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Irinas Augen
Der Himmel erstreckte sich Hunderte von Kilometer weit in jede Richtung, kein einziger Berg, nicht einmal ein Hügel, störte den Blick auf ihn. Es schien, als befände sich Irina genau in der Mitte einer flachen Wüste, die unsere Welt bedeckte. Ihre Augen tänzelten wild. Sie verfolgten etwas, das nur in ihrem Kopf existierte und keine Form hatte, die sich mit den Gedanken eines anderen Menschen beschreiben ließe.
„Der Wind hat seinen Klang verändert“, sagte sie, „das macht er immer um diese Jahreszeit. Die Bäume, sie sprechen nicht mehr, sie haben schon vor Tagen zu flüstern begonnen. Alles sagt mir, der Herbst ist nahe. Merkst du das auch?“
„Ja“, sagte Ivan. „Aber ich sehe es mehr mit meinen Augen.“
„Und was siehst du mit deinem Herzen? Was für Gedanken kommen dir, wenn die vielen braunen und gelben Blätter auf dem Boden liegen? Was denkst du, wenn der Wind sie alle aufpeitscht und gegen die Baumstämme schleudert, wie in einem vergessenen Tanz, der sich jedes Jahr aufs neue wiederholt?“
Ivan lehnte seinen Kopf an die Stuhllehne. Er blickte stumm zu den grauen, zerfetzten Wolken auf. Eine einzige Träne rann, sein Gesicht herunter, wurde dann vom Wind ergriffen und fortgeweht, in die dunkelgraue Unendlichkeit.
„Was ist mit dir?“, fragte Irina besorgt. Sie legte ihre Hand auf seine und begann, sie langsam zu streicheln. „Du atmest anders, viel bedrückter…“
„Es sind diese Fragen“, sagte er. „Sie erinnern mich daran, dass du den Tanz, den du beschreibst, nie zu Gesicht bekommen wirst. Niemals! Ach, Irina, es ist doch kaum der rede wert, was ich fühle und wie es ist.“
Irina zuckte zusammen und riss ihre Hand von ihm weg, als hätte sie sich verbrannt.
„Wieso sagst du das?“, fragte sie erschrocken. „Du hast mir immer alles erzählt, was ich wissen wollte. Warum jetzt nicht mehr?“
„Ich konnte dich so oft wieder zum Lachen bringen“, sagte er langsam, „als du aufgelöst zu mir kamst, aber es nützte nichts. Jedes Mal, wenn ich dachte, deine Tränen seien endgültig getrocknet, ranntest du wieder zurück in dein Versteck. Und es hat mir jedes Mal das Herz gebrochen. Hast du gedacht, du könntest das vor mir verbergen? Du kannst es nicht, nicht solange ich noch am Leben bin, auch wenn du jedes Mal tief unter deine Decke kriechst. Irina, ich liebe dich, so wie ein Bruder seine kleine Schwester nur lieben kann, aber lass uns damit aufhören! Du stellst keine Fragen mehr, über das Sehen und so weiter, und ich“
Irina verschränkte ihre beiden Hände ineinander. Sie massierten sich gegenseitig, als versuchten sie, die Erinnerung an einen brennenden Schmerz zu löschen, und einen neuen im Keim zu ersticken.
„Du weißt nicht, wieso ich es tue, habe ich recht?“, flüsterte sie. Ivan glaubte, als er sie überrascht ansah, dass ihre Pupillen für einen winzigsten Augenblick fokussierten. Dann aber entglitt ihm diese Vorstellung und zerfiel zu Staub und Asche.
„Du glaubst“, sagte sie, jedes Wort mit einer Handbewegung untermalend, „dass es an dir liegt, weil du mich nicht trösten kannst. Du kannst aber. Und genau das ist es! Du bringst mich zum Lachen und ich stelle mir dabei immer diese eine Frage: wie sehe ich dabei aus? Wie siehst du dabei aus, oder Mama? Wie nur? Kannst du mir das sagen, es mir in Worten beschreiben, so dass ich mir ein Bild davon machen kann?“
Ivan schüttelte sprachlos den Kopf. Ein Gefühl der ohnmächtigen Verzweiflung überkam ihn. Sein Herz rutschte stetig dem Boden entgegen.
Ein Wind kam auf und zersprengte Irinas Haare. Ihre Augen drehten sich im Kreis, als suchten sie etwas am Himmel, ein kleines, kaum sichtbares Ding. Sie fanden nichts.
„Es lässt mich nicht mehr in Ruhe“, strömte es weiter aus ihrem Mund, „diese Gedanken brennen auf meiner Seele. Gesichter! Nachts träume ich von ihnen, jedenfalls von etwas, das für mich wie ein Gesicht wirkt. Ich weiß, dass es nicht der Wahrheit entsprich, nicht einmal annähernd. Ich will aber sehen, wie jemand lacht, verstehst du? Es könnte so schön sein, nur für einen kurzen Augenblick. Dann wären meine Träume nicht mehr so dunkel.“
„Denkst du, ich leide nicht?“, fragte Ivan. „Denkst du, meine Träume wären nicht dunkel?“
Irina verzog das Gesicht, eingeschüchtert von dem Reden ihres Bruders.
„So war das nicht gemeint, ich wollte dir keine Vorwürfe machen“, sagte sie mit leiser Stimme.
„Das hast du aber“, entgegnete er.
Ivan drehte sich seiner Schwester zu und nahm ihre Hand. Sie war kalt und zitterte leicht.
„Gesichter können so falsch sein“, sagte er ihr. „Es sind manchmal Masken, die sich Menschen aufsetzen. Wie jede Maske werden sie dann dafür benutzt, um zu verbergen. Du aber hörst in den Stimmen der Menschen, wie sie sich fühlen. Besser als jeder Sehende, so denke ich, kannst du die Situation einschätzen und darauf eingehen. Zusammen mit deinem wunderbaren Herzen ist das ein Geschenk!“
Irina stand blitzartig auf und fing an zu rennen. Sie kannte die Wiese wie niemand sonst, sie wusste immer, wo sie sich befand, sie wusste von jeder kleinen Erhebung, wie unwichtig sie für andere Menschen auch war. Für den Bruchteil einer Sekunde wollte Ivan ihr hinterher, aber eine große Enttäuschung lastete auf seinen Beinen, und er konnte sich nicht bewegen.
„Das ist mir egal!“, schrie sie ihm zu, während sie sich, immer wieder stolpernd, von ihm entfernte. „Ich will es trotzdem sehen, auch wenn ich für den Rest meines Lebens verblendet werde!“
„Das bist du schon“, sagte er und schloss die Augen.