Was ist neu

Jackpot um Zehn

Seniors
Beitritt
03.07.2004
Beiträge
1.585

Jackpot um Zehn

Büro liegt neben Büro. Es gibt gute Verkehrsanbindungen, alle Angestellten können zur gleichen Zeit mit der Arbeit beginnen. Alle sitzen konzentriert vor ihren Computern. Wer seinen Tagesschnitt nicht erreicht, erhält Gehaltsabzüge. Alle sind unauffällig gekleidet, so daß die Augen nicht abgelenkt werden. Man weiß die Namen seiner Nachbarn, aber mehr kaum. Um zehn Uhr gibt es zehn Minuten Frühstückspause. Die Ohren der Angestellten in den Büros sind auf die Lautsprecher in der Decke gerichtet. Die Arbeitszeit wird von leiser beruhigender Musik begleitet. Aber in der Pause wird das Programm des Lokalsenders herabtönen und dann wird es spannend. Viele schlucken schnell noch eine Konzentrationspille. Einige greifen auch nach ihren Tranquilizern.

"Hallo alle miteinander, hier kommt wieder der Problemfall des Tages. Diesmal haben wir wirklich ein schweres Problem. Alle achtunddreißig Lösungen, die unsere Hörer uns bisher geboten haben, waren falsch und der Jackpot steht jetzt also auf 8.800 Euro. Sie wissen ja, gespendet wird der Jackpot von Prosper, ihrer lebensfreundlichen Internetapotheke. Wir liefern Ihnen alle Medikamente, die sie für ein glückliches Leben brauchen, sofort und kostengünstig.

Hier ist nun ihre Chance. Rufen Sie unter 0800 999 für 3,24 Euro die Minute an und sagen Sie uns die richtige Lösung. Sie kennen das Problem nicht? Na, dem kann ich abhelfen. Nach Big Two von der Gruppe Lowfat beschreibe ich ihnen das Problem und dann haben Sie die Chance 8.800 Euro zu gewinnen."

Die Spannung steigt an. Frau Müller ist schon wieder so aufgeregt, daß sie ihre Medikamentendose nicht aufbekommt. Herr Weber eilt ihr zu Hilfe. Das ist ja auch seine Aufgabe als Gesundheitsbeauftragter.

Einige haben sich mit ihren Pillen so gut eingestellt, dass sie auch während der Arbeit dem Lokalsender zuhören konnten und nun versuchen sie, ihren Kollegen das Problem zu erklären. Es kommt zu Streitereien, die während der Werbung nach der Musik, an Lautstärke zunehmen. Her Weber verteilt einige extra starke Streithemmer, so dass bald wieder Ruhe ist. "Pax forte schaffen sofort Frieden" murmelt Herr Weber erfreut über seinen erfolgreichen Einsatz. Und dann meldet sich auch die Moderatorin wieder:

"Also ihr Lieben, hier habe ich jetzt das Problem, das ihr lösen sollt. Immerhin gibt es 8.800 Euro zu gewinnen, gestiftet von Prosper, ihrer lebensfreundlichen Internetapotheke - also gut aufgepasst und sofort anrufen: 0800 999 für 3,24 Euro die Minute.

Peter S. hat schon seit Wochen nach dem Mittagessen Sodbrennen. Darunter leiden seine Arbeitslust und seine Konzentration. Er bearbeitet nachmittags nur noch 12 Akten in der Stunde. Dabei hat er einen Stundenschnitt von 15 Akten. Der Chef droht ihm eine dauerhafte Gehaltskürzung an und Peter S. sucht eine Lösung seines Problems, ohne seinen kostenlosen Quartalsbesuch im Arztzentrum opfern zu müssen. Was schlagen Sie ihm vor. Rufen Sie an: 0800 999 für 3,24 Euro die Minute."

Und schon klingelt das Telefon im Studio. Eine aufgeregte Stimme meldet sich. Hätte mehr Beruhigungstabletten nehmen sollen, denkt Frau Müller, die inzwischen die Ruhe selber ist.

"Hier ist Annedore Nietnagel aus Klövenstein. Ich schlage vor, Peter nimmt morgens drei Ritardal und mittags vor dem Essen noch zwei Cyclodoranal. Dann hat er bestimmt kein Problem mehr."

"Völliger Blödsinn", platzt Herr Weber heraus und sofort flammen erregte Stimmen auf, aber die Sendung läuft weiter und so herrscht gleich wieder gespannte Stille:

"Vielen Dank, liebe Annedore für Deinen Lösungsvorschlag. Und nun wollen wir hören, was unser Fachmann, Herr Dr. Dr. Richterson zu der Lösung von Annedore zu sagen hat. Herr Dr. Dr. bitte:"

"Ja, meine liebe Annedore, deine Problemlösung ist vielleicht etwas radikal. Ritardal beruhigt den Magen und hemmt die Produktion von Magensäure. Das ist ein recht guter Ansatz. Cylodoranal ist gut geeignet, jedes Gefühl von Unwohlsein zu beseitigen. Aber dieses Mittel wirkt auch antriebshemmend, so dass Peters Arbeitsleistung wohl noch geringer wird. Insgesamt ist Ihre Lösung also nicht gut geeignet."

"Liebe Annedore, das war leider nicht die Lösung. Herzliche Grüße aus dem Studio nach Klövenstein. Der Jackpot steigt auf 8.900 Euro und wir haben gleich noch einen Anrufer."

Eine tiefe, beruhigend wirkende Stimme: "Hermann Grübel aus Nüschelau. Meine Oma hat mir immer ein Glas Milch mit ...."

Die Moderatorin nimmt den Anrufer schnell von Sender und fängt herzlich an zu lachen.

"Mein lieber Hermann, das war ein guter Witz. Die älteste Oma vom Lande weiß doch heutzutage, daß selbst die besten biologisch erzeugten Lebensmittel niemals gegen die wunderbaren Produkte unserer Arzneimittelindustrie ankommen.

Und Prosper, ihre lebensfreundlichen Internetapotheke, erhöht den Jackpot auf 9.000 Euro. Prosper liefert Ihnen übrigens über 30.000 Arzneimittel. Hier gibt es für jedes Problem eine Lösung. Jeder Wunsch kann Ihnen erfüllt werden. Die neuesten Medikamente sind bei Prosper sofort nach dem Erscheinen verfügbar. Und für nur 15 Euro monatlich erhalten Sie das Probierabo: Jeden Monat senden wir Ihnen die neuesten Medikamente in Probepackungen mit ausführlichen Prospekten zu."

Auch die Angestellten im Büro sind in das Lachen eingefallen. Die Frühstückspause geht ihrem Ende zu und Herr Weber verteilt die neuen Laboplacs. Sie steigern die Arbeitsfreude um mehr als zehn Prozent ohne jede Nebenwirkung.

"Liebe Zuhörer, jetzt gibt es wieder Musik für Sie. Burn In spielen Only Me. Und wenn Ihnen die Lösung einfällt, rufen Sie an: 0800 999 für 3,24 Euro die Minute. Nach Only Me von Burn In schalten wir in die Zentral-Apotheke. Von dort informieren wir sie über die brandneuesten Hits aus der Pharmaszene. Unser Thema heute: Erwachsen werden ohne zu altern. Und allen, deren Frühstückspause jetzt zu Ende geht, sage ich: Vergessen Sie nicht, um 20 Uhr ihre Weckamine zu nehmen, denn ab 20.15 wiederholen wir die Hits aus der Pharmaszene, damit auch sie immer up to date sind."

 

Hallo jobär,

ich war mir nicht sicher, was genau du mit deiner Satire "angeprangert" hast. Meine Gedanken sind da in mehrere Richtungen gegangen.

Gewinnspiel: Die meisten Leute sind heute total geil auf irgendwelche Gewinnspiele. Ich weiß jetzt nicht aus welcher Region du kommst, aber in einem Radiosender in Bayern musste man ein Geräusch erraten. Der Sieger gewann 98.000 Euro, gab aber im Sender an, dass er vorher ca. 200x angerufen hat. (Für 50 Cent pro Minute).
Das war hier auch echt so, dass jeder im Endeffekt darüber geredet hat, was das Geräusch den ist etc. Ich konnte mir daher vorstellen, das du auf die Hysterie von solchen Gewinnspielen anspielen wolltest.

Arbeitwelt: Nachdem den Mitarbeitern Lohnabzüge drohen, wenn sie ihr Tagespesum nicht schaffen, könnte ich mir gut vorstellen, das du hier auf Mißstände Aufmerksam machen wolltest. Gerade im Zuge der ganzen Diskussionen um Arbeitszeiterhöhung, Kürzung des Jahresurlaubes etc.

Gesundheitswesen: Deine Anspielung bezüglich "kostenloser Quartalsbesuch" hat mich natürlich wieder auf das Gesundheitswesen gebracht. Praxisgebühr etc. Viele Leute versuchen ja jetzt schon sich mit Medikamenten aus der Apotheke gesund zu pflegen und machen damit machmal alles noch schlimmer...

"Glückspillen": Diesen Anteil habe ich am Meisten heraus gelesen. Die Menschen kaufen sich Pillen, um ihre ganzen Probleme zu lösen - und in deiner Geschichte scheint das ja sogar zu funktionieren. Man kauft sich quasi einen Ersatz, für wirklich glückliches Leben...

So, jetzt habe ich dich ganz schön zugelabert, aber wie du siehst, musste ich ganz schön über deine Geschichte nachdenken.
Hat mir gefallen, obwohl mich die vielen Namen der unterschiedlichen Mitarbeiter ein bißchen gestört hat.

LG
Bella

 

Hallo Bella!

Danke für Deine Kritik. Ja, auch bei uns im Norden hat ein Sender (Radio Hamburg) so ein Gewinnspiel, wo man ein Geräusch raten muß. Und die haben im Moment seit Tagen ein Geräusch, das niemand herausbekommt - der Gewinn steht in schwindeeleregenden Höhen. Das war also der eine Auslöser. Der andere war ein Bericht in der Apothekenzeitung: "Erwachsen werden ohne zu altern." Und so habe ich versucht, mir eine Welt vorzustellen, in der die Menschen selbst in der synchronen Frühstückspause eher Medikamente zu sich nehmen als etwas zu essen. Ich vermute mal, der Radiosender gehört einem Pharmakonzern und vielleicht sitzen ja auch die Mitarbeiter im Büro eines Arzneimittelherstellers. Ich denke, die Themen, die Du nennst, sind vorhanden, aber zentrales Thema ist wirklich die Abhängigkeit der Menschen von der Tablette - egal wofür oder wogegen, Hauptsache Pille.

Herzlichen Gruß

Jo

 

Hallo Jobär,

erst dachte ich noch: "och nö, nicht schon wieder so ne Realsatire" doch wir beide wissen ja, dass die Erkenntnispille der Firma Prosper noch in der Testphase ist oder vielleicht hatte ich auch nur nen Placebo, jedenfalls klappte es dann plötzlich, als ich die "nunhaltemaldurch-Pille" eingeworfen hatte und weiterlas.
:bounce: Eine Satire!!!
Netter Plot (erkannte ich völlig unbeeinflusst und ohne die "Ichfindallestoll-Pille" einzuwerfen) und seine Umsetzung ist dir ebenfalls gelungen, indem du es in den Handlungstrang der noch bekloppteren Radiosendungen eingebunden hast.

Mir hat gefallen, dass du eigentlich mit jedem Sachverhaltsquentchen eine neue kleine oder auch größere Spitze gegen unsere gesellschaftlichen Tendenzen zum Pieksen verwendet hat.

ist, dass der Geschichte der beissende Humor fehlt, nicht, dass ich behaupten würde, es müsste eine Satire Humor haben, aber die Unbekömmlichkeiten, die einem als Leser ja in Form der Satire vorgehalten werden sollen, lassen sich nun mal leichter verdauen, wenn sie mit Humor gewürzt werden und nicht wie ne bittere Pille schmecken.
Ein wenig lockerer hätte es daher schon zugehen dürfen in deiner Firma.
Aber ich habe ja immer was zu meckern. ( mir sind grad die "Ichbinjasozufrieden-Pillen aus) ;)

Lieben Gruß
lakita

 

Hallo Lakita!

Ich hab mir erst mal den (Angst)schweiß von der Stirn gewischt. Hurra, die Geschichte hat Dir gefallen. Nach Deiner leichten Frustration im Flickenschildt, wollte ich doch mal versuchen, ob ich eine Satire hinbekomme. Also danke für Deine Worte und dass mir die Geschichte zu ernst geraten ist, stimmt. Und das wundert mich etwas, denn ich schreibe viel lieber humorige Geschichten.

Lieben Gruß

Jo

 

Hallo Jo,

;)

Vielleicht ist es so, dass du deswegen mit dem Humor so sehr gespart hast, weil du dich so angestrengt darauf konzentriert hast, eine Satire zu schreiben??
Man sagt Männern ja nach, dass sie nicht in der Lage sind, zwei Dinge auf einmal zu erledigen, so wie wir Frauen, die Radio hören können dabei mit der besten Freundin am Telefon quasseln, die Suppe im Kochtopf umrühren und gleichzeitig mit einem Auge ein selbiges scharfes auf Kater Max werfen, um sofort einzugreifen, wenn er versucht, sich an der Aufschnittplatte zu verpfoteln. :D

Ich hoffe auf weitere Satiren von dir und muss gestehen, dass ich mich echt schon freue, wenns eine ist. Dass ich immer noch mehr will, liegt in meinem Naturell, bin Nachfahrin der Raupe Nimmersatt. ;)

Liebsten Gruß
lakita

 

Hallo Lakita!

Danke, dass Du mich drauf gebracht hast. Ich komme gerade vom Betriebsausflug, bei dem sich auch wieder feststellen ließ, dass Sier wohl erst einmal geübt hat, als Sier den Mann schuf.

Liebe Grüsse

Jo

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom