Im Dunkeln
Die Bettdecke bis zur Nase hochgezogen liegt Jana da und lauscht angestrengt in die Nacht. Auf dem Nachttisch steht die kleine Lampe. Wenn sie nur die Hand ausstrecken und auf den Schalter drücken könnte. Doch sie wagt es nicht, auch nur einen Finger zu bewegen. Man weiß nie, wer in der Dunkelheit danach schnappt.
Es ist so heiß unter der dicken Federdecke. Der Pyjama klebt an ihrer Haut, die Haare im Nacken sind schweißfeucht.
Keine Bewegung ist im Raum. Alles still, bis auf das Blut, das in ihren Ohren rauscht. Sie spürt ihn ganz deutlich, wie er in einer düsteren Ecke lauert und auf seinen Moment wartet.
War das eben ein Rascheln? Schritte vielleicht, die sich langsam, schlurfend auf das Bett zubewegen? Schnell schließt sie die Augen. Schweiß bricht ihr aus allen Poren, und das Herz hämmert viel zu laut gegen die Rippen. Ob er es hören kann? Nicht bewegen. Keinen Muskel rühren. Die Angst lähmt sie, schnürt ihr den Hals zu, so daß sie kaum noch Luft bekommt. Sie glaubt, ihn atmen zu hören, so nah, daß er nur die Hand ausstrecken muß, um sie mit kalten Fingern zu berühren...
"MAMA!"
Jana legt ihre ganze Kraft in diesen Schrei, der ihre einzige Hoffnung ist. Wenn die Mutter sie jetzt nicht hört, wird er sie sich schnappen und etwas Schreckliches mit ihr tun. So schrecklich, daß man es sich nicht einmal vorstellen kann.
Die Sekunden verstreichen unendlich langsam. Sie kommt nicht. Niemand wird sie retten, sie vor dem Bösen beschützen, der gleich seine Hände um ihren Hals legen, sie mit sich zerren wird. Ihre Angst schraubt sich zu sinnloser Panik hoch, bis sich alles um sie herum zu drehen scheint.
Plötzlich geht das Licht im Flur an. Nackte Füße patschen auf dem Linoleumboden. In dem Moment, als Mama den Kopf zur Tür hereinstreckt, fällt alle Angst von Jana ab.
"Was ist denn jetzt schon wieder?"
Sie will ihr von dem Bösen erzählen, der wieder im Dunkeln lauert, sie bedroht und ihr etwas antun will. Sie wünscht sich nur noch, sich an Mamas weiche Brust zu kuscheln, von ihren beschützenden Armen umfangen zu werden, die Augen zu schließen und am sichersten Ort der Welt endlich schlafen zu können. Doch als sie die gerunzelte Stirn, den vorwurfsvollen Blick sieht, überfällt sie heiße Scham. Zum zweiten Mal hat sie die Mutter in dieser Nacht aus dem Bett geholt. Dabei hat Mama ihr doch schon so oft gesagt, daß sie morgen wieder früh aufstehen und arbeiten muß. Daß Jana das Nachttischlämpchen einschalten soll, wenn es ihr zu dunkel ist. Daß sie einfach an etwas Schönes denken, endlich die Augen zumachen und schlafen soll.
Sie hat ein schlechtes Gewissen und schämt sich fürchterlich.
Die Mutter wartet auf eine Antwort.
"Ich hab Angst", sagt Jana leise und wird rot.
"Meine Güte, Jana!" erwidert die Mutter ungeduldig. "Ich hab Dir schon hundertmal erklärt, daß es keinen Grund gibt, Angst zu haben!" Sie tritt ins Zimmer, öffnet den Schrank.
"Niemand im Schrank."
Sie bückt sich und schaut unter das Bett.
"Niemand unter dem Bett."
Sie breitet die Arme aus.
"Hier ist niemand, Jana."
Jana weiß es besser. Er versteckt sich irgendwo, macht sich ganz klein und wartet, bis sie wieder allein ist. Sie versucht, den dicken Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken.
"Ich lasse das Licht im Flur an. Denk an irgendwas Schönes. Wenn Du jetzt nicht endlich schläfst, werde ich wirklich böse!" sagst die Mutter leise.
Das Mädchen nickt, und heiße Tränen steigen ihr in die Augen, als Mama sich umdreht und geht.
Kurz darauf ist alles wieder still. Jana starrt an die Decke und versucht, nicht an ihn zu denken, nicht daran, wie er triumphierend grinst und sich voller Vorfreude die kalten Hände reibt.
Es ist kalt, und Paula beeilt sich, wieder zurück ins Bett zu kommen. Ihr Mann dreht sich zu ihr um, als sie unter die Decke schlüpft, und legt seinen Arm um sie.
"Was war denn los?", fragt er.
"Jana sieht mal wieder Gespenster," murmelt sie und schließt die Augen.
"Du solltest nicht jedesmal springen, wenn sie ruft. Sie muß lernen, daß sie dir nicht auf der Nase rumtanzen kann."
"Ja, du hast recht", antwortet Paula. Sie schmiegt sich an ihn und genießt die Nähe und Geborgenheit in seinen starken Armen.