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Imaginary Friends
Imaginary Friends
Ein alter Indianer geht auf leisen Sohlen durch den Wald. Sein Haar ist lang und grau, seine Augen dunkel und matt. Er sieht traurig aus und sehr, sehr müde.
An einer Fußgängerampel steht ein junger Mann. Mit der linken Hand schiebt er einen Kinderwagen, in der rechten hält er eine vollbepackte Alditüte. Sehnsüchtig sieht er einem Ford Focus nach der in eine Seitenstraße biegt und denkt dabei an seine Frau und sein Kind.
Die Zigarette in ihrer Hand ist längst bis zum Filter herunter gebrannt, der Cappuccino vor ihr auf dem Tisch längst kalt. Sie sitzt in einem Café und blättert in einer Illustrierten. „Was tu ich hier eigentlich?“ fragt sie sich zum hundertsten Mal: „Hat das alles überhaupt einen Sinn?“
Der Alte Indianer denkt zurück an damals: Zwölf Jahre ist es nun her, dass er sein Pferd parallel zur Straße durch das dichte Unterholz führte. Er war immer da gewesen wo sie war, immer an ihrer Seite gewesen auch wenn sie ihn nie gesehen hatte. Verborgen hatte er sich gehalten, unsichtbar aber jederzeit bereit mit einem Sprung bei ihr zu sein um sie vor jeglicher Gefahr zu schützen. Das war sein Job gewesen und er hatte ihn gerne getan bis zu dem Tag an dem sie ihm gekündigt hatte: „Ich brauch keinen Indianer mehr. Ich bin jetzt selber groß!“
„Ich war ihre beste Freundin!“ Sie lächelt als sie sich daran erinnerte wie sie gemeinsam im Sandkasten gespielt hatten. „Immer war ich da, wenn sie jemanden zum spielen brauchte! Lang, lang ist’s her.... Wann ist unsere Freundschaft eigentlich zu Ende gegangen? Und warum?“
Die Ampel schaltet auf Grün und ein Strom von Fußgängern überquert die Straße. Der Junge Mann sieht sich suchend ihre Gesichter an: „Das könnte sie sein! Oder das? Nein, viel zu jung!“ Er hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben sie irgendwann, irgendwo, wieder zu sehen.
„Was wohl aus ihr geworden ist?“ Er stellt sie sich oft, diese Frage, und erinnert sich daran wie er Nächte lang an ihrem Bett gesessen und sie über ihren Schmerz hinweg getröstet hatte. Fast zehn Jahre ist es nun her aber in einem ist er sich sicher, er wird sie wiedererkennen wenn sie ihm irgendwo begegnet.
Der alte Indianer ist der erste der spricht: „Ich habe es satt! Mein Leben ist so sinnlos geworden seit damals. Ich habe meinen Job geliebt. Aber jetzt, wozu bin ich überhaupt noch hier?“
„Ich habe eine Familie, eine wunderschöne Frau und ein kleines Kind, eigentlich müsste ich glücklich sein.“ Sagt der junge Mann. „Ich wüsste nur zu gerne, was aus ihr geworden ist!“
„Sie war meine einzige Freundin!“ Die junge Frau blätterte eine Seite der Illustrierten um. „Seit ich sie nicht mehr habe ist mein Leben so trostlos geworden. Ich bin so einsam ohne sie!“
Sie steht in der Küche und betrachtet die Bilder aus ihrer Jugend: Ein alter Indianer auf einem weißen Pferd, ein kleines Mädchen mit Rattenschwänzen, ein dunkelhaariger Schönling mit Dreitagebart. „Was wohl aus ihnen geworden ist?“
Sie hört seine Schritte hinter sich und spürt seine Hand auf ihrer Schulter. Sanft dreht er sie zu sich um und gibt ihr einen Kuss. Er riecht gut. Seine Lippen sind feucht und warm. „He, Schatz!“ seine Stimme klingt angenehm weich: „Ich liebe Dich!“ „Ich Dich auch!“ Sie legt den Kopf an seine Brust und denkt bei sich: „Es ist so schön, dass Du echt bist!“
Oktober 2004