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Kevin
»Keine Angst, alter Junge.«
Kevin hielt mit seinem Spiegelbild Blickkontakt und versuchte es zu beruhigen.
»Hinter dir ist nichts. Alles ist gut.«
Er krempelte die roten Ärmel seines Pullovers nach oben und verharrte noch einen kurzen Moment.
Leider befand sich auf der Ablage hinter dem Waschbecken keine feste Handseife und der Wasserhahn hatte selbstverständlich einen Drehverschluss. Aus dem Augenwinkel konnte er die Plastikverpackung der Flüssigseife erkennen und fluchte innerlich. Er würde sich nicht die Hände waschen können, ohne wenigstens einen kurzen Augenblick den Augenkontakt zu dem Feigling aus dem Badezimmerspiegel zu verlieren.
Dass er ein Feigling war, wusste Kevin. Kümmerte es ihn, wenn man ihn so nannte? Nein. Denn es war die Wahrheit und diese zu verleugnen, lag nicht in Kevins Natur. Das tiefe Bedürfnis nach sauberen Händen hingegen, lag sehr wohl in seiner Natur. Mehr noch, tatsächlich musste er sich die Hände waschen. Es ging nicht anders. Seine Hände mussten sauber sein.
»Du schaffst das, alter Junge.«
Er atmete noch einmal tief ein. Und noch einmal. Und noch einmal.
»Na los jetzt!«
Er wagte es und sah weg. In weniger als zwei Sekunden hatte er den Wasserhahn aufgedreht und sich die Flüssigseife aus dem Plastikbehälter in die Hand gedrückt. Panisch sah er in den Spiegel.
Nichts.
Er atmete auf und wusch sich die Hände, ohne dabei runterzusehen. Der Wasserhahn durchbrach die unheimliche Stille und Kevin fühlte sich besser. Die Angst wich langsam zurück, wie das Meerwasser, wenn die Ebbe einsetzte. Kevin war nicht bewusst, wie lange genau er sich die Hände unter dem Wasserstrahl gerieben hatte, jedoch konnte er aus dem Augenwinkel das Spiegelbild des Badezimmerfensters erkennen, durch das die ersten Sonnenstrahlen den Tag ankündigten.
Wie schön es doch wäre, wenn er auch ein Fenster im Badezimmer haben würde, dachte Kevin und seine Laune wurde allmählich wieder richtig gut.
Als er sich sauber fühlte, tastete er nach dem Drehverschluss des Wasserhahns und plötzlich wurde es still. Unheimlich still.
»Nein«, ermahnte er sein Spiegelbild. »Kevin, du fängst jetzt nicht schon wieder damit an!«
Und tatsächlich schaffte er es den Blickkontakt zu lösen. Er ging zur Tür des Badezimmers, öffnete das Schloss und stieß sie auf.
Selbstverständlich hatte er die Tür abgeschlossen, denn man müsse sein Schicksal schließlich nicht herausfordern. So sah Kevin das jedenfalls.
Er trat mit dem rechten Fuß nach draußen in den Flur und fand seine Situation plötzlich urkomisch.
Immer habe ich Angst, dass jemand hinter mir steht …
Kevin ging mit langsamen Schritten den Flur entlang und atmete bei jedem zweiten Schritt aus. Linker Fuß - Einatmen, rechter Fuß - Ausatmen.
Er lief an einer offenstehenden Tür auf der linken Seite vorbei und musterte das Chaos, weshalb er für einen Moment vergaß auszuatmen. Rechter Fuß - Nichts.
Fuck
Fuck Fuck Fuck
Bei jedem Fuck gab er sich eine kräftige Ohrfeige, die er seiner Meinung nach definitiv verdient hatte. Wütend stampfte er zurück zum Badezimmer und atmete tief aus, während sein rechter Fuß auftrat.
… aber ich habe doch gar keinen Grund Angst zu haben …
Kevin passierte das Zimmer auf der linken- und bog in den ersten Raum auf der rechten Seite.
… Sie sind die, die Angst haben müssen!
Kevin betrachtete die drei leblosen Körper ohne jede Emotion. Sie hatten seinen weißen Pullover beschmutzt und deswegen war er für einen Moment sehr wütend gewesen. Aber Kevin war nicht nachtragend. Nein, das war er nicht. Er hatte ihnen sofort vergeben und bestimmt würde er die Flecken wieder herauswaschen können. Also war alles gut. Und nachdem sie sich nicht mehr bewegen können, machen Menschen generell keine Probleme mehr. Natürlich hatte er ihre Hände und Beine gefesselt und selbstverständlich hatte er ebenfalls ihre Münder zugeklebt. Sonst hat man nämlich nur Scherereien. Und wenn er eines hasste, dann waren es Scherereien.
Er ging in die Hocke und hob das Messer auf, dass er behutsam neben den Mann auf den Boden gelegt hatte.
Nur noch einmal Hände waschen, dachte er.
Kevin erhob sich und steuerte mit langsamen Schritten auf die Frau zu, die neben ihren beiden Kindern lag und wild zappelte. Rechter Fuß, linker Fuß. Er summte dabei ein altes Schlaflied, was sich durch seine Atmung sehr unangenehm anhörte. Doch sie würde es niemandem erzählen können, also war alles gut.
Keine Angst, alter Junge. Sie sind es, die Angst haben müssen.