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Irinas Augen

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21.04.2004
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Irinas Augen

Der Himmel erstreckte sich Hunderte von Kilometer weit in jede Richtung, kein einziger Berg, nicht einmal ein Hügel, störte den Blick auf ihn. Es schien, als befände sich Irina genau in der Mitte einer flachen Wüste, die unsere Welt bedeckte. Ihre Augen tänzelten wild. Sie verfolgten etwas, das nur in ihrem Kopf existierte und keine Form hatte, die sich mit den Gedanken eines anderen Menschen beschreiben ließe.
„Der Wind hat seinen Klang verändert“, sagte sie, „das macht er immer um diese Jahreszeit. Die Bäume, sie sprechen nicht mehr, sie haben schon vor Tagen zu flüstern begonnen. Alles sagt mir, der Herbst ist nahe. Merkst du das auch?“
„Ja“, sagte Ivan. „Aber ich sehe es mehr mit meinen Augen.“
„Und was siehst du mit deinem Herzen? Was für Gedanken kommen dir, wenn die vielen braunen und gelben Blätter auf dem Boden liegen? Was denkst du, wenn der Wind sie alle aufpeitscht und gegen die Baumstämme schleudert, wie in einem vergessenen Tanz, der sich jedes Jahr aufs neue wiederholt?“
Ivan lehnte seinen Kopf an die Stuhllehne. Er blickte stumm zu den grauen, zerfetzten Wolken auf. Eine einzige Träne rann, sein Gesicht herunter, wurde dann vom Wind ergriffen und fortgeweht, in die dunkelgraue Unendlichkeit.
„Was ist mit dir?“, fragte Irina besorgt. Sie legte ihre Hand auf seine und begann, sie langsam zu streicheln. „Du atmest anders, viel bedrückter…“
„Es sind diese Fragen“, sagte er. „Sie erinnern mich daran, dass du den Tanz, den du beschreibst, nie zu Gesicht bekommen wirst. Niemals! Ach, Irina, es ist doch kaum der rede wert, was ich fühle und wie es ist.“
Irina zuckte zusammen und riss ihre Hand von ihm weg, als hätte sie sich verbrannt.
„Wieso sagst du das?“, fragte sie erschrocken. „Du hast mir immer alles erzählt, was ich wissen wollte. Warum jetzt nicht mehr?“
„Ich konnte dich so oft wieder zum Lachen bringen“, sagte er langsam, „als du aufgelöst zu mir kamst, aber es nützte nichts. Jedes Mal, wenn ich dachte, deine Tränen seien endgültig getrocknet, ranntest du wieder zurück in dein Versteck. Und es hat mir jedes Mal das Herz gebrochen. Hast du gedacht, du könntest das vor mir verbergen? Du kannst es nicht, nicht solange ich noch am Leben bin, auch wenn du jedes Mal tief unter deine Decke kriechst. Irina, ich liebe dich, so wie ein Bruder seine kleine Schwester nur lieben kann, aber lass uns damit aufhören! Du stellst keine Fragen mehr, über das Sehen und so weiter, und ich“
Irina verschränkte ihre beiden Hände ineinander. Sie massierten sich gegenseitig, als versuchten sie, die Erinnerung an einen brennenden Schmerz zu löschen, und einen neuen im Keim zu ersticken.
„Du weißt nicht, wieso ich es tue, habe ich recht?“, flüsterte sie. Ivan glaubte, als er sie überrascht ansah, dass ihre Pupillen für einen winzigsten Augenblick fokussierten. Dann aber entglitt ihm diese Vorstellung und zerfiel zu Staub und Asche.
„Du glaubst“, sagte sie, jedes Wort mit einer Handbewegung untermalend, „dass es an dir liegt, weil du mich nicht trösten kannst. Du kannst aber. Und genau das ist es! Du bringst mich zum Lachen und ich stelle mir dabei immer diese eine Frage: wie sehe ich dabei aus? Wie siehst du dabei aus, oder Mama? Wie nur? Kannst du mir das sagen, es mir in Worten beschreiben, so dass ich mir ein Bild davon machen kann?“
Ivan schüttelte sprachlos den Kopf. Ein Gefühl der ohnmächtigen Verzweiflung überkam ihn. Sein Herz rutschte stetig dem Boden entgegen.
Ein Wind kam auf und zersprengte Irinas Haare. Ihre Augen drehten sich im Kreis, als suchten sie etwas am Himmel, ein kleines, kaum sichtbares Ding. Sie fanden nichts.
„Es lässt mich nicht mehr in Ruhe“, strömte es weiter aus ihrem Mund, „diese Gedanken brennen auf meiner Seele. Gesichter! Nachts träume ich von ihnen, jedenfalls von etwas, das für mich wie ein Gesicht wirkt. Ich weiß, dass es nicht der Wahrheit entsprich, nicht einmal annähernd. Ich will aber sehen, wie jemand lacht, verstehst du? Es könnte so schön sein, nur für einen kurzen Augenblick. Dann wären meine Träume nicht mehr so dunkel.“

„Denkst du, ich leide nicht?“, fragte Ivan. „Denkst du, meine Träume wären nicht dunkel?“
Irina verzog das Gesicht, eingeschüchtert von dem Reden ihres Bruders.
„So war das nicht gemeint, ich wollte dir keine Vorwürfe machen“, sagte sie mit leiser Stimme.
„Das hast du aber“, entgegnete er.
Ivan drehte sich seiner Schwester zu und nahm ihre Hand. Sie war kalt und zitterte leicht.
„Gesichter können so falsch sein“, sagte er ihr. „Es sind manchmal Masken, die sich Menschen aufsetzen. Wie jede Maske werden sie dann dafür benutzt, um zu verbergen. Du aber hörst in den Stimmen der Menschen, wie sie sich fühlen. Besser als jeder Sehende, so denke ich, kannst du die Situation einschätzen und darauf eingehen. Zusammen mit deinem wunderbaren Herzen ist das ein Geschenk!“
Irina stand blitzartig auf und fing an zu rennen. Sie kannte die Wiese wie niemand sonst, sie wusste immer, wo sie sich befand, sie wusste von jeder kleinen Erhebung, wie unwichtig sie für andere Menschen auch war. Für den Bruchteil einer Sekunde wollte Ivan ihr hinterher, aber eine große Enttäuschung lastete auf seinen Beinen, und er konnte sich nicht bewegen.
„Das ist mir egal!“, schrie sie ihm zu, während sie sich, immer wieder stolpernd, von ihm entfernte. „Ich will es trotzdem sehen, auch wenn ich für den Rest meines Lebens verblendet werde!“
„Das bist du schon“, sagte er und schloss die Augen.

 

auf Wunsch des Autors von Alltag nach Gesellschaft verschoben

 

Hey Gisele,

:eek: Vielen Dank für die Komplimente. Ich persönlich finde aber "Das hässliche Licht der Welt" besser, gibt mehr her als KG. Egal. Ich bin durch den Film THE VILLAGE auf die Blinde Protagonistin gekommen. Ich weiß nicht, ob du ihn kennst, aber meine Protagonistin ist fast genauso wie Ivy Walker. Die Thematik hat sich im Laufe des Schreibens ergeben. Mach ich oft so: ich fang an und weiß am Anfang noch garnicht, wohin. Und dann ergibt sich immer eine mehr oder weniger gute Richtung, eine mehr oder weniger gute Thematik.:bier:

Vielen Dank fürs Lesen

Dust

 

Hi Dust!

Eine einzige Träne rann, noch in der Bewegung, sein Gesicht herunter, wurde dann vom Wind ergriffen und fortgeweht, in die dunkelgraue Unendlichkeit.
Du erwähnst bereits, dass die Träne rann. „Noch in der Bewegung“ ist überflüssig, und stört beim lesen.
Vorschlag:

Eine einzige Träne rann sein Gesicht herunter, wurde vom Wind ergriffen, und in die dunkelgraue Unendlichkeit fortgeweht.
Du könntest es aber evtl. auch so gemeint haben:

Eine einzige Träne rann sein Gesicht herunter, wurde dann vom Wind ergriffen, und noch in der Bewegung fortgeweht


Zuerst reißt sie ihre Hand weg, und dann sind ihre Hände immer noch ineinander verschränkt?

Irina zuckte zusammen und riss ihre Hand von ihm weg, als hätte sie sich verbrannt.

Ihre beiden Hände waren immer noch ineinander verschränkt; sie massierten sich gegenseitig,


Natürlich hab ich schon kapiert, dass es sich nur um die Hände von Irina handelt. Aber der Übergang ist, m.E. nicht sofort deutlich erkennbar. Verwende notfalls nochmal den Namen.
„Irinas Hände waren noch immer ....“


„Gesichter können so falsch sein“, begann er zu sprechen

Begann er zu sprechen?
Er hat doch schon vorher gesprochen. Es hört sich an, als würde er, in der gesamten Geschichte, erst jetzt das erste mal ein Wort, einen Satz von sich geben.


Irina stand blitzartig auf und fing an zu rennen.

Mal ganz realistisch betrachtet. Ich habe noch keinen Blinden gesehen, der urplötzlich losgerannt ist.
Blitzartig aufspringen ist ja noch nachvollziehbar. Aber dann würde ich es eher formulieren in der Richtung von „stolperte oder lief unüberlegt davon“

„Das bist du schon“, flüsterte er sich selber ins Ohr.

Oh, wie soll das denn gehen?
Sich selbst etwas ins Ohr flüstern?
Würde ich ein wenig anders formulieren.

Dein Schreibstil gefällt mir, und die Art wie du versuchst Situationen darzustellen.
Der Inhalt deiner Geschichte hat mir leider nicht so sehr gefallen, da für mich zu wenig Hintergrundinfos vorhanden waren.
Es gibt Geschichten, da sind zu viele Umschreibungen störend, weil der Leser sich alles zusammen reimen kann. Aber in diesem Fall fehlt mir der Grund, wo das wirkliche Problem der Schwester liegt. Sie hat einen Bruder mit dem sie über alles reden kann, der jederzeit für sie da ist.
Im Allgemeinen kommt alles klar und deutlich rüber, aber für mich fehlt da noch das gewisse Etwas.

Gruß
LoC

 

Hallo LoC,

danke für deine Kritik. Ich habe einige deiner Vorschläge bedacht und mich dazu entschlossen, sie einzubauen. Irina kann einfach so losrennen, weil sie schon ihr ganzes Leben lang in der Gegend lebt und die Wiese, auf der die beiden stehen, besser kennt als sonst etwas. Hab ich aber nicht erwähnt, jetzt steht es drin.

Dir fehlt das gewisse Esswas? Der Grund für das Problem Irinas ist der: sie hat einen Bruder, der ihr immer zur Seite steht, aber bei dem, dass sie eben nicht sehen kann, kann er auch nichts ausrichten und auch wieviel er ihr erzählt und wieviel seelenbeistand er leistet, er ersetzt das Sehen eben nicht. Sie macht es so unendlich traurig nicht zu sehen, sie will Gesichter sehen, nicht nur die Stimmen hören. Und genau DAS kann ihr Bruder nicht geben. Sie rennt nicht weg, weil sie davon enttäuscht ist, sondern vielmehr, weil sie etwas Freiheit haben will. Sie will wenigstens rennen, sich von ihrem Bruder etwas entfernen, schauen, ob sie vielleicht doch, alleine, etwas "sehen" kann. So habe ich es mir vorgestellt. Ich finde es wirklich schade, dass für dich das gewisse Etwas fehlt. Mal sehen, ob es anderen Leuten auch so geht.

Viele Grüße

Dust

 

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