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Katzenaugen
Katzenaugen
Tim – eigentlich Martin, aber alle nannten ihn aus unerfindlichen Gründen Tim – lebte in einem Einfamilienhaus am Rande der Stadt. Durch das Fenster seines Zimmers im ersten Stock sah er ein kleines Wäldchen und Wiesen, auf denen manchmal Kühe oder Pferde grasten. Seine ganzen fünfzehn Jahre hatte er hier verbracht. In den Wäldern, Feldern und Tümpeln gab es für ihn und seine Freunde viel zu entdecken. Tim mochte es, wenn ab und an ein Eichhörnchen elegant über die Rasenfläche ihres Vorgartens huschte. Manchmal hielten sich auch Katzen dort unter seinem Fenster auf, das jedoch meist nur nachts. Sie miauten und fauchten, manchmal hörte er auch eigenartige Schreie, die fast menschlich klangen. Seine Eltern erklärten ihm, dass es sich dabei um Paarungsrituale handele.
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Es war spät in der Nacht. Tim lag in seinem Bett und bemerkte, dass eine Katze unter seinem Fenster hin und her lief. Sie maunzte leise, was für ihn etwas bedrohlich klang. Vor seinen geistigen Augen sah er ihre bösen Blicke auf ihn gerichtet. Es schien, als würde die Stimme des Tieres vernehmlicher und tiefer. Sie schnaufte und er hörte Schritte. Konnte es wirklich sein, dass so etwas von einer gewöhnlichen Hauskatze kam? Die Geräusche waren leise aber irgendwie fremdartig, unnatürlich. Zu Tims Erleichterung entfernte sich das Wesen.
Was war das? Ein kaum wahrnehmbares, dumpfes Geklirr über ihm. „Etwas bewegt sich auf dem Dach“, durchfuhr es ihn siedend heiß. Er hörte die Dachpfannen leicht klappern. „Es will in das Haus“, dachte Tim, „aber das kann es nicht“. Ein etwas lauteres Scheppern ließ seinen Atem stocken.
Ein weiteres Poltern schien alle Wärme aus seinem Körper zu ziehen. Der Lärm kam vom Dachboden über ihm! Tims Haut fing an zu kribbeln und sein Schlafanzug sog sich voll mit Schweiß. Der Fußboden vom Speicher war nur aus Holz, so konnte er die mächtigen Tritte deutlich wahrnehmen. Als sie sich ihm näherten, fiel es ihm immer schwerer zu Atmen. Mit weit aufgerissenen Augen und völlig unfähig sich zu bewegen begann Tim zu zweifeln, dass er diesen Zustand länger aushalten konnte. Die Kratzgeräusche und ein tiefes Grollen hörte er unmittelbar über sich.
„Nein!“, dachte Tim, er würde nicht vor Schreck sterben. Seine Atmung normalisierte sich langsam wieder als das Scharren stoppte und die Schritte sich entfernten. Doch die Umgebung schien sich nun plötzlich zu drehen. Ihm wurde schwarz vor Augen. Erst seltsame Laute ließen ihn wieder aufschrecken. Zunächst war ihm nicht klar, was für Geräusche das waren. Vielleicht wollte er es auch nicht wahrhaben. Das Kratzen und Knurren an seiner Tür bohrte sich unter seine Haut. Tims Verstand setzte in dem Augenblick aus, als es sein Bewusstsein erreichte.
Ein lautes Rumoren im Flur brachte ihn halbwegs in die Realität zurück. Er stand aufrecht in seinem Bett. Hatte er geschrieen? Die Tür wurde krachend aufgestoßen. Es wäre ihm sehr unangenehm, wenn ihn seine Eltern so auffinden würden. Aber Tim sah eine längliche, massige Gestalt, die auf ihren vier Pfoten zum Sprung ansetzte. Ein mächtiges Gebiss mit hochgezogenen Lefzen konnte er in dem fast runden Gesicht erkennen. Das Letzte, was er in seinem Leben erblickte, waren die böse funkelnden Katzenaugen.