Du es nicht möglich gemacht, oh Herr?! Warum ICH? Warum hast Du genau mich genommen? Warum hast Du mir nicht noch wenigstens zwei Monate Zeit gegeben? Die Ärzte hätten das doch wieder hinbekommen – mit Deiner Hilfe… Nein, ich klage Dich nicht an, Du hast immer Deine Gründe, warum Du etwas tust… Aber WARUM DAS?
Jetzt geht ihr alle an meinem Sarg vorbei, sicher ist euch mulmig zumute, ich kann es mir vorstellen. – Es tut mir selbst weh, dass ich euch damit konfrontieren musste. Ich wollte das nicht so, ganz sicher nicht. Ich konnte nicht anders.
Kümmert euch bitte gut um Stefan, er ist mein Sonnenschein, mein Leben steckt jetzt in ihm. Ich bin in ihm sozusagen noch einmal jung. Streichelt ihn bitte viel, ich kann es ja nicht mehr. Lasst ihn nicht schreien, sondern nehmt ihn heraus aus seinem Bettchen und tragt ihn herum, lest ihm seine Wünsche von den Augen ab und erfüllt sie ihm bitte an meiner Stelle. Ich würde ihn so gerne in meinen Armen halten. Seid so gut und macht alles so, wie ich es aufgeschrieben habe. Es ist mir so verdammt wichtig, dass er ein fröhliches, zufriedenes Kind wird.
Als wir erfuhren, wir würden bald um einen Menschen mehr sein, leuchtete der Himmel vor Freude. Jeder, dem wir unser Geheimnis verrieten, bekam ein glückliches Strahlen im Gesicht. Alles lief so wunderbar: die neue Wohnung, die wir von den Eltern bekommen haben, gleich daneben die Wohnung meiner Schwester Manuela und ihrem Mann, Werner. Es war alles so gut geplant und doch…
Es kam mir schon seltsam vor, als der Arzt sagte, er wolle, dass du zu einem Gespräch kommst, Robert. Er wusste sicher, du würdest mich halten, mich auffangen. – Dieses blöde Muttermal, das unser Leben zerstört hat…
Abtreiben und Chemotherapie oder dich austragen und sterben. Abtreiben oder selbst sterben. – Ein Sterben auf jeden Fall. Dein oder mein Leben. – Chemotherapie oder du, meine Gesundheit gegen dein Leben. – Abtreiben? Dich?! Abtreiben?!
Ich entschied mich, zu sterben, denn mein Kind muss leben. Ich konnte mich doch nur für mein Kind entscheiden… Ja, dachte ich, wenn Gott auf unserer Seite ist, und ich glaubte wirklich daran, dann würde das doch alles gar nicht so kommen. Dann würde ich noch Zeit haben, gesund zu werden. Dann, wenn Stefan auf der Welt ist und lebt.
Ich glaubte so fest. Glaubte überhaupt nicht daran, dass es so schnell gehen würde. Ich sagte doch, wir wollen im Frühling ganz groß feiern – Stefans Fest. Ein buntes Fest voller Leben und Luftballons. Der Pfarrer wollte auch kommen. – Naja, jetzt müsst ihr ihn ohne mich hochleben lassen, meinen Sonnenschein, nehmt ihn an meiner Stelle auf – von Anfang an als ganzen Menschen, bitte.
Was mir am meisten weh tut, ist deine Reaktion, Werner: Wieso hast du das getan? Wenn ich darauf eine Antwort hätte. So nehme ich die Frage mit und du wirst sie mir niemals beantworten. Manuela hätte mich doch sicher am besten ersetzt, sie ist doch meine Schwester. Warum musstest du so gefühllos gegenüber Robert sein? Ihn auszuschließen – wie konnte dir nur so etwas einfallen? Hast du dir irgendetwas gedacht, bei dem Versuch, meinem Kind den Vater zu verbieten, wenn du ihn adoptieren solltest? Bist du von allen guten Geistern verlassen?
Aber auch dir nehme ich das nicht übel, wer weiß, was dich dazu trieb. Manuela wäre die erste Wahl gewesen, jetzt wächst er eben bei seiner Oma auf.
Ach, liebe Mama! Bitte gib gut auf Stefan Acht. Lass ihn nicht alleine im Krankenhaus, jetzt, wo er noch so viel zu schwach ist und nicht einmal heute hier sein kann… Ich würde ihn so gern sehen, aber angesichts der zweieinhalb Kilo … und die Kirche wäre auch viel zu kalt für ihn.
Er wird es vermutlich nicht leicht haben, sei immer lieb zu meinem Kleinen. Erzieh ihn nicht gar so katholisch, wie du es bei mir getan hast. Sonst hast du ja alles gut gemacht, ich war all die Jahre so glücklich. Danke für meine schöne Kindheit, die du mir gegeben hast. Liebe Stefan bitte ebenso wie mich. Ich weiß, du bist nicht mehr so jung, hast nicht mehr die Energie. Aber du wirst sehen: Unser kleiner Sonnenschein gibt sie dir wieder. Du wirst Kraft haben, wenn du ihn ansiehst, wirst innerhalb weniger Tage um zehn Jahre jünger sein.
Heute fühlst du dich schwach, weil du mir, deinem eigenen Kind, ins Grab nachschauen musst. Aber das vergeht bald wieder. Du wirst dich schnell daran gewöhnen, dass ich nicht mehr da bin, denn Stefan wird dir keine Zeit lassen, darüber nachzudenken. Ich hoffe, du kannst ihn so lieben wie mich. Seit ich ihn zum ersten Mal in meinem Bauch spürte, lässt mich diese Liebe nicht mehr los. Ich hoffe, du schaffst es auch ohne ihn selbst ausgetragen zu haben, diese Gefühle zu entwickeln? Denk einfach an die, die du bei mir hattest, kannst du dich noch erinnern? Du hast mich damals sicher genauso geliebt, wie ich Stefan. Ich verlass mich auf dich.
Papa, du hast wirklich alles getan, was du konntest. Es war so lieb von dir, nach Lourdes zu fahren, um für Stefan und mich Heiliges Wasser zu holen. Du siehst ja, es hat nicht geholfen, leider. Aber ich weiß, dass du es gut gemeint hast. Was hättest du denn auch wirklich Effektives tun sollen, es war doch aussichtslos. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen.
Jetzt geht ihr alle nach draußen, um meinen Körper einzugraben, und ich sehe euch dabei zu.
Eigenartig, wo ich mich befinde. Mein Geist ist hier über euch und mein Körper in dem schönen Sarg, den ihr mir gekauft habt. Danke auch für die vielen Blumen. Ich wünsche mir, dass ihr mich hören könnt, dass ihr alles verstanden habt, was ich euch gesagt habe. Ich möchte nicht gehen, aber langsam werde ich immer dünner, luftiger, bald bin ich nicht mehr da, nicht einmal als Geist.
Ja, heute werden wir ein letztes Mal gemeinsam essen gehen. Ich werde nichts mitessen, aber lasst es euch schmecken. Ihr werdet auch gar nicht merken, dass ich da bin, denn heute werde ich mich ausnahmsweise ganz still verhalten, wie man das auf Beerdigungen so tut. Auf meiner Zieh-Harmonika kann ich euch in Zukunft nichts mehr vorspielen, wenn es was zu feiern gibt. Bestimmt werdet ihr das vermissen. Gebt mein Instrument Stefan, wenn er größer ist, vielleicht will er es ja lernen. Aber zwingt ihn nicht dazu.
Ich höre euch zu, wie ihr über mich sprecht und ihr wisst es nicht, irgendwie komisch. Seht mich nicht, hört mich nicht, fühlt ihr mich vielleicht? Habt ihr gar keine bösen Worte, keine schlechte Nachrede? Dann kann ich ja beruhigt und zufrieden sein, wenn ich ins Himmelreich eingehe. Ich danke euch für alles, womit ihr mein Leben bereichert habt.
Oma wird es gar nicht fassen können, dass ich nur wenige Monate nach ihr schon ankomme. Und wenn ich mich auf etwas freue, dann ist es, sie wiederzusehen. Das ist zumindest ein kleiner Trost. Ich werde ihr von euch allen schöne Grüße ausrichten.
Aber heute genieße ich noch mein letztes »Fest«, bis ich mich auflöse. Schließlich erlebt man soetwas nur einmal, das Erlebnis nach dem Tod, das wirklich allerallerletzte.
Ich habe euch alle so lieb gehabt.