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It´s a (real bad) Match!
Als wir Ende 2005 online gingen, war das System eine einzige Katastrophe. Es kostete uns - nun ja, vorallem mich - mehr als drei Monate harter Arbeit, um die Software überhaupt halbwegs lauffähig zu bekommen.
Die eigentliche Gesichtserkennung stellte dabei zu keinem Zeitpunkt ein Problem dar. Wir scannten testweise mehrere dutzend Photos in die Datenbank ein, die Leute aus dem näheren Bekanntenkreis zum Motiv hatten. Alles Passbilder.
Anschließend fügten wir von den abgebildeten Personen weitere Photographien hinzu. Diese allerdings waren sehr unvorteilhaft aufgenommen. Miserable Lichtverhältnisse, große Entfernungen. Urlaubs- und Freizeitaufnahmen, auf denen mehr Natur als Mensch zu sehen war. Nur das Gesicht musste selbstverständlich abgebildet sein.
Das Programm fand zu allen dieser "Memoriekarten" das passende Gegenstück. Überhaupt keine Herausforderung, so schien es.
Die Domain bereits gekauft und alles Rechtliche erledigt, machten wir uns voller Euphorie auf, eine Revolution des Internets ins Rennen zu schicken. Gleichartige Seiten gab es keine; noch nichteinmal ähnliche, und so konnte der Rubel sich aufmachen, zahlreich in unsere Taschen zu rollen.
Doppelgänger.de
Wir bekamen sogar die Sache mit dem Umlaut hin, auch wenn die älteren Browser uns einiges an Kopfzerbrechen bereiteten. Letztlich kamen wir aber an dem Zukauf des mit "ae" geschriebenen Pendants herum und investierten die übriggebliebenen Mittel in massenhaft Werbung. Selbst auf den Seiten der großen deutschen Privatsender strahlten dem eifrigen Surfer unsere Banner entgegen.
Am 2. Dezember war es dann endlich soweit. Der große Launch von "Doppelgänger".
Das Prinzip ist einfach. Man stellt ein oder mehrere Aufnahmen von sich online und das System sucht automatisch unter allen registrierten Benutzern ein Ebenbild heraus.
Gleich am ersten Tag schaffte es unsere Datenbank von null auf beinahe 80.000 Mitglieder, die alle für ein Jahr im voraus zahlten.
Jeder Mensch hat irgendwo eine äußerliche Kopie von sich herumlaufen. Man muss sie nur finden.
Nur finden
Genau hier lag der Hund begraben. Selbst nach zwei Wochen - unsere Datenbank schrammte mittlerweile hart an der fünfhunderttausender Marke - hatte die Software nicht eine einzige Übereinkunft entdeckt. Das mochte Zufall sein, aber ich glaubte nicht daran, oder hegte zumindest meine Zweifel, und setzte mich mit dem Hersteller in Verbindung. Ein Unternehmen in Silicon Valley, dass das Programm ursprünglich zum Zwecke der Zutrittskontrolle in gesicherten Objekten entwickelt hatte.
Das Problem war folgendes: Die Architektur der Software war sehr komplex aufgebaut. Stimmte bloß ein Merkmal nicht überein, wurde auch nichts gefunden. Hierbei konnte es sich um absolute Kleinigkeiten handeln; unter den Augen des einen Menschens zeichneten sich die Tränensäcke beispielsweise etwas stärker ab, als sie es bei seinem potentiellen Gegenstück taten; minimale Unterschiede, wie Muttermale und Narben wurden mitberücksichtigt; ein unterschiedliches Wachstum der Haare, das sich in einem Seitel- oder Mittelscheitel bemerkbar machte. Alles Beispiele für das, was ein Individuum letztlich ausmacht. Dinge, die man selbst oft nicht zu erkennen in der Lage ist, die aber unbestreitbar vorhanden sind.
Die Evolution hatte unserem tollkühnen Vorhaben ein Schnippchen geschlagen und wir machten uns auf, den Gegenangriff zu starten.
***
Mindestens einmal in seinem Leben begegnet man einer bestimmten Person. Sei es auf der Straße, im Supermarkt, oder sonstwo. Man merkt es vielleicht nicht sofort, schaut dem Anderen nur beiläufig ins Gesicht und glaubt plötzlich, in einen Spiegel zu blicken.
Jemand fremdes, der einem doch so vertraut erscheint.
Solche Situationen sind von kurzer Dauer. Der eigentliche Augenblick des Erkennens beendet das seltsame Geschehnis bereits. So erging es mir. Erst als ich aus dem "Nike" Laden herauskam, durch den Regen zu meinem Auto eilte und den Schlüssel in das Türschloss steckte, überkam mich eine Gänsehaut. Ich zitterte am ganzen Leib und machte mir bewusst, dass ich soeben einen Menschen gesehen hatte, der mein eineiiger Zwilling hätte sein können. Zu uneinordbar schien mir der Gedanke in der Sekunde, in der es darauf angekommen wäre, ihn auf diesen Umstand hin anzusprechen. Mich hatte er nicht bemerkt und als ich zurück in das Geschäft lief, war er schon verschwunden. Ich suchte die gesamte Einkaufspassage ab. Nichts.
Ich sah meine Kopie nie wieder.
An diesem Abend feierte ein Freund seinen Geburtstag. Ich trank eine Menge und als ich tief in der Nacht zu Hause ankam, den Rechner einschaltete und laute Musik über die Kopfhörer durch meine Synapsen strömen ließ, da kam mir die Idee.
Eine Internetseite, auf der man nach ihm suchen kann. Dem Anderen, der irgendwo dort draußen ist und dem man möglicherweise niemals im Leben gegenüberstehen wird.
Gleichzeitig mit diesem Geistesblitz wählte die Shuffle Funktion meines Player einen Song von Radiohead aus. Creep.
Diese Idee war dermaßen Creep , dass es überhaupt keine andere Möglichkeit gab, als dass sie funktionierte.
Von der Musik und vom Alkohol berauscht, durchlebte ich in jener Nacht einen bizarren Traum, an den ich mich heute nicht mehr erinnern kann.
Am nächsten Morgen setzte ich dann sämtliche Hebel in Bewegung.
***
Zwölf Wochen unermüdlicher Arbeit. Welche Dinge durften unberücksichtig bleiben, und welche waren von elementarer Wichtigkeit?
Ich kannte mich mit dem Quellcode kaum aus und ein normaler Mensch hätte vermutlich ein ganzes Jahr für die Modifikation gebraucht, aber zu diesem Zeitpunkt war ich längst kein normaler Mensch mehr.
Besessenheit und der innere Druck, den mir die Angst vor wütenden Mitgliedern aufzwang, die ihr Geld zurück verlangten, machten aus mir einen durchnächtigten Koffeinjunkie, der außerhalb seines Bildschirms und anfangs wirrer, schwer zusammenfügbarer Gedankengänge, bald keine Umwelt mehr kannte.
Keine Umwelt außer der, die mit dem Erschaffen eines revolutionären Gesamtbildes zusammenhing und in der mein Geist längst gefangen war.
Ich schaffte es.
Nach und nach gelang es mir, aus der ursprünglichen Software ein Unikat zu scripten. Ich wusste, es würde funktionieren, auch wenn ich jetzt nicht mehr zu beschreiben in der Lage bin, woher diese Gewissheit kam.
Als ich das Endprodukt meiner Arbeit - meines seelischen Deliriums - online schaltete, ploppte eine Meldung auf meinem Monitor auf.
It´s a MATCH!
Einige Sekunden später stürzte der Server ab. Das System hatte auf einen Schlag mehr als 50 Übereinstimmungen gefunden und war anschließend völlig überlastet in sich zusammengebrochen. Wir mussten an der Performance arbeiten, aber das interessierte mich in diesem Moment wenig.
Vor meinem geistigen Auge leuchteten goldene Dollarzeichen auf. Ich meine das nicht als Metapher. Sie waren tatsächlich da, ich sah sie ganz deutlich.
In dieser Nacht erkannte ich, was es bedeutet, ein gemachter Mann zu sein. Ich rief den Rest des Teams an. Cristoph, unser Mann fürs Seiten Design hatte an seinem Rechner bereits bemerkt, was ich kreiert hatte und stieß einen Jubelschrei nach dem anderen aus. Vorbei die Angst vor finanziellen Rückforderungen, die wir uns nicht hätten leisten können. Noch ehe jemand mitbekam, was für Probleme uns die Software bereitete, war sie von mir zur Perfektion gereicht worden. Nicht von Cristoph, oder den übrigen Mitläufern.
Nein...von mir.
***
Mindestens einmal in seinem Leben begegnet man einer bestimmten Person; oder man geht auf Nummer sicher und wird Mitglied im Doppelgänger Portal.
Von uns organisierte Treffen, bei denen man sein Gegenstück wahlweise in gepflegtem Ambiente, oder...wo auch immer treffen kann. Die Wünsche des Kunden zählen.
Anfangs begingen wir den Fehler, den Leuten ihr ganz persönliches It´s a MATCH! Ergebnis direkt zu übermitteln, so dass sie selbst miteinander in Verbindung treten konnten. Solange, bis ich das verschenkte Geld erkannte.
Wer ein Treffen will, der bezahlt, - mitunter sogar eine ziemliche Summe - oder hat Pech und erhält seine Anmeldegebühr zurück. Aber das ist bislang kein einziges Mal vorgekommen.
Unsere Quote ist wahrlich verdammt hoch geworden. Mittlerweile liegt sie bei über 30 Prozent. Kein Wunder, bei mehr als acht Millionen registrierten Benutzern. Jeder Einzelne von ihnen hegt die Hoffnung, seine zweite Hälfte zu finden. Sie wollen sehen, welche inneren Ähnlichkeiten existieren, was für ein Leben der Andere hat; und kennen sie einander ersteinmal, dann suchen sie weiter, nach einem dritten und vierten "Double". Dem Wahnsinn der Besessenheit sind keine Grenzen gesetzt. Ich weiss das. Einmal hat das System sogar schon fünf Übereinstimmungen bei einer...tja, einer Person (?) gefunden. Natürlich halten wir solche Mehrfachtreffer über längere Zeit zurück und lassen das Mitglied zappeln. Wir servieren ihm das Hauptmenü in mehreren Gängen und zwischenzeitlich kann es sich von seiner nervösen Vorfreude in unserem Shop, oder anderswo auf der Seite ablenken lassen.
Wir halten die Mehrheit der Aktien unseres Goldesels in den Staaten, der inzwischen sein Geschäft mit der Zutrittskontrolle aufgegeben hat und unter neuer Firmierung mit Hochdruck an der künftigen USA Seite arbeitet. Geleitet und koordiniert von Deutschland aus.
Um die enorm gesteigerten Verwaltungstätigkeiten bewältigen zu können, sind wir nach Berlin umgezogen und haben ein fünfstöckiges Bürogebäude angemietet.
Von der ursprünglichen Crew ist außer mir niemand mehr übrig. Ihnen fehlte der Geschäftssinn und überhaupt waren sie nicht mehr als lästiger Balast.
Wie eine Fliege, die man nach geduldigem Warten totschlägt, wenn sie sich an einem treffsicheren Platz niederlässt. Ich musste einfach bloß den passenden Zeitpunkt abpassen.
Ich habe ein Patent auf die Technik angemeldet. In so ziemlich allen Ländern, in denen das möglich ist und selbst das Layout ist mit einem Geschmacksmuster geschützt, damit auch ja niemand auf den frevelerischen Gedanken kommt, mein Werk zu kopieren.
Auf den Bildschirmen meiner Mitarbeiter ploppen ununterbrochen die zum deutschlandweiten Kult gewordenen Meldungen auf, die uns einen Jahresumsatz beschert haben, der noch über dem von E-Bay liegt.
Doppelgänger ist nicht länger eine gewöhnliche Internetseite. Es ist die Symbolik einer neuen, konsumorientierten Welt. Die Leute verbringen ihre Freizeit im Forum. Sie kaufen T-Shirts und Tassen, verweilen stundenlang im Photo-Chat, oder sie bewerten sich gegenseitig anhand eines Attraktivitätsbarometers. Seit kurzem ist es auch möglich, sich mehrere "Matches" nebeneinander anzuschauen und Kollektivbewertungen abzugeben. Im grunde unsinnig bei einem völlig gleichen Aussehen. Dennoch ist es fast immer der Fall, dass eine Person schlechter als das, oder die Pendants abschneidet. Die Subjektivität ist maßgebend. Unterschiedliche Klamotten und Stylings. Kleider machen eben doch Leute.
Heute ist Weihnachten. Die meisten haben sich Urlaub genommen. Sie erkennen nicht wie ich, an welcher Sache sie arbeiten. Für sie ist es bloß ein Job. Für mich ist es eine Offenbarung. Eine von Gott gegebene Möglichkeit, die seit langem ungenutzt in den hintersten Winkeln des Verstandes verharrte und dabei nicht mehr als eine Ahnung darstellte. Eine Ahnung, die nur darauf wartete, zu einer Idee, zu einer Praxis zu werden. Sie saß dort, in dem Teil des Unterbewusstseins, welcher uns noch nichteinmal im Traum gezeigt wird. Lauernd. Gierig.
In meinem Schädel fanden ihre Greifer schließlich den Halt, den sie benötigten, sich nach vorne zu ziehen. Ihre spitzen Zähne fanden Nahrung in meinem Hirn und fraßen sich vor bis zu meinen strahlenden Augen, um mir Bilder zu zeigen, die jeglicher Individualität trotzen.
Wir sind alle Menschen und als Menschen sind wir austauschbar. Das zeigt Doppelgänger ganz deutlich.
Konfrontiere ein Kleinkind täglich mit hunderten von Aufnahmen einer bestimmten Primatenrasse. Irgendwann wird es in der Lage sein, einzelne Affen voneinander zu unterscheiden, während diese Tiere für den Rest der Gesellschaft ein stets gleiches Gesicht haben werden. Ich bin mir sicher, dass es auch hier "Zwillinge" gibt, wenn man bloß nach diesen suchen würde.
Sovieles wiederholt sich in der Natur. Sonnenblumen blenden uns nicht und verbergen somit vor dem alltäglichen Kleingeist ihre dreiste Nachahmung. Architekten orientieren sich an dem perfekten Aufbau eines Spinnennetzes. Formen und Farben von Pflanzen; sie imitieren lediglich. Es kann definitiv keine neuen Ideen geben. Alles schonmal dagewesen. Wir stellen einen ewigen Kreislauf dar, der zu unserer eigenen Hölle geworden ist.
Auch ich bin mir dessen mittlerweile absolut bewusst. Es dauerte lange. Sehr lange sogar und ich war beinahe so weit, mich als die Wiedergeburt einer Gottheit zu betrachten.
Bis Mittwoch.
It´s a MATCH!
Keine frischen Ideen. In vergangenen Zeiten gab es ihn bereits, denjenigen, der sich aufmachte, seine Brüder der Äußerlichkeit zu suchen. Nur gab es damals noch kein Internet. Doch auch bei ihm fanden die Greifer Halt, die Zähne Nahrung.
Ich selbst bin genauso substitutiv wie dieser kümmerliche Pilz genannt Kreativität, der unser Denken vergiftet und uns glauben macht, etwas besonderes zu sein. Das sind wir nicht. Ein Band mit aufgespultem Programm, das an seinem Ende wieder von vorne anläuft, das sind wir.
Mein "Match" ist ebenso einsam wie ich. Sonst würde es sich nicht an Heiligabend mit mir treffen. Soviele Dinge, die über Aussehen hinausgehen.
Es ist spät und ich fahre den Rechner runter. Ich schaue aus dem Fenster. Die Straßen sind von stillem Schnee bedeckt, ansonsten sind sie leer.
In den Häusern werden jetzt Geschenke ausgepackt, in Begleitung kitschiger Musik, die sich jedes Jahr auf ein "neues" wiederholt.
Feiern die Menschen ein bestimmtes Ereignis in schwelgender Kindheitserinnerung, so betrachten sie die Gleichheit als etwas märchenhaftes.
Gehen sie ihrem Alltag nach, dann akzeptieren sie selbige immerhin noch.
Ich fahre mit dem Fahrstuhl nach unten und versuche mich innerlich auf eine Begegnung einzustellen, für deren emotionales Begreifen mir die Erfahrung fehlt.
Sie heisst Sandra.
Gefundenes Resultat einer weiteren Programm-Modifikation. Mein weibliches Pendant.
Verloren sitzt sie an dem kleinen Tisch und sucht mit ihren großen Augen das Lokal nach mir ab. Ich bin fünf Minuten zu spät dran.
"Hallo" - Mehr fällt mir nicht ein.
Das Gesicht so weiblich; alles vollkommen anmutig und doch einer Schwester gleich, strahlt sie mich an, in ihrer kindlichen Naivität.
"Hey", flüstert sie süß zurück.
Und gleichzeitig sagen wir beide : "Experiment gelungen."
Wir sind nicht austauschbar, sondern zu vervollständigen.
In dieser Nacht geben wir einander hin. Stöhnendes Atmen, unterbrochen von allzu sanften Berührungen und Keuchen und gelebter Liebe.
So wunderbar ist es ein Kind zu schaffen, das keine Unterscheidung zwischen den Geschlechtern mehr kennen wird.
Ich weiss das. Für sie ist es nur der beste Sex, den sie jemals hatte.
Für unseren Nachwuchs wird es keinen passenden Namen geben, weil er weder männlich noch weiblich auf die Welt kommen wird.
Aber etwas sehe ich bereits jetzt vor meinem geistigen Auge. Eine Buchstabenfolge.
It´s a MATCH!
Genauso deutlich wie damals die Dollarzeichen.
Dennoch, ein fader Beigeschmack wird bleiben.
Ist die Menschheit wirklich schon reif für neue Ideen?