- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Jamal
Jamal ist ein dürrer und hochgewachsener Junge, der auf einem kleinen Dorf lebt, abseits der modernen Welt. Er liebt die Behaglichkeit seiner Familie, erfreut sich an dem netten Umgang mit der Nachbarschaft und die spendable Sonne tut ihr übriges: Sein kleines Paradies. Er unterstützt seine Familie, indem er auf dem großen Müllberg des Dorfes Metallreste zusammensucht und den kostbaren Müll bei Eintritt der Dämmerung einem privaten Abnehmer übergibt. Dieser zahlt ihm einige Groschen dafür, genug um sich nicht hungrig in den Schlaf zu quälen. Jamal ist zufrieden mit seinem einfachen Leben. Solange er seinen Beitrag in der Familie leistet, seine kleinen Geschwister lachend umhertoben sieht und sich hin und wieder an einer der wenigen Waschstellen des Dorfes den Dreck vom Leib rubbeln kann, ist alles ok. Warum sollte es auch anders sein? - Ist doch schön, wie es ist.
An einem gewöhnlichen Arbeitstag wird Jamal mit einem ohrenbeteubenden Knall aus seinem erholsamen Schlaf geweckt. Noch begreift er die Situation nicht, zu verzehrt ist das Bild, da seine Sinne nach dem nächtlichen Ruhemodus nur langsam wieder anfangen zu arbeiten. Er reibt sich mit den Händen die Unschärfe aus den Augen, wird wacher, ordnet die fremden Geräusche den Absendern zu und realisiert nun die Gefahr, in die er ungefragt hineingeworfen wurde: Draußen fallen Bomben vom Himmel und die Dorfbewoner schreien fürchterlich um ihr Leben. Jamals Glieder werden steif vor Angst. In seiner Vorstellung durchlief er bereits mehrmals die Treppen nach unten, raus aus der Gefahrenzone, doch er schafft es nicht seine Beine für den ersehnten Sprint zu ermutigen. Nur holprig richtet er sich auf, bezwingt seinen inneren Konflikt und erreicht mit ungeschickten Schritten den Ausgang.
Wo sind seine kleinen Geschwister? Er schaut sich um und ruft panisch nach ihnen:
"Kamila!...Samira!...Amir!".
Keine Antwort...
Auch wenn sie ihm antworten würden, hätten die Todesschreie der Dorfbewohner diese sicherlich übertönt. Vor der Haustür erkennt Jamal nach seinen unerhörten Rufen einen leblosen Körper auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten. In dem Moment verstummt das knistern der brennenden Dächern und die Schreie der Dorfbewohner alle sammt:
"Nein, das kann nicht sein..
bist du das, Ma.."
Er traut sich nicht den Gedanken zuende zu führen, doch er kann nichts daran ändern, sie ist es tatsächlich. Um zu erfahren, dass diese leicht verkohlte Leiche seine Mutter ist, braucht er nicht ihr Gesicht zu sehen; neben ihrer ausgebreiteten Hand liegt seine kleine Schwester daneben, Samira. Seine Mutter hat wohl das hilfloseste Kind von allen retten wollen. Nun sind beide tot.
Nach diesem Anblick überwältigt Jamal ein Gefühl der Hilflosigkeit. Sein junges Gesicht verändert sich zu einem furchterregenden Anblick, stark verzerrt und faltig. Er hält seine Arme vor sein Gesicht, um in der Dunkelheit Schutz und trost zu suchen. Doch dadurch wird es nicht besser. Mit der Hoffnug, dass noch jemand aus der Familie überlebt haben könnte, läuft er nun los. Er sucht und ruft:
"Kamila!...Amir!...Samiraaaarrgh!
Keine Antwort...
Jamal weiß, dass Samira ihm nicht mehr antworten kann. Doch die Gedanken sind noch frisch, die er zu diesem Zeitpunkt erfolgreich verdrängen kann.
Hilflos schlendert er durch das Dorf seiner Kindheit. Sein antriebsloser Gang, die Streifen auf seinen Wangen aus getrocknetem Tränensalz und die leblosen Augen lassen sein Erlebtes nur im Entferntesten erahnen. Nach 2 Tagen hat er einen weiten Weg zurückgelegt, ohne Erfolg. Nun sucht aus dem letzten Überlebensmut Schutz in der Ferne, weit weg von den Flammen. So begibt sich die verlorene Seele auf eine lange und beschwerliche Reise über das Land und Meer.
An seinem Ziel angekommen steht er nun vor einer Schranke, hinter der ein großer Ritter mit einer eindrucksvollen Lanze und einer mächtigen Rüstung steht. Hinter ihm präsentiert sich eine gewaltige Burg mit scheinbar undurchdringlichen Mauern und einer hoffnungsvollen grünen Pracht aus Gräsern und Büschen vor dem Tor, die auf ein unbeschwertes Leben hindeuten. Inmitten der Burg erkennt Jamal ein Leuchtspiel aus emporsteigenden Raketen, die alle samt in eine Richtung davon fliegen. Der hinterlassene Schweif könnte ebenso Jamals Wegbeschreibung von seinem zerbombten Dorf zu dieser Burg darstellen. Als er den Ritter höflich um Einlass bittet, hält dieser ihn als Antwort mit seiner riesigen Lanze auf Distanz.
Danke an BREUER für das eindrucksvolle und inspirierende Bild: https://ueberwachungsbuerger.files.wordpress.com/2011/06/festung_europa_080525_1356.jpg