Veteran
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Junigeschichte
Die Geschichte, die ich ihnen nun erzähle, fand im Juni statt. Sie wollen bestimmt wissen, welchem Jahr dieser Juni angehörte, aber darauf habe ich keine Antwort. Es war einfach Juni, ein Juni, in dem ich das Kind meines Vaters und meiner Mutter war. Mein Vater kam von einem seiner munteren Spaziergänge am Strand entlang zurück und suchte meine Mutter aufgeregt in der Küche auf. Ich erinnere mich noch immer an sein gerötetes Gesicht.
„Mir ist heute etwas ausgesprochen Merkwürdiges passiert“, begann er. „Als ich am Strand entlang lief, kam ich an einem kleinen Bach vorbei, der ins Meer mündete. Und ich konnte hören, wie er sprach.“
„Aber jeder weiß doch, dass Bäche nicht zu sprechen vermögen“, antwortete Mutter, „sie haben keine Stimme.“
„Nun, dieser hatte eine, auch wenn keiner davon weiß“, sagte Vater. „Er sprach durch Blubbern, Gurgeln und Plätschern. Er sprach. Und ich konnte ihn hören.“
Mutters Kopf neigte sich zur Seite, und die beiden tiefdunklen Saphire in ihren Augen weiteten sich leicht. „Was hat er denn gesagt?“
„Durch sein Gurgeln und Plätschern sprach der Bach die selben Worte wieder und wieder, immer und in jedem Moment: ‚Ich bin der Stärkere von uns beiden, sieh doch, wie ich mein ganzes Gewicht von einer Seite zur anderen wiege'.“
„Das sprach er zu dir?“ Ihre Augenbrauen wurden hoch in ihre Stirn gezogen.
„Nein. Nicht zu mir. Mich kannte er doch gar nicht! Er sprach zum Meer.“
Mutters Lächeln durchbrach ihr erstauntes Gesicht. „Und hat das Meer geantwortet?“
„Oh ja, das Meer antwortete. Es antwortete mit der Schwere, die nur ein Meer inne haben kann – nicht so sehr mit Klang, eher als Gefühl.“ Ich konnte sehen, wie Vater gleichzeitig erregt und schüchtern zu Mutter sah, als wäre er sich ihrer Reaktion nicht wirklich sicher. „ ‚Das freut mich für dich’ antwortete es und wog sich dabei in Zufriedenheit.“
„Und dann?“
„Dann bin ich zurück zum Haus gegangen.“
„Aber wer von beiden ist tatsächlich der Stärkere? Wer spricht die Wahrheit?“
„Ich glaube, es gibt gar keine Wahrheit“, antwortete Vater. „Es gibt einfach nur Wasser.“
Mutter schaute zu mir herüber. „Oh, jetzt verstehe ich.“
Ich habe die Geschichte, die mein Vater uns damals erzählte, bis heute nicht verstanden. Wie oft ging ich umher, um den Bach zu finden, damit auch ich ihn sprechen hören konnte. Aber keiner der Bäche, die ich fand, tat dies jemals.