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Kinderleben
Die Idee, seinen Vater umzubringen, kam Andriy spontan. Er hörte ein metallisches Rütteln an der Haustür. Sein Vater hatte den Hausschlüssel vergessen und signalisierte seinem Sohn auf diese Weise, ihn einzulassen.
Andriy legte seinen Comic zur Seite und wollte öffnen. Das Rütteln wurde bereits lauter, der Takt schneller und sein Vater brüllte: „MACH AUF!“.
Er hat schlechte Laune, dachte Andriy, das gibt Ärger. Da erinnerte er sich, dass Olek ihm ein paar Tage zuvor erzählt hatte, wie der Alte Anton hinter dem Supermarkt erfroren war. Anton war wie so oft betrunken, hatte sich verlaufen und war draußen eingeschlafen, erzählte man sich in der Siedlung.
Vielleicht klappe das auch bei Papa, dachte Andriy und anstatt aufzustehen drückte seinen Rücken gegen das weiche Polster der Sofalehne und wartete.
„MACH’ AUF, DU HURENSOHN!“ Poltern ertönte. „ICH BRING’ DICH UM! ICH SCHLAG’ DICH TOT, DU KLEINER BASTARD!“ Das war eine leere Drohung, die er Andriy gegenüber jedes Mal ausstieß, wenn er wie heute Abend betrunken nach Hause kam. Mehr als einen oder zwei gebrochene Knochen hatte er seinem Sohn noch nie zugefügt und am nächsten Tag erinnerte er sich nicht mehr daran. Dann weinte er und entschuldigte sich flehend. Auf den Knien manchmal sogar. Ein knochiger, verbogener Haufen Mann mit verzerrtem Gesicht wie ein heulendes Baby. Dieser Anblick widerte Andriy an und machte den Jungen noch wütender als die Prügel, denn er erinnerte sich noch an den aufrechten Mann mit den großen Muskeln – einst hatte er seinen Vater für den stärksten Mann der Welt gehalten – der seinen Sohn lachend jeden Abend auf seine Schultern gehoben hatte.
Mit angehaltenem Atem ballte Andriy nun die Hände so fest zu Fäusten, dass die Fingernägel tief in die Handflächen schnitten und dort kleine, halbmondförmige Abdrücke hinterließen. Scheiße, dachte er, nein, nein, nein! Seine Eingeweide zogen sich zu einem schmerzhaften Knoten in der Magengrube zusammen und er schickte ein Stoßgebet zum Himmel: Mach’, dass er die Tür nicht aufbrechen kann!
„LASS’ MICH REIN, DU HURENSOHN!“
Er zog die Beine an und atmete so langsam wie möglich, während er den Puls in seinem Hals pochen und in seinen Ohren rauschen hörte. Eine Ewigkeit verging, der Lärm und das Geschrei an der Tür brachen nicht ab und er dachte schon darüber nach, aufzugeben, als sein Vater endlich verstummte.
Er vernahm ein Schlurfen und ein halblautes Murren, danach war es vollkommen still.
Scheiße, wiederholte er in Gedanken und wartete eine Weile, bis sein Herzschlag sich verlangsamte. Auf allen Vieren kroch er zum Fenster, um einen Blick nach draußen zu riskieren. Im fahlen Licht der Straßenlaternen war niemand zu sehen. Die Arbeiterbungalows, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite lückenlos aufgereiht standen, waren alle dunkel.
„Scheiße!“ Er lachte auf, voller Zuversicht, dass es funktionieren würde. Um seinen Bauchnabel herum begann es zu kribbeln und er eilte in sein Zimmer, wo er atemlos die Tür zum Wandschrank aufriss.
„Olek“, rief er heiser, „Olek!“ Er schob die Mäntel und Anzüge grob beiseite, die Kleiderbügel klapperten. Dahinter kam ein Loch in der Wand zum Vorschein, gerade groß genug, dass ein dürrer Neunjähriger wie er sich hindurch zwingen konnte.
„Sei still!“ Das runde, rotbackige Gesicht eines Jungen erschien in diesem Durchgang. Jener presste seinen Zeigefinger gegen die Lippen und machte Platz, damit Andriy nach nebenan kriechen konnte.
Das Loch hatte bereits bestanden, als Andriy mit seinen Eltern eingezogen war, aber damals war es weder so groß gewesen, noch hatte Olek nebenan bei den Burjaks gewohnt. Oleks Vater war schon von langer Zeit fort und seine Mutter ging nach Frankreich, um dort zu heiraten. So nahmen die Burjaks – entfernte Bekannte – Olek bei sich auf. Da es in ihrem Haus nicht viel Platz gab, wurde der Schrank zum Zimmer des Jungen. Das war ein großes Glück, denn mit einem Hammer gelang es den Jungen, Stücke aus der morsch gewordenen Rigipswand zwischen den Häusern zu brechen und so das Loch zu einem Durchgang zu vergrößern. So hatten sie einen Art Geheimgang für sich geschaffen und konnten sich gegenseitig unbemerkt besuchen, wann immer sie wollten.
Die zwei kauerten sich auf Oleks Bett, das aus einem Stapel Handtücher und dem Pelzmantel von Andriys verstorbener Mutter bestand, und Andriy lauschte. Von der anderen Seite der Schranktür hörte er Wimmern, das er für das Jammern einer Katze hielt und ein raues, kehliges Hecheln.
Ein paar Mal wollte er zum Sprechen ansetzen, um Olek zu berichten, aber sein Freund boxte ihm gegen den Oberarm, wenn er einen Laut von sich gab.
Während Andriy darauf wartete, sprechen zu dürfen, streichelte er im Dunkeln mit einer Hand über das Innenfutter des Pelzmantels, auf dem er saß. Früher hatte es sich weich angefühlt und er hatte es gerne angefasst, um sich an seine Mutter zu erinnern, doch seit Olek darauf schlief, war es fusselig und knotig geworden.
Das Stöhnen brach schließlich ab und für ein paar Sekunden war alles vollkommen still, bis jemand zu weinen begann. „Halt’s Maul!“, zischte eine Männerstimme. Eine Tür fiel krachend ins Schloss und das Weinen wurde lauter.
„Wer heult da?“, fragte Andriy flüsternd. „Was war das?“
Olek seufzte und Andriy konnte den Atem seines Freundes an seinem Ohr spüren, als er leise antwortete: „Sonya.“
„Warum heult sie?“
„Pst!“
Die Jungen hörten ein Scharren – Fußsohlen, die über den Teppichboden schleiften, vermutete Andriy – und das Quietschen einer Tür, als sie geöffnet und wieder geschlossen wurde.
„Was war das?“, wiederholte Andriy seine Frage. „Was hat sie gemacht?“
„Ihr Stiefvater bumst sie, weißt du. Das machen die fast jeden Abend. Aber sag’s nicht weiter, ja? Sonya hat gedroht, sie schneidet mir den Pimmel ab, wenn ich’s jemandem erzähle.“
„Warum?“
„Sie findet’s eklig, sagt sie. Und sie hat Angst, dass er ihr ein Baby macht.“
„Ja und? Er ist ja nicht ihr richtiger Vater, dann ist das doch nicht schlimm.“ Im Fernsehen hatte er einen Film gesehen, in dem es darum ging, dass Kinder behindert auf die Welt kamen, wenn ihre Eltern Geschwister waren.
„Hm“, machte Olek und Andriy wusste nicht, wie er diesen Laut deuten sollte.
Sonyas Mutter hatte Herrn Burjak geheiratet, als Andriys Familie vor drei Jahren in die Nachbarschaft gezogen war. Bei der Hochzeitsfeier im Garten schüttete ihm Sonya – die auf ihn mit ihren elf Jahren wie eine Erwachsene wirkte – Limonade über den Schoß und verkündete laut, er habe sich in die Hose gemacht. Mit Genugtuung beobachtete sie anschließend, wie Andriy dafür im Wohnzimmer der Burjaks von seinem Vater versohlt wurde.
„Ach so!“ Ihm fiel ein, warum er zu Olek gekommen war und das Kribbeln in seinem Bauch setzte erneut ein. „Olek, stell dir vor: Ich hab meinen Vater umgebracht!“
„Was? Was hast du getan?“, rief sein Freund erschrocken aus.
Diese Reaktion überraschte ihn und er fuhr mit gedämpfter Freude fort: „Na ja, also ... Tot ist der noch nicht. Glaub’ ich. Heute ist doch Freitag, da kam er wie immer betrunken ... Also, er kam betrunken ... Also ... Er kam nicht wirklich ins Haus. Er war betrunken. Denk’ ich. Das ist er ja freitags immer, weil Zahltag ist. Jedenfalls, ich hab ihn nicht ins Haus gelassen. Er hat seinen Schlüssel nicht dabei gehabt. Dann klopft er nämlich, damit ich ihn reinlasse. Jedenfalls, heute hab ich ihn nicht reingelassen. Ich wollt’ nicht, weil er mich das letzte Mal dafür verprügelt hat. Zuerst wollte ich nur aufmachen und dann schnell wegrennen oder so. Aber dann hab ich die Tür nicht aufgemacht, dass er draußen erfriert, so wie der Alte Anton.“
„Hm“, gab Olek erneut von sich.
„Was ist?“ Er hatte erwartete, dass sein Freund den Plan genial fände – wie die Ablenkungsmanöver für den misstrauischen Kisim, die Andriy sich ausdachte, damit Olek währenddessen in Kisims Laden ungestört Chips und Schokoriegel stehlen konnte.
„Wenn dein Vater tot ist, kommst du auch zu ner anderen Familie, so wie ich. Dann hast du nen Schrank als Zimmer und darfst nur das essen, was die echten Kinder von der Familie übrig lassen.“
„Ist doch egal. Mein Vater kauft mir ja auch nie was zu essen. Ich klau’ mir sowieso, was ich brauch’.“
„Schooon ...“, sagt Olek gedehnt, „Aber ... Keine Ahnung.“
„Mir egal, was du denkst! Du bekommst hier ja nicht mal wirklich Prügel so wie ich! Mein Vater vermöbelt mich jedes Mal, wenn er zu viel gesoffen hat. Einfach so. Ohne Grund. Das blaue Auge, das er mir neulich verpasst hat, sieht man jetzt noch! In der Schule lachen deshalb alle über mich.“ In der Dunkelheit zu sitzen strengte ihn an. Sein Rücken tat weh, deshalb streckte er die Beine aus und lehnte sich nach hinten gegen die Wand.
„Und wenn du ins Gefängnis kommst?“, wandte Olek ein.
Andriy zuckte zusammen, daran hatte er nicht gedacht. „Dann lauf’ ich weg“, sagte er hastig, während ihm die Idee erst kam – daraufhin folgten neue Gedanken. Eine Welt voller Möglichkeiten tat sich vor ihm auf: „Genau, ich lauf’ weg! Kommst du mit?“
„Ich weiß nicht ...“, zögerte Olek.
„Borys wohnt auch auf der Straße und ihm gefällt’s da ganz gut. Außerdem hat er mir neulich erzählt, dass ihn jemand angesprochen hat, ob er einen Job in einem Hotel will. In London.“ Andriys Stimme überschlug sich beinahe und er richtete sich wieder auf, denn er wurde kurzatmiger, während die Ideen in seinem Kopf sprudelten. „Da ist so ein Mann, der kommt immer an den Bahnhof und sucht Leute, die für ihn arbeiten. Er hat Hotels überall in England. Da können auch Kinder arbeiten, meint er, hat Borys erzählt. Das sind ganz leichte Arbeiten, nur ein bisschen zu den Leuten nett sein, ihnen Essen bringen, sie in der Stadt rumführen und so.“ Das mit den einfachen Aufgaben hatte er sich ausgedacht, um Olek zu überzeugen. Allerdings war er sicher, dass er Recht hatte. In den Filmen aus Amerika, die er gesehen hatte, mussten die Kinder nie arbeiten, sondern fuhren in schicken Autos herum, kauften jeden Tag Sachen in großen, hellen Einkaufszentren und hörten dabei Rockmusik. Da war es in England bestimmt auch nicht schlimm.
„Meinst du, Andriy?“
„Ich weiß es!“
„Aber man braucht doch nen Pass und so was, um nach England zu gehen.“
„Nein, die besorgen dir Papiere, hat der Mann Borys erzählt. Und man fliegt mit dem Flugzeug! Kannst du dir das vorstellen? Wir fliegen mit dem Flugzeug nach London!“
„Ich weiß nicht ... Ich geh’ nur, wenn du gehst.“
„Dummkopf!“ Er schlug Olek mit der Handkante gegen die Seite. „Ich hab doch eben gesagt, ich gehe!“
„Na gut, einverstanden. Ah!“, rief er, „Wir können sogar Geld mitnehmen!“
„Woher hast du Geld?“
„Sonya hat Geld. Und ich weiß, wo sie’s versteckt. Für 20 Griwna lässt sie die älteren Jungs ihren Pelz sehen.“
„Die zahlen so viel dafür?“ Andriy runzelte die Stirn.
„Ja. Und für vierzig dürfen sie mal hinfassen.“
„Echt?“ Er pfiff anerkennend durch die Zähne.
„Manchmal wünschte ich, ich wäre ein Mädchen. Dann könnte ich viel leichter Geld verdienen“, sagte Olek.
„Na und?“ Andriy rammte ihm den Ellbogen in die Rippen. „Ein Mädchen zu sein ist doof. Da musst du Babys bekommen und so’n Scheiß.“
„Ja, du hast Recht. Ich geh’ das Geld holen.“ Langsam öffnete Olek die Schranktür und schlüpfte auf Zehenspitzen in Sonyas Zimmer, während Andriy sich auf den alten Pelzmantel seiner Mutter legte und die Augen schloss. Er fühlte sich, als würde er auf einem Fluss treiben. Die Welt um ihn herum schien sogar ein wenig zu wanken, aber das kam wahrscheinlich daher, dass er sich so auf sein neues Leben freute. Sein Vater fiel ihm ein und Andriy fragte sich, ob er sc