In die Ewigkeit
In die Ewigkeit
von Lestat
Als er am Ende des langen Steges stand und ihm der metallisch dröhnende Wind um die Ohren pfiff, sah er ein letztes Mal vor sich, hinweg über den mit einer dunklen Metallschicht überzogenen Boden zu der weit entfernten, kalten, eisernen Stadt, deren eintönig graue Sillouhette sich vor der tiefschwarzen Unendlichkeit des Alls abzeichnete. Die künstlichen Lichter der Stadt waren so hell, dass er das Strahlen der Sterne nur wie ein weit entferntes Gesicht im Nebel war nahm. Er senkte seinen Blick wieder hinab in die breite, klaffende Metallröhre. Der Metallsteg, auf dem er stand, führte nicht einmal über ein Viertel des Durchmessers des Rohres über jenes hinweg.
Das Rohr hatte einen Durchmesser von exakt zehn Metern. An den Rand waren ringförmig Agregate angebracht, die die Stadt mit Strom versorgten. Für einen kurzen Moment schloss er seine Augen.
Während er seine Arme leicht von Körper abspreizte, ließ er sich nach vorne fallen. Er fiel nach unten, tauchte in das Rohr ein und sauste an den ersten Agregaten vorbei. Je tiefer er viel, desto schneller sausten die dicken Ringe an den Ausenwänden des Rohrs an ihm vorbei, er spürte einen prickelnden Druck in seinem Hals, der sich in einem gutturalen Schrei entlud, der nur schwerlich gegen das wabernde Poltern des Windes ankam. Er schrie weiter, bis seine Lungen zusammensackten, und der Wind, der ihm ins Gesicht schoss, verhinderte ein erneutes Luftholen, so dass er den Kopf etwas nach oben heben musste.
An den Wänden des Rohres waren außerdem runde Lichtquellen angebracht. Er hatte sich nie gefragt, wozu sie dienten. Und während er weiter durch den scheinbar endlosen Tunnel fiel, der kein Ende nehmen wollte, als ob er in einem dunklen, flimmernden Nichts endete, erblickte er die Gesichter der aus den Agregaten herauslugendenden Blauen.
Vor Ewigkeiten hatten die Menschen die Blauen von dem Planeten vertrieben. Es gab noch nie viele von ihnen, aber die mächtigsten ihrer Rasse waren eine zu große Bedrohung für die Menschen. Sie wussten zuviel. Also wurde ein Krieg des Vergessens, des Verdrängens gegen sie geführt. Ein Krieg des Übertönens. Bis die Blauen irgendwann verschwunden waren. Ausgestorben, sagte man. In Wahrheit lebten sie also in einer Art Slums in den als Agregate getarnten Wohnwaben in dem Rohr. Waren sie freiwillig dorthin gegangen? Hatte man sie dorthin verdammt? Sowohl als auch, wie er vermutete. Während er fiel, sahen sie ihm hinterher, traten bis an den Rand der Waben. Als er hochsah, traf sein Blick ein strahlend blaues Augenpaar, das aus einem friedlichen, gelblichen Gesicht leuchtete. Innerhalb einiger Sekunden waren diese Augen außer Reichweite.
Ohne seine Gedanken irgend etwas anderem zu widmen, fiel er weiter hinab. Das dunkle, flimmernde Nichts hatte sich in seinem Kopf ausgebreitet, während sein Körper sich teils noch gegen den Fall wehrte, ihn teils aber auch schon genoss. So ging es dahin, lange Zeit, bis er schließlich am Ende angekommen war.
Er schien innerlich erst an diesem Punkt wieder etwas zu empfinden. Er trat aus dem Planeten aus, aus einem gigantischen Loch, das gewiss größer war als der Durchmesser des Rohres, durch dass er so lange Zeit gefallen war. Es kümmerte ihn nicht, wie das möglich war. Als er in die endlosen Weiten des Alls eintrat, als sein Körper ohne an jegliche Naturgesetze gebunden zu sein nur auf eine scheinbar unendlich weit entfernte Galaxie zu schwebte, überwältigte es seinen Verstand wie eine große Welle einen kleinen Jungen am Strand. Er blickte nach oben, und der braune und graue Planet entfernte sich schnell. Unendliche weiße, blaue und pinke Lichterketten leuchteten und glitzerten und blinkten um ihn. Er unterschied bald nicht mehr zwischen oben, unten, links und rechts. Nach einer genußvollen Ewigkeit trieb ein formloses Licht auf ihn zu, das von blauen Sternen umspielt wurde. Gäbe es im Weltall Schwerkraft, wäre der Ausdruck "auf etwas zufallen" am treffendsten. Als er sich mit dem Licht vereinte, mit den Seelen all jener, die das Selbe Äonen zuvor getan hatten, schien sich alles ins endgültig Endlose auszudehnen. Sein Verstand existierte nur noch als solcher, sein Körper hatte sich als überflüssiges Beiwerk aufgelöst. Die Erinnerung eines jeden Menschen. Das Glück, das Leid, die Liebe und den Hass eines jeden. All das ist das Licht. Und noch mehr. Noch viel mehr. So unendlich viel mehr.