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In der Dämmerung

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21.03.2004
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In der Dämmerung

Dämmerung

Es heisst, die Dämmerung sei die dunkelste Zeit des Tages. Man würde es nicht denken, da es doch die schwarze Nacht ist, die alles Licht verbannt, die Nacht, die einen erblinden lässt, und in den Träumen der Nacht sind die Dämonen da, um einen zu quälen, um den Schlaf zu rauben. Zumindest denkt man das.
Doch in Wirklichkeit ist es die Dämmerung, die die Sinne täuscht, im diffusen Licht der Dämmerung glaubt man in jedem Schatten ein Ungeheuer, einen Feind zu sehen, und in der Dämmerung merkt man, wie die Dämonen sich zu regen beginnen, mit der Gewissheit, dass sie in der Nacht dann unbarmherzig zuschlagen werden. Genau wie jetzt.
Die Sonne versinkt träge hinter den Bäumen, zu müde, ihre blassen Strahlen noch weiter zur Erde zu senden, zu egoistisch, um mich vor meinen Ängsten zu bewahren. Ein kalter Wind fährt durch die kahlen Äste der Bäume, reisst ihnen die letzten verdorrten, braunen Blätter ab und wirbelt sie noch einige Zeit mit, bevor er sie dann achtlos zu Boden fallen lässt.
Langsam, ganz langsam, schleicht sich die Dämmerung herein, und mit ihr kommt die Kälte mit ihren klammen Fingern, die spinnengleich nach einem Opfer greifen. Ich lege mich auf den Boden, kleine Steinchen pieksen mich in den Rücken, der feuchte Sand passt sich nur dürftig den Rundungen meines Körpers an. Mit weit geöffneten Augen starre ich in den Himmel. Genau über mir hat er eine königsblaue Färbung, doch gegen den Horizont hin wird er immer fahler, bis er dann ganz, ganz weit weg von mir, wo sich Erde und Himmel zu berühren scheinen, die schmutzige Farbe von trübem Abwaschwasser hat. Neben mir rauscht der Fluss, wälzt eisig kaltes Wasser, Dreck und Abfall vor sich her, seit Jahrhunderten schon, und er wird es auch noch Jahrhunderte tun. Ich höre die Stimmen von dort, die mir zuflüstern: ‚Komm, komm, Liadan, komm mit uns! Wir befreien dich, wir nehmen dich mit ins grosse, weite Meer, wo du frei bist, frei von aller Pein, wo du das kalte Herz einer Meerjungfrau hast, die weder lieben noch hassen kann! Komm, komm, komm mit uns...’ Ja, ich weiss, heute werde ich ihnen folgen.

Schon als Kind hatte ich ihren Ruf gehört, schon als Kind kam ich hierher, um vor dem Alltag und ihrem Blick zu fliehen, und als Kind hatte es mir auch geholfen. Hier war meinen kleine Oase der Ruhe und des Friedens gewesen, hier hatte ich versuchen können, ein normales Kind zu sein. Doch irgendwann konnte ich mich nicht mehr verstecken, überall beobachtete sie mich, überall fühlte ich ihre Schläge auf meinem Körper und ihren Blick, überall war sie präsent. Das Wasser des Flusses vermochte nie das Gefühl des Schmutzes und der Schuld von meinem Körper abwaschen, immerzu fühlte ich mich klebrig, überall.

Auch jetzt fühle ich ihren Blick auf mir, ich weiss, dass sie mich beobachtet. Neunzehn Jahre sind es jetzt schon, dass ich nicht mehr in Ruhe essen, schlafen, arbeiten und denken kann, stets habe ich das Gefühl, unter Beobachtung, unter ihrem wachsamen Blick zu stehen, und ich weiss, was das heisst. Ich weiss, was es heisst, gefallen zu wollen, Ansprüchen nicht genügen zu können, was es heisst, und ebenso gut weiss ich, was es heisst, dafür bestraft zu werden. Sei es ein kleiner Fleck auf dem rosa Kleidchen, sei es ein Fingerabdruck auf einem sauberen Glas, sei es ein unangebrachtes Wort bei Tisch.
Ohne hinsehen zu müssen, weiss ich, dass mein Körper voll feiner, weisser Striche ist. Narben, die Andenken an ihre Bestrafungen, stumme Zeichen präzisierter, beinahe schon kunstvoll ausgeführter Schläge.

‚Du hast die Schuld bei dir zu suchen’, pflegte sie zu sagen. ‚Du bekommst nur das, was du verdienst. Irgendwie muss man dir ja Disziplin beibringen! Doch dabei bist du nicht einmal die Schläge wert, die ich dir verpasse. Du bist nichts Weiteres als ein Klotz an meinem Bein, eine Belastung, an der ich schwer zu tragen habe. Hast du verstanden?’
‚Ja’, antwortete ich immer, demütig wie ein kleiner Hund. ‚Wie heisst das?’ – ‚Ja, Mama.’

Natürlich war ich es nicht wert, ihr Kind zu sein, und noch immer bin ich es nicht. Aber was habe ich denn verbrochen, dass sie mich so behandelte? Immer hatte ich mich bemüht zu gefallen, in der Schule und im Sport vollbrachte ich Spitzenleistungen, die Männer standen Schlange, alle Lehrer lobten mich wegen meiner Disziplin. Doch nie genügte ich ihren Ansprüchen, und immer bestrafte, verprügelte sie mich, zuerst nur mit den Händen, dann mit Kerzenständern, Büchern, Schuhen.
Die Dunkelheit ist nun über mich hereingefallen wie ein Jagdhund über das erschöpfte Reh, ich zittere, nicht wissend, ob es wegen den erwachenden Dämonen oder wegen der Kälte ist. Denn immer in der Dämmerung kehren sie zurück und fallen gnadenlos über mich her, lassen mich unzählige Situationen noch einmal durchleben. Die Schläge. Der Vorwurf, ich sei Schuld, dass mein Vater uns verlassen hatte.
Am Horizont sind unheilvolle, graue Wolken aufgezogen, heben sich einer bedrohlichen, undurchdringbaren Wand gleich vom Himmel ab, und schon fühle ich die ersten, schweren, klebrigen Tropfen auf meiner Haut.
Durch den Regen höre ich eine Stimme, die Stimme eines kleinen Mädchens. ‚Mama... Mama... hast du mich denn überhaupt nicht lieb? Auch nicht ein ganz klein wenig?’ Die Mama lacht höhnisch auf, es tönt wie das heisere Bellen eines Hundes. ‚Wer’, sagt sie schliesslich, ‚Wer liebt schon einen spitzen Stein in seinem Schuh?’ Das kleine Mädchen beginnt zu weinen, bittere, fassungslose Tränen rinnen seinen rosigen Wangen entlang hinunter und tropfen auf das lindengrüne Kleid. ‚Mach dich nicht schon wieder schmutzig, du unnützes Balg.’

Ich weiss nicht, ob es auch Tränen sind, die mein Gesicht benetzen. Denn das kleine Mädchen bin ich.
Ungelenkt rapple ich mich auf, mache einige unsichere Schritte im aufgeweichten Sand, auf den Fluss zu. Wieder höre ich die säuselnden, sanften Stimmen der Wasserwesen, und im Rücken spüre ich ihren Blick, den stechenden Blick meiner Mutter. Vor zwei Jahren ist sie gestorben, und doch beherrscht sie noch immer mein Denken, mein ganzes Leben wird von ihr dominiert. Als sie noch lebte, konnte ich wenigstens einige Stunden vor ihr fliehen, hierher an meinen geheimen Platz am Fluss. Doch jetzt, wo sie nicht mehr lebendig ist, werde ich von ihrem Geist verfolgt, in der Nacht kehrt lebendig in bösen Träumen zurück, schlägt mich, quält mich, zerstört mich systematisch. ‚Du bist es nicht wert. Du bist schuld. Du hast alles so verdient, wie es ist. Ich muss dir Disziplin beibringen.’

Diese Sätze, eingetrichtert seit frühester Kindheit, sind wahr. Oft wollte ich mich vom Gegenteil überzeugen, und die einzige Person, der ich mich einmal anvertraut hatte, bestätigte das. Ich sei nicht schuld an allem, sagte sie. Ich bräuchte professionelle Hilfe. Da hasste ich meine Mutter. Doch diese Person hat mich im Stich gelassen, bevor sie mir richtig geholfen hat, ist an meinem fünfzehnten Geburtstag weggezogen. Auch an dem sei ich schuld, sagte meine Mama, ich hätte die einzige Freundin, die sie mir gestattet hatte, vertrieben durch meine unsägliche Art.

Ja, meine Mutter hatte recht mit allem, was sie mir vorgeworfen hatte. Ich bin es nicht wert, ihre Tochter zu sein. Ich bin eine Belastung für alle, ich bin nicht liebenswert. Sonst hätte mich diese Freundin nicht verlassen. Und vor allen Dingen bin ich es nicht wert, am Leben zu sein, denn für alle bin ich nur ein Klotz am Bein, ein spitzer Stein im Schuh. Ich bin es nicht wert, am Leben zu sein. Und ich liebte sie, musste sie lieben, denn sie war das Einzige, das ich noch hatte.
Der Regen hängt wie ein dichter, spinnwebenartiger Vorhang vor mir, versperrt mir die Sicht, die Grenze zwischen Ufer und Fluss ist verwischt, unerkenntlich gemacht. Schmutziges Wasser dringt in meine Schuhe ein, als ich einige Schritte auf den Fluss zu mache. Die Bluse klebt an meinem Körper, der schwere, nasse Rock behindert meine Schritte, meine Frisur und mein Make-up sind ruiniert. Für dieses Vergehen hätte meine Mutter mich bewusstlos geprügelt und mich für die nächsten paar Tage eingesperrt. Auch jetzt kann ich sie beinahe empört nach Luft schnappen hören. Ich versuche, es zu ignorieren, versuche, mich auf die stärker werdenden Stimmen aus dem Wasser zu konzentrieren. „Komm, komm, Liadan, komm mit uns, schwimm mit uns ins grosse, weite Meer, lass dich von all deinen Sorgen und Ängsten befreien, komm, komm mit uns...“ Sie sind so süss, verlockend und schmeichelnd, diese Stimmen, und sie sind meine einzige Rettung, der einzige Ausgang aus dieser auswegslosen Situation. Denn ich weiss, ins Wasser wird mir meine Mutter nicht folgen. Sie hat Angst vor dem tiefen, unergründlichen Nass, seit jemand, der ihr sehr nahe stand, darin ertrunken ist.
Ich bin so weit ins Wasser gewatet, dass mir die Wellen um die Hüften gepeitscht werden. Obwohl es bitterkalt und nass ist, fühle ich mich warm und geborgen. Und mit jedem Schritt, den ich weiter ins Wasser mache, merke ich, wie die Dämonen der Dämmerung von mir ablassen. Ich kann sie förmlich am Ufer toben hören, und auch die Präsenz meiner Mutter wird schwächer. Ich habe einen Ausgang gefunden, der für alle am Besten ist. Ich werde nun niemandem mehr zur Last fallen und muss auch nicht mehr mit meinen Dämonen leben. Ich denke, die Dämmerung geht jetzt langsam zur Nacht über, auch wenn ich es wegen des Gewitters nicht erkennen kann. Mit einem wohligen Seufzer übergebe ich meinen Körper den Wassergewalten, während die Stimmen ihren lockenden Singsang wiederholen.
Und ich bin frei, endlich frei.

 

Hallo Sissi,

eine traurige Geschichte über die Schwierigkeit, mit all dem psychischen und physischen Druck, den Eltern so ausüben können, klar zu kommen. Mir hat die Geschichte gut gefallen, auch wenn ich deiner Prot gewünscht hätte, dass sie eine andere Lösung gefunden hätte, das Verhältnis zu ihrer Mutter zu verarbeiten und sich von ihrer Macht zu lösen - erwachsen zu werden halt. Die Beschreibungen der Flusslandschaft waren sehr schön und gelungen.

Sprachlich ist mir die "ss" Geschichte aufgefallen - ich vermute mal, du hast kein "ß" auf deiner Tastatur? Bei einigen Sätzen dachte ich, dass sie für mein Empfinden ein wenig zu lang waren, auch wenn ich auch eher zu verschachtelten Konstruktionen tendiere ;)
Ein paar kleine Fehler noch:

Ein kalter Wind fährt durch die kahlen Äste der Bäume, reisst ihnen noch die letzten verdorrten, braunen Blätter ab und wirbelt sie noch einige Zeit mit, bevor er sie dann achtlos zu Boden fallen lässt.
Ein Vorschlag: streich doch die beiden "noch" - sie wirken hier eher wie Füllwörter.
Ich weiss, gefallen zu wollen, was es heisst, Ansprüchen nicht genügen zu können, was es heisst, und ebenso gut weiss ich, was es heisst, dafür bestraft zu werden.
Hier scheint mir ein "was es heißt" verrutscht zu sein
Ich bräuchte professionelle Hilfe.
Mit einem wohligen Seufzer übergebe ich meinen Körper den Wassergewalten, während die Stimmen ihren lockender Singsang wiederholen.

Liebe Grüße
Juschi

 

Hey Juschi,

Wow. Da bin ich schon ein bisschen platt - hätte echt nicht gedacht, dass irgendjemand diese Geschichte noch ausgräbt... *freu*
Danke für deine Kritik, schön, dass sie dir gefallen hat (die Geschichte, meine ich). Ja, richtig geraten, dieses 's' existiert auf meiner Tastatur tatsächlich nicht :-)
Und die Fehler werde ich natürlich gleich beheben. Merci fürs raussuchen!

Alles Liebe,
*Sissi*

 

Hi Sissi,

ja, da muß ich Jo zustimmen. Kann auch nicht verstehen, dass deine gefühlvolle KG nicht schon früher gelesen wurde. :confused:

Vielleicht liegt es daran, dass schon soviele dramatische Selbstmordgeschichten, gerade von jungen Leuten gepostet wurden.

Es scheint gerade in der heutigen Zeit, viele Jugendliche zu geben, die Todessehnsucht haben. Das bedauere ich sehr und kann es auch nicht wirklich verstehen.
Aber davon mal abgesehen.
Du hast sehr intensive Bilder geschaffen. ich konnte nicht mehr aufhören zu lesen.
Mein Kompliment. :)

liebe Grüße, coleratio

 
Zuletzt bearbeitet:

hey ihr,

wow... vielen dank für eure lieben kritiken.

@jo: nein, diese geschichte ist mal total non-autobiographisch - zum glück auch...!

@coleratio: ja, ich kenne auch einige, die immer wieder von ihren todessehnsüchten etc sprechen - finde ich tragisch und verstehen kann ich es irgendwie auch nicht. naja.
und noch vielen lieben dank für dein kompliment!:-)

ja, eure beiträge haben mich wirklich gefreut, jetzt kann ich glücklich in die ferien gehen... :-)
merci!

alles liebe,
*sissi*

 

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