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Ich saß in der Bahn und las ein Buch. Es war ein gutes Buch. Wenn ich bei einem Buch über Seite 19 hinaus komme, ist es ein gutes Buch. Ich war auf Seite 46. Es ging um einen Krieg.
So saß ich also früh morgens in der Bahn und gewöhnte mich an den Tag. In periodischen Abständen schweifte mein Blick nach draußen in die Dunkelheit und die Seitenzahl links unten erhöhte sich um eins. Die Bahn war warm und ich hatte einen Sitzplatz. Ein Vorteil, wenn man in der Nähe der Endhaltestelle wohnt. Die stehende Frau neben mir wußte das. Sie starrte mich finster an, aber ich hatte keine Probleme damit. Sie konnte ja noch den ganzen Tag sitzen, im Büro, beim Chef auf dem Schoß oder was weiß ich wo. Ich war zufrieden und wollte die Seitenzahl gerade wieder um eins...
Da hörte ich etwas. Walkman. Volle Lautstärke. Ein Alleinunterhalter für den gesamten ersten Triebwagen. Einen mußte es ja immer geben und solange er allein blieb...
Ich las beruhigt weiter.
Doch dann stockte ich. Mitten auf Seite 48. Habe ich schon erwähnt, daß ich noch was mitbekomme von der Welt, wenn ich ein Buch lese? Wie ein Delphin, der nur mit einer Hirnhälfte schläft. Immer fluchtbereit, wenn was ungewöhnliches passiert.
Persil Ultra. Das war Werbung. Das Buch war gut, immerhin Seite 48, aber die Realität schlug alles. Da hörte einer Werbung mit Walkman. Mitten in der Bahn. Freitag morgens. Volle Lautstärke. Ich lauschte. Dieses Mal mit ganzer Aufmerksamkeit. Ein Bier, Winterschlußverkauf in Nickern, dann etwas, was ich nicht erkannte.
Was zum Henker...?
Dann das Jingle. Der Moderator meldete sich. Ich entspannte mich. Lächeln. Alles klar. Das war das Radio. Er hörte Radio PSR. Aber warum? Doch dann fiel´s mir ein. Na logisch: Radio spart Batterien.
Ich nahm beruhigt mein Buch. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Seite 48. Es war Krieg, weil ...
Scheiß auf den Krieg! Radio ist ja okay, aber mit voller Lautstärke? Früh morgens in der Bahn. Wie kam man nur auf den Gedanken...
Gut ich war bei den Dachdeckern. Früh morgens fuhren wir nach Görlitz, um Dächer zu decken. Warum nach Görlitz? Keine Ahnung. Ich schätze, weil die Görlitzer Dachdecker nach Dresden mußten, um hier die Dächer zu machen. Und im Auto hörten wir Radio. Ich wollte immer Energy, aber die Jungs waren zwei und ich war bloß Aushilfe. Die brauchten PSR. Der Böttcher, der Fischer, der Vogtländer und die Radarfallen. Das waren Highlights auf der Fahrt auf´s Land. Früh morgens. Das brachte die Männers auf Touren. Den Jim Beam auf den Knien, die Kippe zwischen den Lippen, mit einer Hand am Lenkrad und im Radio PSR. Das brauchten sie, die Jungs. Wer sich in Görlitz sechs Kilo Ziegel in fünf Meter Höhe zuwarf, der mußte gut drauf sein.
Aber hier in der Bahn, wo alle, außer dem Fahrer, schliefen, wo sie alle in die Büros oder Schulen fuhren, um dort weiterzuschlafen?
Vorsichtig drehte ich mich um. Der Typ saß drei Sitze hinter mir. Vielleicht 17. Igelschnitt. Ohrhörer. Die volle Dröhnung. Total versunken. Ich zuckte zurück und dachte nach.
Okay da gibt es die Biker. Müssen in aller Frühe raus in die Kälte, in die Dunkelheit. Der totale Fight. Natürlich kein Licht. Die brauchen Dope, sonst bekommen sie´s nicht auf die Reihe. Drei Kaffeebohnen zum Frühstück. Binden sich die Haare mit nem Gummi fest, Kopfhörer ran und Mütze drauf. Los gehts. Scheiß auf den Gegenwind. Die Straße als Kampffeld. Und im Walkmann dröhnt die Mucke. Scooter. Das pusht. Wenn man den Takt schafft, dann geht´s ab. 160 beats per minute bei 32:11 und 21er Gangschaltung. Keine Ampel kann die stoppen.
Für die ist immer Grün. Die Straße den Bikern und der Parkplatz den Autos. Die hör´n nichts. Nur manchmal schauen sie auf und sehen die bekloppten Typen, wie die einen auf Scheibenwischer machen. Oder was Obszönes. Oder’s Maul aufreißen für was verbales unter die Gürtellinie, aber das hör´n die ja eh nicht.
Aber in der Bahn? In der warmen Bahn? Ohne Gegenwind und Bikerhasser? Man steigt einfach irgendwo aus und ist am Ziel. Wenn jemand mit der Bahn fährt, dann fährt er immer so, daß die Bahn nah am Ziel hält. Das nennt man Taktik. Wozu braucht man da ne Dröhnung? Und dann noch PSR?
Ich schaute auf das Spiegelbild im Fenster. Er war abgesackt. Den gegelten Kopf nach vorn. Es lief „I don´t like mondays“. Freitag morgens! Kein Wunder, daß man abhängt. Wo wollte er hin? In die Schule?
Okay denken wir an. Der gefürchtete Lehrerhasser.
Die Lehrerin steht vor der Klasse. Etwas blaß. Jung. Direkt von der Uni gekommen. Sie liest vor. Hat sich zu Hause alles rausgeschrieben. Den Stoff für die Jugend.
"Mit Solon, dem Begründer der Demokratie begann die Macht der aristokratischen ..."
Fuck Solon! Es lebe Hum Socke und seine neueste Single volle Pulle.
Huha ... I kill you ... huaaahahaha baby tonight...huha ... I fuck you ... huhaaa ... Dann ein Gitarrensolo.
Yeah das haut rein. Du siehst, wie sie auf dich zukommt. Ihr Mund bewegt sich.... I kill you ...huaaaaha.... I´ll fu.. sie reißt den Hörer ab
"... und ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie das Abitur schaffen wollen, wenn Sie hier so laut Musik hören, daß ich es bis nach vorn höre. Außerdem stören Sie Ihre Mitschüler."
Sie schaut bittend und hofft, daß ihr die Kurse für Eskalationsgespräche was gebracht haben.
Du blickst Dich um, zu den Mitschülern. Sie haben ihre Beschäftigungen unterbrochen Kaugummi kauen, Bildchen malen, Zettel schreiben, Zeitschriften lesen. Absolute Ruhe. Sie wollen ne Show, das ist fakt.
"Alles klar ich geh raus" sagst Du und schnappst Dir den Walkman.
I kill you .... hejaube... I fuck you...
Sie starren Dich an. Viele ungläubig, einige bewundernd, manche schauen schon wieder in die Zeitschriften. Sie sagt noch irgendwas, aber das geht Dir an der Hose vorbei. Du bist voll cool...yeah baby ...tonight I kill you ...
Aber PSR? Man kann doch nicht gelassen aus dem Zimmer schlendern und dabei ne Werbung für Pampers hören? Ich meine, das ist voll der Ablacher, aber das kann´s doch nicht sein. Das hat doch keinen Stil. Ich meine, man kann´s hören... zu Hause wenn einen keiner sieht, aber draußen mußt Du cool sein. Je härter deine Musik, desto härter bist Du. Und richtig laut, sonst merkt´s ja keiner.
Und hier in der Bahn lief Fats Domino. Nichts gegen Fats, aber bei voller Lautstärke mit Ohrhörer, konnte man nur noch schwer erkennen...
Das war´s! Man dreht voll auf und es plärrt nur noch. Die totale Übersteuerung. Bei billigen Kopfhörern knisterts manchmal oder setzt ganz aus. Kein Schwein merkt, daß das die Wildecker Herzbuben sind. Das klingt einfach nur verboten hart. Voll cool.
Ich hatte ihn durchschaut. Hatte die Lösung. Zufrieden schaute ich zurück.
Uh. Er stand auf, kam auf mich zu. Coole Hose. Drei Nummern zu groß. Uh Und die Turnschuhe. Puuuumma. Allerfeinste Sahne. Da ham wir drei Tage dafür geschuftet in den Ferien. Yo baby. Gib´s uns. Der Rucksack voll cool über die linke Schulter, der Omi hinter ihm voll auf die Brille-.
Er fingerte in der Gesäßtasche. Ein kleines Papp-Päckchen auf dem Arschbäckchen. Die Räucherstengel. Logo. Was ist die Marke? Ne Camel. Hinters Ohr gesteckt. Yo. Ach was sind wir heute wieder cool!
Die Bahn hielt.
Ich schaute nach draußen. St. Benno Gymnasium. Alles klar. Die Tür ging auf. Der Typ stockte, fingerte in der Innentasche seiner Adidasjacke. Scheinbar am Walkmann. Und dann fand er die Playtaste und die Mucke ertönte.
I kill you ....huhaaaajippieje.... baby tonight...
Mitten im Gitarrensolo stieg er aus.