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- 31.10.2003
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Jerry
Der Parkplatz vor dem großen Einkaufszentrum war mit Autos überfüllt. Hier und da schlängelten sich weitere Fahrzeuge zwischen den endlos scheinenden Reihen aus Blech hindurch, und man sah entnervte Fahrer, deren hektische Blicke nach einer frei werdenden Lücke stierten. Wenn man in einige der gehetzten Gesichter blickte, konnte man regelrecht die Wut fühlen; eine Wut darüber, daß anscheinend jedes menschliche Wesen an diesem Samstagmorgen in dieses verfluchte Einkaufszentrum fahren mußte. In einigen Autos sah man sich heftig streitende Männer und Frauen, in wieder anderen turnten Kinder auf den Rücksitzen umher und trugen nicht gerade dazu bei, die beinahe überkochende Gereiztheit ihrer Eltern zu mindern.
Zwischen den parkenden Autos gingen vollbepackte Menschen umher; Menschen, die das Glück gehabt hatten, heute schon früher aufgestanden zu sein, und die ganze Hektik eines Samstagmorgen-Einkaufs heil und unversehrt hinter sich zu haben. Wieder andere quetschten sich in Richtung des riesigen Einganges und zogen quäkende Kinder hinter sich her.
Ein wolkenverhangener Himmel ließ keinen direkten Sonnenstrahl auf den grauen Betonplatz hindurchdringen, sorgte allerdings dafür, daß sich die Hitze der Vortage und auch die einiger Nächte wie unter einer gigantischen Käseglocke staute. Die unerträglich schwüle Luft zauberte bereits bei der geringsten Bewegung große feuchte Flecken auf Hemden und T-Shirts. Vor den großen Schaufenstern, die recht ansprechend auf alle möglichen Sonderangebote hinwiesen, tummelten sich Trauben von Einkaufswütigen, und jeder Außenstehende mußte sich fragen, warum sie nicht einfach in die klimatisierten Innenräume verschwanden, um sich dort von der Vielfalt der Produkte zu überzeugen.
Neben der Eingangstür stand ein altes, zerkratztes Plastikschwein mit einem grünen, ebenfalls arg mitgenommenem Plastiksattel. Aus seinem Bauch ragte eine angerostete Metallstange, die in einen angerosteten Metallkasten endete. An diesem Metallkasten befand sich ein weiterer kleinerer Metallkasten mit einem Schlitz und einem Schild mit der Aufschrift: ´Einwurf 25 Cent! Einbruch zwecklos - Gerät wird stündlich geleert!´
Ein kleines Mädchen mit geflochtenen Zöpfen saß auf dem Plastiksattel, und das zerkratzte Plastikschwein bewegte sich rhythmisch vor und zurück. Das Mädchen hielt in der rechten Hand ein tropfendes Softeis, und sein gelangweilter Gesichtsausdruck ließ die daneben stehende Mutter nervös auf die Uhr blicken. Mit einem leichten Ruck beendete das Plastikschwein seine eintönige Bewegung, und mit genervten Griffen hob die Mutter ihre Tochter von dem Sitz. Das Mädchen ließ das tropfende Eis fallen und begann ein ohrenbetäubendes Geschrei, welches die Mutter aber in keinster Weise zu beeindrucken schien.
Auch die anderen Passanten blickten nur kurz auf das mittlerweile kreischende Mädchen, schüttelten beinahe mitleidig den Kopf und gingen weiter, ohne noch einen Gedanken an diese alltägliche Situation zu verschwenden. Kurz darauf war die Mutter mit dem schreienden Kind im Inneren des riesigen Einkaufszentrums verschwunden, und das zerkratzte Plastikschwein mit dem grünen Plastiksattel war bereits wieder mit einem 25-Cent-Stück gefüttert worden, um ein neues Kind mit gelangweiltem Gesichtsausdruck durch seine monotonen Bewegungen einzulullen.
An der anderen Seite des Einganges stand ein Kinderwagen.
Niemand schien dazuzugehören, und es grenzte eigentlich an ein Wunder, daß er überhaupt noch da stand. Aus seinem Innern drang ein sanftes Wimmern hervor, aber es war so leise, daß es in der allgemeinen Geräuschkulisse eines Parkplatzes vor einem großen Einkaufszentrum unterging. Einige Frauen, die an dem Kinderwagen vorbeihetzten, hielten für den Bruchteil einer Sekunde in ihren Bewegungen inne; sie schienen einen Moment zu stutzen, einige runzelten sogar die Stirn, doch dieses geschah wirklich nur für den Bruchteil einer Sekunde, danach waren ihre Gedanken wieder bei Milch, Butter, Kleidung und was sonst noch so auf ihrem Einkaufszetteln stand.
Ein Mann in einer alten Jeanshose und einem übergroßem bunten T-Shirt näherte sich zwischen den parkenden Autos hindurch dem Kinderwagen mit seinem leise wimmernden Inhalt. Seine glatten, zu einem Zopf nach hinten gehaltenen Haare wippten mit jedem Schritt über seinem Rücken. Kurz darauf hatte er den Kinderwagen erreicht, und er blickte hinein. Unter einer kleinen Decke lag ein etwa zwei Monate altes Baby. Seine winzigen Augen waren naß von Tränen, und doch wimmerte es nur leise vor sich hin.
Der Mann mit dem Zopf hob die Augenbrauen und seine Mundwinkel wanderten ein kleines Stück nach oben, so daß sein ohnehin schon nett wirkender Gesichtsausdruck noch freundlicher wurde. Seine Hand zog die kleine Decke ein wenig beiseite, und das Baby öffnete seine Augen. Augenblicklich verstummte das Wimmern. Der Mann lächelte ein wenig mehr. Dann sprach er zu dem Kind, doch auch bei noch so genauem Hinhören konnte man nicht verstehen, was er sagte. Es schien sich um eine Reihe zusammenhangloser, unbekannter Laute zu handeln, doch das Baby verfolgte jede Bewegung der Lippen mit einem scheinbar unbändigem Interesse.
Der Mann lächelte weiter, und der sanfte Wortschwall dieser unverständlichen Laute riß nicht ab. Jetzt hob das Baby sein kleines Ärmchen und streckte es dem Fremden entgegen. Dieser führte seine Hand in dessen Richtung, und die zarten Finger des kleinen Wesens faßten den Daumen des Mannes und hielten ihn mit festem Griff umspannt. Der Mann lächelte inzwischen über das gesamte Gesicht.
Ein hysterischer Schrei hinter seinem Rücken ließ ihn leicht zusammenzucken. Eine dickliche Frau mit fettigem Haar und einer vollbepackten Papiertüte auf den Armen rannte schreiend auf ihn zu.
„Nehmen Sie Ihre verwichsten Finger von meinem Kind!“ Ihr Kreischen ließ die anderen Einkaufenden in ihrer Bewegung erstarren. Jetzt hatte sie den Mann erreicht, dessen Daumen noch immer von den kleinen Fingern des Babys umfaßt wurde. Der Mann wollte seine Hand zurückziehen, doch der Druck um seinen Daumen nahm zu. Er blickte noch einmal auf das Kind in dem Wagen und sprach schnell einige von diesen unverständlich Worten. Das Baby schien zu lächeln, dann ließ es den Daumen los. Im selben Moment wurde der Fremde heftig zur Seite gestoßen.
„Was fassen Sie mit Ihren dreckigen Wichsfingern mein Kind an?!“ Die fettige Frau baute sich schützend vor dem Kinderwagen auf. „Machen Sie, daß Sie auf der Stelle verschwinden, sonst ruf ich die Bullen, Sie Drecksau!“
Schaler Atem nach abgestandenem Alkohol und frischem Zigarettenrauch schlug ihm entgegen.
Inzwischen hatte sich ein Pulk aus Schaulustigen um das Geschehen gebildet, einige von ihnen stimmten der fettigen Frau murmelnd zu, andere warteten schweigend ab, wie sich die Situation entwickeln würde. Als der Fremde sich mit einem eher traurigem Gesichtsausdruck durch die Menge drängte, stimmten auch sie murmelnd in die Beschimpfungen mit ein. Kurze Zeit später war auch die fettige Frau mit dem Kinderwagen verschwunden, und der Menschenpulk löste sich auf.
* * *
Es war inzwischen kurz vor Mitternacht und Sheriff Glen Lascow wollte gerade sein Büro verlassen, als Bart Frazier zur Tür hereingestürzt kam. Bart Frazier war einer seiner Deputies und ein Bär von einem Mann. Glen wunderte sich immer wieder, daß er nicht gegen den Türbalken stieß, wenn er sich so schnell bewegte.
„Der alte James Ruttnik hat gerade angerufen“, keuchte er los. „Er sagt, Ben verprügelt wieder seine Frau. Er hat Schreie aus ihrer Wohnung gehört.“
„Scheiße!“ Glen nahm den Revolvergurt von seinem Schreibtisch und schnallte ihn um. „Diesmal buchte ich diesen Idioten so lange ein, bis ihm seine verdammten Hände abfaulen.“
„Und ich stehe persönlich Wache.“ Bart Frazier schlug mit der rechten Faust in seine linke Hand. „Und ich wette, er wird danach nie wieder eine Frau anfassen ...“
„Mach schon mal alles fertig, Bart, ich rufe nur noch Fran an und sage ihr, daß es mal wieder später wird.“
„Alles klar, Glen. Aber beeil´ dich, vielleicht erwischen wir ihn diesmal auf frischer Tat.“ Dann stürmte sein mächtiger Körper wieder hinaus, und auch jetzt prallte sein Kopf nicht gegen den Türrahmen.
* * *
Der Mann mit den zu einem Zopf zusammengebundenen Haaren und dem bunten T-Shirt hatte die Hände tief in den Taschen seiner alten Jeans vergraben. Er schlenderte durch die Straßen, scheinbar ziellos, und blickte abwechselnd vom sternklaren Himmel zum dunklen, nur ab und zu durch ein paar spärlich angebrachten Straßenlaternen beleuchteten Gehweg. Die Luft, die er durch seine Nasenflügel in seine Lungen sog, war angenehm frisch. Er liebte die kühlen Nächte, die die von aufgeheizten Abgasen verpestete Luft des Tages einfach wegzufiltern schien. Wieder nahm er einen kräftigen Zug, und seine Nasenflügel vibrierten.
Als er ein dreistöckiges Haus passierte, vernahm er aus einem geöffnetem Fenster im zweiten Stock eine laute Frauenstimme. Dann die lallende Stimme eines Mannes. Kurz darauf ein klatschendes Geräusch, dann schrie die Frau.
Der Mann in dem übergroßem, bunten T-Shirt blieb stehen und blickte nach oben. In dem Zimmer hinter dem geöffnetem Fenster brannte Licht, und er sah sich schnell bewegende Schatten. Die Frau schrie erneut, und die Männerstimme brüllte lallend.
Der Fremde mit dem Zopf blickte zum Himmel, und eine Träne rann an seiner Wange hinab. Er wollte gerade weitergehen, als die Tür des dreistöckigen Hauses aufgerissen wurde und eine kleine Gestalt hinausstürzte. Sie stieß gegen ihn, und er hielt sie geistesgegenwärtig an den Schultern fest. Bei der Gestalt handelte es sich um ein kleines Mädchen, etwa acht oder neun Jahre alt, schätzte der Fremde. Sie war mit einem weißen Unterhemd und einem kleinen Slip bekleidet.
Die Kleine schrie und wollte sich losreißen. Ihr Kopf fuhr hoch und blickte in die Augen des Fremden. Augenblicklich verstummte sie, und nur noch ihre zitternden Mundwinkel und ihre tränenverschmierten Augen erinnerten daran, daß sie noch vor wenigen Sekunden heftig geweint hatte.
Der Fremde hielt noch immer ihre kleinen Schultern sanft umfaßt, und jetzt merkte er, wie die Knie des Mädchens nachgaben. Er ging in die Hocke und ließ sie langsam zu Boden gleiten, dabei stützte er ihren Kopf mit seinem Unterarm.
Und jetzt erkannte er auch die große, blutende Stelle zwischen ihren Beinen, die bereits den kleinen Slip rot gefärbt hatte. Tiefe Kratzspuren an ihren Armen und nackten Oberschenkeln ließen den Atem des Fremden stocken. Das Mädchen sah ihn an, und er blickte tief in ihre dunklen Augen. In Augen, die alles Leid dieser Welt widerzuspiegeln schienen. Sanft strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Aus dem zweiten Stock drang wieder dieses lallende Gebrüll, und das kleine Wesen in seinen Armen zuckte merklich zusammen.
Der Fremde mit dem bunten T-Shirt sagte etwas, doch das Mädchen konnte ihn nicht verstehen.
„Bitte, Mister ...“, ihre Stimme kam stockend, und der Fremde merkte, daß es ihr schwerfiel zu sprechen. „Bitte, helfen ... bitte helfen Sie mir ... und meiner Mama ...!“ Sie keuchte und ein kleiner Blutsfaden rann über ihre zitternden Lippen.
Wieder sprach der Fremde mit diesen seltsam klingenden Lauten, und mit jedem Wort kamen sie dem Mädchen vertrauter vor. Die Stimme war sanft und lieblich und irgendwie ... irgendwie bekannt.
„Mister ... ich kann Sie nicht ...“ Sie hustete, und im zweiten Stock schrie die Frau. „... ich kann Sie nicht verstehen, Mister ... Aber Sie müssen ...“ Wieder dieses beängstigende Husten. „... Sie müssen meiner Ma´ helfen ... Bitte, Mister, helfen Sie meiner Ma´ ...!“
„Ich kann deiner Mutter nicht helfen.“
Tränen schossen dem Mädchen in die Augen. Noch nie hatte sie eine so liebliche Stimme gehört, und gleichzeitig war sie sehr froh, daß sie den Fremden nun doch verstehen konnte. „Bitte, Mister ...“ Schon wieder blockierte dieser Hustenreiz ihren Satz.
„Shhhh!“ Der Mann mit der sanften Stimme legte ihr einen Finger auf den Mund. „Es tut mir leid, Kleines“, fuhr er mit leiser Stimme fort, „aber ich kann deiner Ma nicht helfen ... Noch nicht! Aber wenn du möchtest, helfe ich dir.“
Wieder verschleierte ein Tränenschwall den Blick des Mädchens, und sie wußte, daß der Fremde die Wahrheit sagte. Sie hob ihre zitternde Hand und berührte seine Wange, an der ebenfalls eine Träne hinabrann. „Ich weiß, daß Sie ihr helfen werden, Mister, ... irgendwann.“
Der Mann lächelte.
Das Mädchen hustete wieder, und das Blutrinnsal an ihren Lippen wurde größer. In diesem Moment wurde die Tür des dreistöckigen Hauses erneut aufgerissen und ein Mann in weißem Unterhemd und Boxershorts stürmte ins Freie. Er schwankte leicht und stützte sich mit der Hand an der Hauswand ab. Dann fiel sein Blick auf den hockenden Mann und das Mädchen in dessen Armen. Er stieß sich von der Wand ab und brüllte. „Was machst du da mit meiner Tochter?“ Mit schwankendem Schritt ging er auf den Fremden zu. „Isch hau dir deine dämliche Fresse ein, wenn du sie nicht sofort losläßt ...“
Die Augen des kleinen Mädchens weiteten sich, und sie drückte sich fest an den Mann, der sie in den Armen hielt. Dieser fuhr herum und hob seine freie Hand. Augenblicklich hielt der Lallende in seiner Bewegung inne, so als hätte man einen schlechten Film gestoppt.
Das Mädchen wimmerte und hatte ihr Gesicht tief in das bunte T-Shirt des Fremden gegraben.
„Shhh, Kleines! Ganz ruhig, er wird dir nichts mehr tun.“
Zitternd hob sie ihren Kopf. Ihr Vater stand da, keinen Meter entfernt von ihnen, eingefroren in seiner Bewegung. Nur seine Augen schienen sich zu bewegen, und das Mädchen erkannte die Panik, die sich darin widerspiegelte.
Sie sah wieder auf den Fremden, dessen rechter Arm immer noch gegen ihren Vater gerichtet war. „Wer ... wer sind Sie, Mister?“
„Mein Name ist Jerry!“
„Danke, Jerry. Mein Name ist Samantha.“
„Ich weiß“, flüsterte der Mann.
„Werde ich dich ... wiedersehen, Jerry?“
Der Fremde lächelte wieder. „Ja!“ sagte er und legte seinen Daumen auf ihre Stirn.
Das Mädchen schloß die Augen, und ihre kleinen Mundwinkel lächelten ebenfalls. Dann starb sie.
* * *
„Es hat keinen Zweck!“ Sheriff Glen Lascow schlug mit der Faust auf den Tisch und stand auf. „Sperr ihn ein, Bart.“
Deputy Bart Frazier packte den Mann mit dem bunten T-Shirt und dem langen Zopf an den Schultern und riß ihn hoch. „Na los, komm schon!“ Dann schob er ihn durch die Tür des Büros in den Zellenblock.
Sheriff Lascow fuhr sich durch die strähnigen Haare. Die Uhr in seinem Büro zeigte inzwischen auf 1.30 Uhr. „Verdammte Scheiße!“ murmelte er und ging zur Kaffeemaschine. Als er das heiße Gebräu in seinen Magen fließen ließ, kam Bart wieder durch die Tür hinein. Er ließ sich auf den Stuhl fallen, auf dem noch vor wenigen Minuten dieser seltsame Fremde gesessen hatte. Er kramte in seinem verschwitztem Hemd nach den Zigaretten, fand sie und steckte sich eine an. Tief sog er den Rauch in seine Lungen und schloß die Augen. Dann blickte er zu Glen.
„Und, was hältst du von der ganzen Sache?“
Sheriff Lascow ging hinüber zu seinem Schreibtisch. „Frag mich was Leichteres.“
„Meinst du, er spielt uns nur was vor, oder versteht er wirklich nicht unsere Sprache?“
Glen ließ sich in seinen Stuhl fallen. „Nun, zumindest verstehen wir seine nicht, soviel ist klar.“
„Wenn es überhaupt eine Sprache ist.“
Glen blickte auf. „Wie meinst du das?“
Wieder zog Deputy Frazier an seiner Zigarette. „Ich meine, das was er uns da vorgequatscht hat, klang zwar ziemlich nett, aber gehört habe ich so was noch nie.“
„Hm...“ Wieder fuhr sich der Sheriff durchs Haar. „Es klang aber doch irgendwie vertraut, fandest du nicht? Also, ich meine, es schon mal irgendwo gehört zu haben ... Frag mich jetzt aber nicht, wo.“
„Tja, wenn du meinst.“ Deputy Frazier stand auf. „Mir war dieses Kauderwelsch jedenfalls völlig unbekannt.“
Aus dem Zellentrakt drang ein lallender Schrei hervor. „Laßt mich verdammt noch mal hier raus, ihr scheiß Bullen.“ Es war Ben Slater, der Vater der toten Samantha.
„Halt die Schnauze, Ben!“ brüllte Deputy Frazier. „Oder ich werde mich gleich persönlich um dich kümmern ...“
„Ihr scheiß Bullen! Dieses Schwein hier neben mir in der Zelle hat meine Tochter umgebracht. Er war es! Er war es, ihr scheiß Bullen! Versteht ihr mich? Er war es!“
Bart Frazier stand auf und schloß die Tür. Das Gebrüll wurde leiser. „Also, ich kann mir nicht vorstellen, das es dieser langhaarige Bombenleger war.“
Sheriff Lascow sah ihn an. „Er hat ihr Blut an seinen Klamotten.“
„Ja, ja, ich weiß. Aber vielleicht wollte er ihr nur helfen. Hast du dir die Kleine mal näher angesehen? Sie wurde doch eindeutig vergewaltigt. Und wenn du mich fragst, hat ihr Dreckskerl von Vater da seinen perversen Schwanz drin gehabt.“
„Ich denke ja auch, daß du Recht hast, Bart. Aber wir sollten zum einen den Obduktionsbericht abwarten, und zum anderen werde ich morgen noch mal zum Krankenhaus fahren und versuchen, mit Mrs. Slater zu sprechen.“
„Allein dafür sollten wir ihn umbringen, dieses Schwein.“ Bart Frazier drückte seine Zigarette aus.
„Weißt du, was wir machen werden, Bart? Du schnappst dir jetzt noch einmal diesen Ben; nimm ihn am Besten mit in dein Büro. Und ich werde mich noch mal mit unserem langhaarigen Freund unterhalten, und zwar alleine. Vielleicht ist er dann ja ein bißchen gesprächiger.“
„Bist du sicher, ich kann dich mit ihm alleine lassen?“
„Keine Angst, mein großer Beschützer, ich laß ihn in der Zelle und setze mich davor.“
Deputy Frazier stand auf. „Idiot!“
Auch Glen Lascow ging jetzt zur Tür. „Ach noch was, Bart. Du sollst ihn nur verhören, klar?!“
„Kein Problem, Sheriff, oder glaubst du, ich habe Bock ihn hinterher wieder laufenzulassen, nur weil unsere Methoden nicht sauber waren?!“
„Ich meine ja nur!“
* * *
Fünf Minuten später saß Glen vor der Zelle des Fremden. Er hatte sich einen Stuhl geholt und ihn vor die Zellentür postiert. Der Mann mit den alten Jeans und dem bunten T-Shirt, welches an einigen Stellen dunkle Flecken aufwies, saß auf dem Boden unter dem Fenster. Glen konnte durch die Gitterstäbe den Sternenhimmel ausmachen, und irgendwie wünschte er sich für einen Moment, jetzt da oben zu sein. Er sah wieder auf den Fremden. Dieser hatte den Kopf gesenkt, und Glen dachte, er sei eingeschlafen, doch dann hob auch er den Kopf.
Glen wartete einen Moment, in der Hoffnung, der Fremde würde etwas sagen, doch dessen Lippen blieben verschlossen. Er sah ihn einfach nur an.
„Ich war vielleicht vorhin ein wenig gereizt, Mister“, begann Glen das Gespräch. „Ich möchte mich dafür entschuldigen.“
Der Fremde legte den Kopf ein wenig zur Seite und hob die Brauen.
„Können Sie mir nicht wenigstens Ihren Namen nennen?“
Der Fremde öffnete seinen Mund, und ein seltsamer Laut dran über seine Lippen.
Glen blickte wieder in den Nachthimmel und schloß für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand der Fremde direkt vor ihm und hatte die Hände um die Gitterstäbe geschlungen. Glen zuckte zusammen.
Aus dem hinteren Büro hörte er kurz die laute Stimme von Deputy Frazier. Glen blickte in das Gesicht des Fremden, der ihn jetzt von oben durch die Gitterstäbe hindurch ansah. Wieder kamen diese Laute über seine Lippen. Diese Laute, die Glen irgendwie vertraut vorkamen, von denen er aber sicher war, sie noch nie zuvor in seinem Leben gehört zu haben. „Mister, es tut mir leid, aber ich verstehe Ihre Sprache nicht. Verstehen Sie meine? Wenn ja, dann nicken Sie doch einfach mit dem Kopf.“
Der Fremde lächelte ihn an, doch sein Kopf bewegte sich nicht.
Glen fuhr sich durch die Haare und stieß hörbar die Luft aus. „Mister, hören Sie, ich weiß, daß Sie unschuldig sind. Sie haben die kleine Samantha nicht vergewaltigt und umgebracht, aber Sie könnten mir helfen, ihren Vater für immer hinter Gittern zu bringen. Wenn Sie mir nur sagen würden, was Sie gesehen haben.“
In diesem Moment zerriß ein ohrenbetäubender Knall die übrige Stille der Büroräume. Kurz darauf noch einer. Glen sprang auf und griff nach seiner Waffe, doch seine Hand faßte ins Leere. Durch die halb geöffnete Bürotür konnte er seinen Revolvergurt mitsamt Inhalt auf seinem Schreibtisch erkennen. „Verdammte Scheiße!“ murmelte er.
Ein harter Griff an seinen Oberarm ließ ihn herumfahren. Der Fremde hatte durch die Gitterstäbe gegriffen und ihn gepackt. Gleichzeitig drang wieder dieser unerkennbare Wortschwall an seine Ohren. Glen riß sich los. Die Augen des Fremden waren weit geöffnet.
„Keine Angst, Mister. Ihnen kann hier hinten nichts passieren.“ Doch so ganz sicher war sich Glen da auch nicht mehr. In den angrenzenden Büroräumen war es jetzt still.
Der Fremde redete weiter und blickte Glen tief in die Augen. Wenn er nur wüßte, warum ihm diese Laute so bekannt vorkamen.
„Mister, halten Sie bitte für einen Moment den Mund, okay?“ Glen drehte sich um und preßte sich an die gegenüberliegende Zellenblockwand.
„Verdammt, verdammt, verdammt!“ fluchte er noch einmal leise vor sich hin. Er hätte sich am Liebsten selbst in den Arsch getreten, für soviel Dummheit. Wie oft hatte er seinen Leuten gepredigt, nie ohne Waffe in den Zellentrakt zu gehen? Seine Faust schlug gegen den kalten Stein.
Er blickte wieder zu dem Fremden, der immer noch mit weit aufgerissenen Augen auf ihn starrte. Seine Hände waren so fest um die Gitterstäbe gekrallt, daß Glen das Weiße der Knochen erkennen konnte. Irgendwie hatte Glen das Gefühl, als wolle der Fremde ihn warnen. Aber das wußte er selbst, daß diese Sache hier jetzt nicht ungefährlich war. Und doch mußte er versuchen, an seine Waffe zu gelangen. Und zwar bevor dieser Idiot von Ben Slater hier hereinkam und ...
In diesem Moment hörte Glen, wie die Tür von seinem zu Barts Büro geöffnet wurde. „Oh nein!“ kam es über seine Lippen. Dann wurde die Tür zum Zellentrakt ganz geöffnet, und im Türrahmen stand Ben Slater. Er hielt den 38er von Deputy Frazier in seiner Hand und zielte auf Glens Stirn. Glen wich zurück.
„Na du scheiß Bulle! Jetzt geht dir die Düse, hab ich Recht?“ Seine leicht lallende Stimme klang bedrohlich.
„Ben, machen Sie jetzt keine Dummheiten.“
„Glauben Sie Sheriff, ich könnte mich noch mehr in die Scheiße reiten als jetzt?! Ihr verdammter Kollege liegt blutüberströmt über seinem Schreibtisch, und seine stinkenden Därme versauen gerade seine Schreibunterlage ... Meine Tochter fängt in einigen Stunden an zu stinken, und das nur, weil ich mal ein bißchen ficken wollte. Also, Sheriff, glauben Sie wirklich, ich könnte mich noch mehr in die Scheiße reiten?“ Jetzt schrie er beinahe.
Langsam wich Glen noch einen Schritt zurück. Er wollte gerade etwas sagen, irgendwas, irgendwas Belangloses, irgendwas, was diesen irren Idioten für einen Moment aufhalten könnte; er brauchte Zeit zum Nachdenken, doch dann drang wieder dieser ohrenbetäubender Knall an seine Ohren. Ein heißer Schmerz breitete sich wie ein glühendes Eisen in seiner linken Schulter aus, dann prallte er auf den kalten Beton.
„Ha, Sheriff, nicht schlecht getroffen, was?“ Der Schrei klang dumpf, als hätte jemand eine dicke Wolldecke um Glens Kopf gewickelt. Er sah, wie durch einem dichten, weißen Nebel, eine Gestalt auf sich zu kommen. Eine Gestalt, die etwas Glänzendes in der Hand hielt; etwas Glänzendes, was den weißen Nebel vor seinen Augen in ein ewiges Schwarz verwandeln würde.
Wieder wollte Glen etwas sagen, doch irgendwie wußte er nicht mehr, wie man so etwas macht. Mußte man nicht die Lippen bewegen? Er wußte es einfach nicht. Alles schien so unendlich weit weg; schien in eine weit entfernte Galaxis der Belanglosigkeit zu entschweben. Hatte er jemals auf dieser Welt gelebt?
Das glänzende Ding in der Hand der Gestalt wurde auf seinen Kopf gerichtet, und Glen hörte dumpf ein irres Lachen. Er wußte nicht, ob es Ben Slaters oder sogar sein eigenes war.
Und dann sah er eine weitere Gestalt, direkt neben der Ersten. Und die erste Gestalt mit dem glänzenden Etwas in der Hand schrie. Sie schrie so laut, daß Glen für einen Moment aufhörte zu atmen. Es war ein Schrei, der alle Schreie in sich zu vereinen schien. Ein Schrei, der sich für immer in Glens Gehirn einbrennen würde, wie eine gnadenlose Tätowierung. Ein Schrei, der sämtliches Grauen dieser Welt widerspiegelte. Glen riß die Augen auf, in der Hoffnung, den weißen Nebel irgendwie durchdringen zu können, doch er erkannte nur noch zwei dunkle Silhouetten.
Und dann sah er, wie die eine Gestalt immer kleiner wurde, und er registrierte mit einem beinahe erschreckend klaren Entsetzen, daß sie nicht zu Boden gedrückt wurde. Nein, sie schmolz! Sie schmolz in sich zusammen, wie eine billige Kerze in der erbarmungslosen Nacktheit der Mittagssonne!
Und dann war es still!
* * *
„Sheriff Lascow?“ Die Stimme klang sanft und so weit weg. „Sheriff Lascow, öffnen Sie die Augen, bitte.“ Oh nein, Glen wollte seine Augen nicht öffnen, er wollte schlafen, einfach nur schlafen und nie wieder aus dieser Erlösung erwachen.
„Kommen Sie, Glen, öffnen Sie die Augen. Bitte!“ Oh, was für eine Stimme. Langsam hoben sich seine Lider. Eine verschwommene Gestalt hockte vor ihm, und sein eigener Oberkörper war gegen die kühle Steinwand gelehnt.
„Ja, so ist es gut, Sheriff Lascow. Lassen Sie die Augen geöffnet. In wenigen Minuten wird ein Krankenwagen hier sein. Aber bis dahin müssen Sie Ihre Augen offenlassen, okay?“ Langsam wurden die Konturen der Gestalt schärfer, und Glen erkannte das zurückgebundene Haar und das bunte T-Shirt. Der Fremde hockte vor ihm und hatte die Hand auf Glens linke Brust gepreßt. Eine wohltuende Wärme bereitete sich um seine Herzgegend aus. Glen blickte an dem Fremden vorbei, zur Zellentür.
„Wie sind Sie da raus gekommen?“ röchelte er.
Sein Gegenüber lächelte. „Nur ein kleiner Trick, Sheriff. Nichts Weltbewegendes. Aber Sie sollten jetzt nicht sprechen.“
„Wie...wieso sprechen Sie auf einmal meine Sprache?“ Glen merkte, daß ihm das Sprechen schwer viel, aber er wußte zumindest wieder, wie es ging.
„Sparen Sie Ihre Kräfte, Sheriff. Ich muß jetzt gehen, und bis die Hilfe da ist, müssen Sie alleine durchhalten.“ Wieder grinste ihn der Fremde an.
„Wieso sprechen Sie jetzt meine Sprache?“ Glen ließ nicht locker.
Der Fremde schüttelte den Kopf. „Sie sprechen meine, Sheriff Lascow.“
Die Konturen des Mannes mit Zopf verschwammen wieder ein wenig, und Glen hob die Hand und rieb sich über die Augen. Er merkte, daß ihm das Atmen schwerfiel.
„Ich spreche... Ihre Sprache?“ Jetzt versuchte er zu grinsen. „Sie meinen dieses Kauderwelsch?“
„Ja, ich meine dieses Kauderwelsch. Dieses Kauderwelsch, das Sie vor Ihrer Geburt gesprochen haben. Und auch dieses Kauderwelsch, das Sie nach Ihrem Tod sprechen werden.“
Glen mußte schlucken. Irgendwie klang das für ihn ganz logisch. „Heißt das, ich bin tot?“
„Eigentlich müßten Sie es sein, Sheriff Lascow. Aber ich denke einmal, daß Sie hier in ihrer kleinen Stadt noch gebraucht werden, und deshalb werde ich für Sie gehen.“
„A...aber ich verstehe nicht ...“ Jetzt mußte Glen husten, und ein beißender Schmerz schien seinen gesamten Körper zu durchdringen.
„Nun, Sheriff, wie gesagt, Sie werden in naher Zukunft noch gebraucht.“
Von weit her vernahm Glen das Heulen von Sirenen. „So, Sheriff Lascow, jetzt werde ich Sie alleine lassen. Den Rest schaffen Sie auch ohne mich.“ Der Fremde ließ Glens Brust los und wollte sich gerade erheben, als Glen nach seinem Oberarm griff.
„Wollen Sie mir sagen ...“, wieder dieses Husten, „... Sie sind ein Engel?“ Heute würde Glen alles glauben.
Der Fremde sah ihm in die Augen. Wieder lächelte er. „Nennen Sie mich einfach Jerry!“ Dann löste er vorsichtig Glens Hand von seinem Arm und hatte kurz darauf den Zellentrakt verlassen.
* * *
„Hallo Schatz. Was machst du nur für einen Blödsinn, wenn ich dich mal alleine lasse?!“ Glen öffnete die Augen und blickte in das Gesicht von Fran.
„Wo bin ich?“ Er stellte fest, daß seine linke Brust doch arg schmerzte.
„Sprich nicht so viel. Du bist hier in guten Händen.“
„Was ... was ist passiert?“ Ein gewaltiger Druck schien auf seiner Brust zu lasten, und das Sprechen kam irgendwie stockend. Er wußte auch nicht, warum er das gefragt hatte, denn er erinnerte sich an alles.
Fran legte ihm einen Finger auf den Mund, und es tat gut, ihren warmen Geruch in sich aufzunehmen.
„Was ist mit Bart?“ Eigentlich wollte es Glen gar nicht wissen.
„Er liegt zwei Zimmer weiter. Ihr habt beide verdammtes Glück gehabt, weißt du das? Zwei Schutzengel auf einmal, das findet man selten.“ Dann preßte sie seine Hand an ihre Wange. „Oh Glen, ich bin so froh, daß du lebst.“
„Ich auch, Fran, ich auch! Aber es war nur einer.“
„Was?“
„Es war nur einer. Schutzengel meine ich.“
Seine Frau runzelte die Stirn.
„Ist nicht so wichtig“, murmelte er und streichelte ihre Wange. Sein Blick viel durch das Fenster des Krankenhauses auf einen wolkenverhangenen Himmel.
„Jerry“, flüsterte er und mußte ein wenig grinsen.