Ins Netz gegangen
Feine Nebelschwaden, wie ein Gespinst aus Seidenfäden, zogen über den grauen Bodensee. Nicht zu sehen, eher zu erahnen. Feuchtigkeit drang durch die Kleidung und kündigte das Ende der Nacht an. Sonnenstrahlen, die später den Untersee in ein faszinierendes Spiel aus Licht und Farbe verwandeln sollten, versteckten sich noch unter dem Horizont. Georg Stadler bereitete sich wie an jedem Tag darauf vor, mit seinem Fischerboot hinauszufahren in das Zwielicht des beginnenden Tages. Er liebte diese Zeit zwischen Nacht und Tag, in der man nur Weniges zu hören bekam, in der die Stille noch die Übermacht hatte. Hier und da tuckerte der Motor eines anderen Bootes, das schon hinausfuhr, um die Netze zu kontrollieren; ab und zu drang das rhythmische Schlagen der Wellen ins Bewusstsein, oder man nahm den verirrten Schrei eines Vogels wahr.
Georg Stadler war ein ruhiger Mensch. Im Dialekt würde man ihn als „ Oischichtigen“, als ewigen Junggesellen bezeichnen. Seit seine Eltern kurz hintereinander verstorben waren, lebte er allein in dem kleinen Häuschen, ganz in der Nähe des Ufers. Ihm gefiel sein geregelter Tagesablauf, das Festhalten an seiner eigenen Ordnung, die Vorhersehbarkeit des Alltags. Gerne war er mit seinen Kollegen beisammen, unterhielt sich mit seinen Kunden über Gott und die Welt und tratsche hin und wieder auch mit den Nachbarn. Doch am liebsten war Georg Stadler ganz für sich. Wirklich? Gab es da nicht Tage, an denen er viel freie Zeit hatte - alleine? Oder Sonn- und Feiertage, an denen andere etwas mit der Familie unternahmen – er aber alleine war? Georg Stadler war ganz für sich - alleine. Und so manches Mal fehlte ihm ein Lächeln, das nur ihm galt, ein sanftes Streicheln über den Arm, um Nähe auszudrücken, ein liebevoll zubereitetes Essen. Einfach ein Mensch in seiner Nähe. Eine Frau an seiner Seite. Doch wie sollte er mit einer Frau Kontakt aufnehmen? Über das Alter des „Anbaggerns“ war er mit Mitte fünfzig schon weit hinaus und die meisten Frauen in seinem Alter lebten in einer Beziehung. Nein, im Prinzip hatte er schon damit abgeschlossen, jemals ein passendes „Deckelchen“ zu finden. Also konzentrierte er sich lieber auf seine Arbeit, fuhr jeden Morgen und Abend hinaus auf den Untersee und legte seine verschiedenen Netze aus. Die mehr als 100 Meter langen Stellnetze im Rhein, die in 20 bis 40 Metern Tiefe auf die Felchen, die Spezialität des Bodensees warteten. Manchmal verfingen sich im Netz seltsame Dinge. Als Georg Stadler an diesem Tag mit der Kraft seiner Muskeln das lange Netz langsam einholte und die gefangenen Felchen vorsichtig aus dem Netz löste, kam ein seltsamer Gegenstand ans Tageslicht – eine runde, bauchige, grüne Flasche, ungefähr 30 cm hoch und geschätzte 15 cm im Durchmesser. Zunächst ärgerte sich Georg Stadler über den unliebsamen Beifang. Zerstörten doch solche Dinge in der Regel seine Netze und er musste wieder viel Zeit investieren, um sie zu reparieren. Aber irgendetwas war an dieser Flasche anders. Darum legte er sie abseits in sein Boot. Er würde sich später darum kümmern. Zuerst musste er seine anderen Netze einholen, die Fische auslösen, wieder zurück ans Ufer fahren und dort den Fang verarbeiten. Seine Kunden warteten schließlich auf die Ware. Und so ging der Tag doch noch seinen gewohnten Gang. Erst am späten Abend, als Georg Stadler die Barschnetze schon wieder in der Flachwasserzone ausgelegt hatte, fand er Zeit, um sich an die Flasche zu erinnern. Er ging nochmals hinaus zu seinem Boot und tatsächlich hinten, gleich neben der Sitzkiste beim Außenbordmotor hatte er die Flasche abgestellt. Georg Stadler trug sein Fundstück ins Wohnzimmer und stellte es auf den Tisch. Es war eine schöne Flasche. Zwar noch etwas verdreckt und trübe, aber zu schade, um sie einfach wegzuschmeißen. Man könnte sie draußen auf den Fenstersims stellen, eventuell ein paar Blumen aus dem Garten hineingeben. Als Georg Stadler die Flasche wieder hochnahm, um sie zu reinigen, entdeckte er, dass sie ein Stück Papier enthielt. Fest zusammengerollt und mit einem Faden oder Gummi fixiert. Seltsam, so etwas geschah doch nur in Büchern oder Filmen. Wer schickte heutzutage Informationen in einer Flasche? Es gab Post, Telefon und natürlich Internet. Und welche Informationen verschickt man in einer Flaschenpost? Georg Stadler kannte das nur aus Abenteuergeschichten, in denen Gefangene um Rettung flehten. Sollte hier auch jemand gerettet werden? Georg Stadler war gespannt, ob noch etwas auf dem Zettel zu entziffern war. Zunächst entfernte er den Verschluss der Flasche. Der Kork war mit einer dicken Schicht Wachs überzogen, dadurch konnte kein Wasser in die Flasche gelangen und das Papierstück beschädigen. Nun suchte er in der Küchenschublade nach der langen Pinzette, mit der er manchmal Gräten aus den Fischfilets zog. Mit der Pinzette fuhr er vorsichtig in den Flaschenhals, griff nach dem Papier und zog es langsam heraus. Vorsichtig entrollte er das Papier. Es war trocken und die Schrift sehr gut lesbar. Gespannt entzifferte Georg Stadler die Buchstaben und Worte, die auf dem Papier mit feiner, geschwungener Handschrift geschrieben standen. Georg Stadler begann zu lesen:
„Ich habe eine Hand, die dich streichelt - meine Nähe zu dir zeigt. Ich habe ein Lächeln, das nur dir alleine gilt. Ich habe Nahrung nur für dich – mit Liebe gewürzt. Doch wo bist du?“
Georg Stadler konnte seinen Augen nicht trauen. Was er da las, das waren seine intimsten Gefühle und Gedanken – mit zarten Zeichen auf Papier festgehalten. Wer war diese Person, die genauso empfand wie er? Wann und wo sind diese Worte aufs Papier gekommen? Er musste herausfinden, wer diese Zeilen geschrieben hatte! Georg Stadler drehte das Blatt um und entdeckte einen weiteren Abschnitt: „Wenn dich meine Zeilen berühren, wenn du auf der Suche bist, wenn du in Gottes Paradies auf Erden wohnst, am Bodensee, wenn du ungebunden bist, und wenn du ein Mann bist, dann mach dich auf den Weg und komm zu mir. Du triffst mich immer am Sonntagnachmittag in der Seestube in Niederzell auf der Insel Reichenau.“ Das war doch nicht möglich! Georg Stadler konnte es nicht glauben. Da existierte ein Mensch gleich in seiner Nähe, seelenverwandt und ebenfalls allein! Vermutlich lag die Flaschenpost schon Jahre im See und ist durch Strömungen erst jetzt in sein Netz gespült worden. Nein! Am unteren Rand der Seite stand das Datum von letzter Woche! Das gab es doch nicht! Ein Wink nicht mit dem Zaunpfahl, sondern mit dem Laternenmasten. Georg Stadler konnte sich drehen und wenden, er fand für sich keine Ausrede mehr, um dieses Angebot des Schicksals nicht anzunehmen. Also bereitete sich Georg Stadler mit großer Sorgfalt auf den nächsten Sonntag vor. Er probierte Hose für Hose, ein Hemd nach dem anderen aus dem Schrank und drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Georg Stadler war richtig aufgeregt. Er fühlte sich wie ein Teenager. Georg Stadler bemerkte, dass er sich immer wieder Worte für sein Treffen mit der Fremden zurechtlegte, dass er beim Gedanken an sein „Date“ Herzklopfen bekam. Er konnte es kaum erwarten, bis es Sonntag wurde. Georg Stadler hatte sich vorgenommen, am Nachmittag in die Seestube zu gehen. Er hatte sich im Internet über die Öffnungszeiten informiert und auch schon mal die Speisekarte des Restaurants studiert. Am Sonntagnachmittag wurden selbst gebackene Kuchen serviert. War die Wirtin selbst diese geheimnisvolle Fremde? Oder eine der Bedienungen? Pünktlich um 14.00 Uhr betrat er das Lokal. Um diese Zeit waren schon mehrere Tische mit Urlaubern belegt. Er suchte sich einen Platz, von dem aus er das ganze Lokal gut im Blick hatte. Georg Stadler hatte sich vorsichtshalber eine Fachzeitschrift mitgebracht, in der er nun blätterte, aber aus den Augenwinkeln die ganze Gaststube im Blick behalten konnte. Als die Bedienung an seinen Tisch trat, schaute er sie ganz genau an. Ein junges Mädchen, vielleicht sechzehn Jahre alt. Viel zu jung, um solche Zeilen zu schreiben. Er bestellte eine Portion Kaffee und ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte. Die Zeiger der Uhr bewegten sich auf 15.00 Uhr zu. Im Verlauf der letzten Stunde hatte sich Georg Stadler die anderen weiblichen Besucher genau angesehen. Meist saßen an den Tischen ältere Damen, die entweder mit ihren Freundinnen oder in Begleitung von Herren im Lokal waren. Keine machte auf ihn den Eindruck, als ob sie eine Flaschenpost im Bodensee auf die Reise schickt.
Da öffnete sich hinter der Theke eine Tür, die zur Küche führte. Eine mittelgroße, schlanke Dame in seinem Alter, mit einem modischen Kurzhaarschnitt, brachte eine neue Sahnetorte in den Gastraum. Jetzt blickte sie sich aufmerksam im Restaurant um, grüßte mit einem Lächeln, das sich durch Fältchen um die Augen noch verstärkte, den einen oder anderen Gast, nickte auch ihm zu. Georg Stadler wusste nicht, warum, aber er war sich sicher, das war die geheimnisvolle Schreiberin der Flaschenpost. Georg Stadler erkannte sich selbst nicht. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen, stand von seinem Platz auf und ging auf die Dame zu. Er wusste nicht wie, aber er hörte sich sagen: „Sahnetorte passt schlecht in eine Flaschenpost.“ Die Dame drehte sich um, blickte ihm tief in die Augen, ja sie schien in seinen Augen zu versinken und bis in seine Seele zu schauen. Dann antwortete sie mit sanfter Stimme: „Tatsächlich? Wem bin ich denn da ins Netz gegangen?“ Georg Stadler hatte sein „Deckelchen“ gefunden.